Deutsch-jüdische Gespräche (9): Klaus Wolf und Rafael Seligmann

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Dr. Rafael Seligmann (l.) und Prof. Klaus Wolf im Gespräch. Foto: Dr. Peter Czoik

Zur Reihe: Zeit wahrzunehmen, zuzuhören und zu erwidern. – Angesichts eines zunehmend aufgeheizten und toxischen Kommunikationsklimas möchten wir hier einen Raum der deutsch-jüdischen Gespräche eröffnen. Denn Literatur ist immer auch ein Verhandeln und Transformieren von Wirklichkeiten und Möglichkeiten; ein Im-Gespräch-stehen. Wir laden ein zum Lesen, Zuhören und zum Erwidern; zu einem Austausch zwischen deutschsprachigen jüdischen und nichtjüdischen Schreibenden und Kunstschaffenden über alles, worüber sie jeweils miteinander reden mögen.

Das neunte Gespräch führte der Germanist und Lehrprofessor für bayerische Literatur an der Universität Augsburg Klaus Wolf mit dem Schriftsteller, Journalisten, Politologen und Historiker Rafael Seligmann in der ehemaligen Synagoge in Ichenhausen.

*

KLAUS WOLF: Lieber Rafael, wir sind ja per Du. Heute darf ich Dich für das Literaturportal Bayern interviewen. Meine erste Frage betrifft Deinen beruflichen Werdegang. Du hast ja eine Doktorarbeit über die Sicherheitspolitik Israels an der Münchner LMU verfasst, wo Du auch einige Jahre als akademischer Rat geforscht und gelehrt hast. Von daher passt Dein neuestes Buch über demagogische Politiker eigentlich besser zu Deiner akademischen Prägung als Deine erfolgreichen Romane. Siehst Du Dich selbst eher als Sachbuchautor oder als Romancier?

RAFAEL SELIGMANN: Ich sehe mich als Verfasser eines Gesamtkunstwerks. Wir sind fast alle auf die eine oder andere Weise politisch interessiert. Wir sind Handelnde der Zeitgeschichte, wenn auch nur als Wähler. Ich habe auch, wie die meisten Menschen, die Neigung zu erzählen. Ich lese gern Geschichten, aber ich erzähle auch gern Geschichten. Ich erzähle sie nicht nur, sondern ich halte sie als Schriftsteller fest… Das ist der entscheidende Unterschied. Man kann im Sachbuch über sehr viel schreiben, doch hier lese ich fast nie, höre kaum etwas über Gefühle. Ich lese über Heinrich Heine, sein Leben, seinen Tod, aber ich lese nicht seine Schmerzen. Der Roman wiederum lebt von den Gefühlen, von Freude, von Trauer, von Begehren, von Angst. Das gehört zu Menschen, das ist die Berechtigung von Literatur. Und darum verfasse ich Romane, weil es in mir ist, weil es mich interessiert. Etwa wenn wir uns jetzt unterhalten, was empfindest Du gerade? Was denkst Du? Das ist der eine Teil. Und der andere Teil ist: Wie handelst Du? Das sind die Sachbücher. Insofern empfinde ich mich als Verfasser eines Gesamtkunstwerkes.

WOLF: Ja, sehr schöner Kunstbegriff. Du bist in Tel Aviv geboren und dort auch die ersten Jahre Deines Lebens aufgewachsen. Deine prägende Schul- und Jugendzeit hast Du freilich in München verbracht. Das war allerdings nicht mehr das von Thomas Mann beschworene, „leuchtende München“ der Prinzregentenzeit. Wie hast Du die bayerische Landeshauptstadt der Nachkriegszeit im Vergleich zu Tel Aviv als junger Mensch erlebt? Und wie würdest Du den Vergleich heute aus der Perspektive des in Berlin lebenden Autors sehen?

SELIGMANN: Tel Aviv war damals eine kleine Pionierstadt mit engen Gassen, teilweise ohne Bürgersteig. Die Leute kamen sehr leger daher. Das Land war bitterarm. 1957 zogen meine Eltern nach München. Die Stadt glich einem kaputten Gebiss: voller Bombenschäden. Das Nationaltheater war eine Ruine. Das Armeemuseum, in dem heute die Staatskanzlei logiert, ebenfalls. Die Menschen waren immer noch sehr angespannt. Die Lehrer haben noch den Tatzenstecken benutzt, jedenfalls meine Lehrer. Eine furchtbar autoritäre Schule, ja Gesellschaft. Man musste aufspringen, wenn ein Lehrer auch nur in der Nähe war. Es war eine verpappte Stadt mit verdrucksten Nazis. Ein Teil hat sich der Demokratie angenähert, die anderen hoben noch heimlich die Hand. München war eine verkrampfte Stadt. Erst in den Schwabinger Krawallen Anfang der 60er-Jahre ist etwas aufgesprungen. Heute ist München eine in weiten Teilen wohlhabende Stadt, eine der reichsten deutschen Orte, mit ihren reichen Vorstädten, Starnberg, in der Stadt Bogenhausen, Nymphenburg, etc. Die Leute sind lockerer geworden. Ob sie mutiger geworden sind, weiß ich nicht. Sie sind ein Stückchen weltoffener. In den 50er-, 60er-Jahren war es keine „Weltstadt mit Herz“. Heute ist man entspannter. 

Ich bin bewusst Ende des letzten Jahrhunderts, 1998, nach Berlin gezogen, weil mir Berlin offener erschien. München war medial beherrscht von Cliquen. Es gab, gerade in der Publizistik, den Bayerischen Rundfunk und drumherum die Süddeutsche Zeitung, die faktisch ein Monopol über München-Stadt besaß. Und es gab die jüdische Buchhandlung Rachel Salamanders mit ihren intellektuellen Lakaien… Wo das Judentum immer noch in den 40er-Jahren verharrte, quasi im osteuropäischen Schtetl vor der Shoah: verängstigt, verklemmt, illiberal. Es gab – das ist bemerkenswert, auch mit Blick auf die jüdische Gemeinde in München, ja in ganz Deutschland –, bis Ende der 80er-Jahre keine jüdische Gegenwartsliteratur hierzulande. Man beschrieb fortwährend die eigenen Leiden, die im Holocaust erlittenen Verluste und Schmerzen. Zugleich gaben die Juden vor, sie hätten verziehen. Aber was geschah vor dem Verzeihen? Hier fehlt jedes Wort. Daher gab es keine Romane. Man blieb stumm. Natürlich haben viele Juden gehasst, hatten Angst. Darüber ist kein Wort verloren worden. Es gab einen jüdischen Literaturpapst, Reich-Ranicki, aber keiner hat ihn gefragt: „Ja, was haben Sie bei all den Antisemiten in Polen, in Deutschland empfunden?“ Als ich das in meinem ersten Roman Rubinsteins Versteigerung 1988 schilderte, haben die Juden aufgeschrien. In der Jüdischen Allgemeinen Zeitung stand, ich wäre ein „Nestbeschmutzer“. Rachel Salamander und ihre Clique, so nenne ich sie … waren die Autoren von Begriffen, wie „Nestbeschmutzer“, Beta-Juden. Sie wussten nicht, dass die Nazis diesen Begriff benutzten. Dieses München habe ich verlassen, um nach Berlin zu ziehen, wo es acht Zeitungen gab. Man hat uns mit offenen Armen aufgenommen und scheute sich nicht, meine Kritik am etablierten Judentum, aber auch an anderen Phänomenen zu drucken. Die Stadt befand sich im Aufbruch. „Wir“ Berliner sollten bald wieder die Regierungshauptstadt sein. 

Die Neue Synagoge aus dem Jahr 1866 mit dem Davidstern auf der Kuppel ist Teil des Stadtbildes. Es gibt dieses riesige Areal des Friedhofs Weißensee. Für mich entscheidend waren die Offenheit und die Dynamik der Stadt, die Neugier aufeinander. Da ist sehr viel in den letzten zehn Jahren verloren gegangen. Berlin wird zunehmend schmutziger. Man wird mit dem Zustrom von vielen Asylsuchenden nicht fertig, die gar keine realen Asylsuchenden sind. Man erstickt in Bürokratie und Trägheit. Viele sehen keine Zukunft. Es fehlt die Entschlossenheit sich an den eigenen Haaren aus der Misere zu ziehen. Das Bewusstsein zu sagen: „Wir sind die Hauptstadt des stärksten Landes in Europa.“ Wir sind die größte Wirtschaftsnation. Statt anzupacken, diskutiert man übers Gendern und gibt Marihuana frei. Ich bin nicht glücklich über die Statik Berlins, über das Schmoren im eigenen Saft. Wir brauchen eine neue Dynamik.

WOLF: Wir unterhalten uns heute in der Synagoge Deines Vaters und Deines Großvaters, ja Deiner Vorfahren seit dem 18. Jahrhundert. Ist dieser Ort Ichenhausen und insbesondere die klassizistische Synagoge für Dich heute in einem weiteren Sinne ein sakraler Ort? Warum – konkret gefragt – bist Du auf die Idee gekommen, genau hier jetzt schon sieben Synagogengespräche zu veranstalten?

SELIGMANN: Offiziell ist es kein sakraler Ort, keine Synagoge. Doch natürlich steckt Vergangenheit in diesem Raum. Er ist voller Freude, voller Stolz über die jüdische Kultur, jüdischen Schaffensgeist und Kraft. Es war ein zentraler sozialer, religiöser Ort. Das ist er heute leider nicht, aber er atmet die Geschichte meiner Familie und Gemeinde. Eines Tages – Gott ist weise – wird es vielleicht hier wieder eine jüdische Gemeinde geben. Bis dahin ist es ein Ort der Kultur für mich. Kulturstaatsministerin Roth hat mir offen und feinfühlig gesagt: „Welche Trauer müssen Sie empfinden, wenn Sie herkommen?“ Ja, die empfinde ich, aber gleichzeitig sehe ich die Chance, als Anstifter der Begegnung zu fungieren. Die Idee begann mit einem Brief von Herrn Waigel, dem mein Buch über meinen Vater Ludwig so gut gefallen hat. Daraufhin sagte ich: „Lassen Sie uns hier in der Synagoge zu einem öffentlichen Gespräch treffen.“ Die Synagoge war voll bis auf den letzten Platz. Ich sage Synagoge, nicht Haus der Begegnung, es ist beides. Da sprang mich die Idee an, wieder an die Geschichte anzuknüpfen. Ich bin sehr glücklich, dass Du Dieses Werk fortführen wirst, das wir zusammen entwickelt haben, Klaus.

Ehem. Synagoge Ichenhausen von innen, Vorder- und Hinteransicht

WOLF: Was ist für Dich jetzt im Alter Heimat oder würdest Du eher von „Heimaten“ sprechen?

SELIGMANN: Nein, von Heimat. Meine Heimat ist die deutsche Sprache und Kultur. Du hast recht, es ist auch die deutsch-jüdische Geschichte. Daraus entspringe ich: aus der jüdischen Religion, aus der jüdischen Geschichte, aus der deutschen und bayerischen Geschichte. Es ist die Verbindung: Ich bin in Israel geboren worden. Meine Tochter und meine Enkelkinder leben dort. Es sind Heimaten. Da hast du wieder mal recht als Chronist der Zeit, der Geschichte und Kultur.

WOLF: Danke. Wenn ich es recht sehe, bist Du ein Pionier für das Genre des jüdischen Romans in der Bundesrepublik Deutschland. Könnte man Dich in dieser Hinsicht mit Philip Roth vergleichen?

SELIGMANN: Bei aller Bewunderung für Philip Roth, den ich liebe…

WOLF: Ich auch.

SELIGMANN: … und zwar seit Jahrzehnten, weil er so frech und frei war und gleichzeitig so feinfühlig, hat er es einfacher gehabt. Die amerikanischen Juden waren ein bissel entsetzt, dass er über Sex geschrieben hat und das war’s. Bei mir hatten die deutschen Juden – oder die Juden in Deutschland, wie sie sich damals genannt haben – Angst. Da schreibt plötzlich ein Jude über Aufsässigkeit gegenüber den Eltern, über seine Wut und seinen Hass gegen die Nazis, nicht nur seine, überhaupt über jüdischen Zorn. Es war das erste literarische Buch eines jüdischen Autors im Nachkriegsdeutschland, es folgten andere. Philip Roth dagegen war nicht der erste. Da haben wir Saul Bellow und eine ganze Reihe anderer. Aber er war ein Pionier in der „Chuzpe“ in der Literatur. Ich dagegen musste meinen Kopf gegen die sogenannten Gralshüter einer jüdischen Kultur, die fehlte, hinhalten. Die Juden saßen angeblich auf gepackten Koffern, man lebte mit Frauen und Kindern hier, man hatte seine Geschäfte, doch man machte immer noch sich selbst und anderen vor, man wäre lediglich auf der Durchreise. Gegen diese Lebenslüge anzuschreiben, rechne ich mir als eine der wenigen Sachen an.

WOLF: Ja, Philipp Roth machte neben New York vor allem Newark in New Jersey zum Schauplatz seines Lebenswerks. In meinen Augen stehst Du mit Deinen Romanen auch in der im 19. Jahrhundert aufkommenden Tradition des Münchenromans, der bis in die Gegenwart immer wieder Fortsetzungen erfährt. Ich würde etwa Rubinsteins Versteigerung, mehr noch aber Dein Meisterwerk Der Milchmann in eine Reihe mit Lion Feuchtwangers Erfolg stellen. Auch der letzte Roman Deiner autobiografischen Trilogie, nämlich Rafi Judenbub spielt ja weitgehend in München. Verbindest Du mit dieser Stadt eine Hassliebe oder ist sie für Dich gar in einem weiteren Sinne repräsentativ für das moderne Deutschland?

SELIGMANN: Kein Hass, Liebe. Ich esse und trinke gerne bitter, Espresso, Schokolade (lacht). Ja, es gibt bittersüße Erinnerungen an München … Ich lebe unterdessen 26 Jahre in Berlin, je länger ich weg bin, desto größer wird die Sehnsucht. Wenn ich die Ichenhausener Gespräche gemeinsam mit Dir führe, dann mache ich immer ein, meistens zwei, drei Tage Station in München, weil’s mir vertraut ist, weil das deutsch-jüdische Zusammensein sich etabliert [hat] und man nicht nur jault. Es gibt wieder welche, die sagen: „Ja, und die furchtbare AfD…“ Ja, sie ist furchtbar, aber wenn in München über 80% andere Parteien wählen, bedeutet das nicht, dass man stetig auf das Schlechte starren muss. Mir gefällt die Freiheit. Ich würde mir noch mehr Mut wünschen, Mut zu neuen Ideen, Selbstbewusstsein. Nicht nur als Ingenieure, sondern auch als Pioniere in der Kultur, in der Datenverarbeitung. Ein bissel mehr Courage und weniger Selbstgerechtigkeit. 

WOLF: Mia san mia…

SELIGMANN: Das gehört zu München. Genau.

WOLF: Du hast die autobiographischen Aufzeichnungen Deines Vaters Ludwig Seligmann zu einer dreibändigen Familiengeschichte, den „jüdischen Buddenbrooks von Ichenhausen“, verwoben… 

SELIGMANN: Der Begriff ist von Dir.

WOLF: Dankeschön.

SELIGMANN: Dito. Vielen Dank. 

WOLF (lacht): Gern geschehen… Hätte sich Dein Vater darüber gefreut, über diese drei Bände?

SELIGMANN: Ja, wie ein Schneekönig. Mein Vater hat diese Stadt geliebt. In Israel bin ich groß geworden. Ich habe ständig Vaters Geschichten von seiner glücklichen Kindheit in Ichenhausen gehört. Ichenhausen ist das Zentrum unserer Familiengeschichte. Davon will ich nicht weg. Und ich sehe, es wird aufgenommen, es geht weiter… Hoffentlich geht es gut weiter. Wir müssen diese Phase einer im wahrsten Sinne des Wortes „verrückten Welt“, wo Täter sich zu Opfer stilisieren und Juden  wieder Opfer von Antisemitismus werden, das müssen wir zurechtrücken, und zwar nicht nur im Sinne der Juden, sondern im Sinne der Gesamtgesellschaft und der Menschenwürde. Wenn heute eine deutsche Außenministerin nach Israel reist und „beide Seiten zur Zurückhaltung“ auffordert, frage ich mich: Begreift diese Frau überhaupt, was geschieht? Warum nimmt die Gesellschaft so was hin? Da werden vorsätzlich 1.200 Leute abgeschlachtet, Frauen vergewaltigt, und dann wird Israel – nach einem Raketenangriff im großen Maßstab – zur Zurückhaltung aufgefordert. Da frage ich mich: Was ist in den westlichen Demokratien, in Deutschland los? Hat man sämtliche Maßstäbe verloren? Es geht ja wirklich nicht nur um Israel. Die Juden sind wie „Gänse auf dem Kapitol“: Wenn wir anfangen zu schnattern, dann stimmt was nicht. Alarm. Und wenn der französische Präsident Macron nach Israel eilt und vorgibt, die Opfer zu betrauern, aber gleichzeitig sagt: „Fangt keinen Krieg an!“, und Frankreich anschließend in der UNO für eine antisemitische Resolution stimmt, weil Macron Angst hat, ja „Schiss“ hat vor Islamisten, vor Antisemiten, dann bedeutet dies Gefahr für Europa. Das geht weit über die Juden, auch über die Ukraine hinaus. Wir dürfen nicht klagen, dass wir so viel Geld für Verteidigung ausgeben. Amerika gab das Vierfache aus, jetzt das Doppelte. Wenn wir Europa und die Freiheit in Takt halten wollen, dann müssen wir auch viel dafür leisten.

Aus der Dauerausstellung über das Landjudentum: Links: Die Brüder Heinrich und Ludwig Seligmann im neuen Auto ihres Vaters, des Kaufmanns Isaak Seligmann. Beide sind nach Palästina emigriert. Aufnahme um 1920, München Dr. Rafael Seligmann. Rechts: Angehörige der Familie Seligmann vor ihrem Geschäftshaus in der Marktstraße 9. Aufnahme von 1926, Ichenhausen Moritz Schmid.

WOLF: Du bist Nachfahre einer tief im bayerischen Schwaben verwurzelten Familie. Welche Rolle siehst Du für jüdische Menschen heute in Bayern und in Deutschland? Ist dabei der 7. Oktober eine Zäsur?

SELIGMANN: Der 7. Oktober ist eine Zäsur. Wir haben in Deutschland wieder eine relativ große Gemeinde – mit all’ ihren Brüchen. Es sind nicht mehr die ursprünglich deutschen Juden, sondern Überlebende der Shoah, hauptsächlich aus Osteuropa. In den 90er-Jahren kamen über 100.000 Juden aus Russland. Damals wollten eine Million Juden hierherkommen. Die hat man nicht zugelassen. Man hat später lieber Menschen aus Afghanistan und Syrien hergelockt. Die Ergebnisse sind bekannt. Das  Recht auf Asyl ist wichtig. Doch es muss auf Asylflüchtlinge begrenzt werden. Deutschland kann nicht die ganzen Armen der Welt aufnehmen, das ist eine Illusion. 450 Millionen Menschen hungern auf der Welt. Das wird ausgeblendet. Man droht die Maßstäbe zu verlieren. Wir sollten zur Normalität zurückfinden. Der 7. Oktober war ein Bruch. Auch in Deutschland. Auf unseren Straßen habe ich Antisemiten erlebt. Mitbekommen, dass Juden hier wieder misshandelt werden, dass Leute es wagen, in Deutschland antisemitische Parolen zu brüllen, nicht erst am 7. Oktober, sondern schon in den 2000er-Jahren. Damals stand die Polizei daneben und unternahm nichts dagegen. Die Staatsanwaltschaft ebenfalls nichts. So öffnen wir in Deutschland der Willkür Tür und Tor. Das darf nicht geschehen. Wenn das Land wieder zu sich selbst findet, zu einer selbstbewussten Demokratie, dann wird es auch eine entsprechend selbstbewusste jüdische Gemeinde haben. Viele Juden würden herkommen, wenn sie nicht Angst haben müssen.

WOLF: Deine Romane zeichnen sich mitunter durch humoristische Personencharakterisierungen aus, welche die nicht selten ernste und bittere Thematik erträglicher machen. Ist Lachen für Dich auch ein Mittel der Aufklärung und der Entzauberung von Autoritäten, wie dies Umberto Eco in seinem Roman Der Name der Rose vorgeführt hat?

SELIGMANN: Ja, wir unterscheiden uns vom Affen durch drei Sachen: Wir können angeblich denken. Einstein hat gesagt, er hat da seine Zweifel (lacht). Wir können sprechen. Aber ganz hervorragend ist, wir haben die Fähigkeit zum Lachen, zum Humor. Der Humor ist auch eine Tugend der Ohnmächtigen. Ein Ohnmächtiger versucht, über die eigene Situation zu lachen und sie dadurch zu entschärfen. Humor bedeutet für mich Menschlichkeit und ich bemühe mich, mich wie ein Mensch gegenüber meinen Nächsten zu benehmen. Das ist ja auch ein Gebot des Christentums und des Judentums, oder des Judentums und des Christentums, chronologisch gesehen. Die Nächstenliebe. Und zur Nächstenliebe und zum Umgang mit Menschen gehört das Lachen. Wir sind glücklicherweise keine Propheten. Propheten wie Moses oder wie Jesus, so wie ich ihn sehe, waren sehr ernst, nahmen sich selbst ernst. Aber wir Normalsterblichen besitzen die Fähigkeit zu lachen. Da darf die Literatur keine Ausnahme machen. 

WOLF: Ja, die letzte Frage: Deinen literarischen Vorlass willst Du an die Bayerische Staatsbibliothek in München übergeben. Damit ist der germanistischen Erforschung des Schriftstellers Rafael Seligmann das Tor geöffnet. Was sollte man in 100 Jahren über Dich in einer deutschen Literaturgeschichte lesen?

SELIGMANN: Nur das Beste (lacht). Ich empfinde mich als Pionier des deutsch-jüdischen Gegenwartsromans. Ob es dem einen literarisch gefällt oder nicht – Geschmäcker sind verschieden. Aber ich war der Erste, der sich nach dem Völkermord getraut hat, über jüdische Schmerzen und über jüdische Wut und über jüdische Begehren und über jüdischen Humor zu schreiben – nicht bei offiziellen Anlässen, sondern im Alltag. Das wird bleiben. Das Überwinden der Angst hat Mut erfordert. Das ist gewiss das Ergebnis meines Aufwachsens in Israel. Ich hatte nicht diese Grundangst der Juden der Diaspora: Was werden die Gojim sagen? Was werden die Nichtjuden sagen? Wenn ich mich als Shylock schildere: Ja, ich bin ein Shylock! Es ist bemerkenswert, dass ein Nichtjude den Kaufmann von Venedig geschrieben hat mit seinem einmaligen Monolog: „Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns quält, hassen wir nicht?“ Ohne je den Rockzipfel Shakespeares zu erreichen: Aber ich habe mich bemüht, und ich glaube, es ist mir gelungen, die Juden als Menschen zu schildern, mit all ihren Schwächen und Stärken und mit all ihren Begehren und Ängsten und ihrem Humor. Wenn mir das gelungen ist, dann bin ich zu Recht in der Stabi, oder mein Nachlass, mein Geist sozusagen. Und dass in der Stabi der älteste Talmud der Welt, der älteste Bibelkommentar, aufbewahrt wird – nicht in Israel, sondern hier in der Münchner Stabi! Und ich, im Dunstkreis dieses Buches oder mein Nachlass – ich habe alle meine Romane und Bücher mit der Hand geschrieben –, wenn das unter dem gleichen Dach ruhen wird, das wird mich vielleicht ein Stückchen ruhigen Abschied nehmen lassen…

WOLF: Ein wunderbares Schlusswort.

SELIGMANN: Dankeschön.

 

Das Interview fand am 18. April 2024 in der ehemaligen Synagoge in Ichenhausen statt. Peter Czoik transkribierte es für das Literaturportal Bayern.

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