Grillparzer im KZ

https://www.literaturportal-bayern.de/images/lpbthemes/2015/klein/kz_Grillparzer_500.jpg
Franz Grillparzer, Porträtlithographie von Josef Kriehuber

Am 5. Juli 1944 traf Emil Alphons Rheinhardt in Dachau ein. Er bekam die Häftlingsnummer 77.343. Hier traf er unter anderem Nico Rost wieder, den er aus Berlin kannte. Zusammen sprachen sie über österreichische Literatur, vor allem über Grillparzer: „Meine Freundschaft mit Rheinhardt ist zu einer Quelle geistiger Anregung geworden. Ich sehe ihn nun täglich und täglich führen wir lange Gespräche über Literatur, die uns helfen, das Leben hier zu ertragen – die es uns erleichtern.“ (Nico Rost: Goethe in Dachau. Verlag Volk & Welt, Berlin 2000, S. 49) Rheinhardt lieh Nico Rost schließlich einen ins Lager eingeschmuggelten Band des österreichischen Schriftstellers. Nach der Lektüre notierte Nico Rost begeistert:

Könnten die folgenden, 1828 geschrieben Zeilen nicht von einem heutigen Beobachter stammen?

„Dass die Deutschen diesen schaukelnden Träumen, dieser bild- und begriffslosen Ahnungsfähigkeit einen so hohen Wert beilegen, ist eben das Unglück dieser Nation. Daher kommt es, dass sie sich so gern jedem Irrtum in die Arme werfen, wenn er nur irgendeinen Halt darzubieten scheint, an den sie jenes flatternde, verworrene Gewebe anknüpfen können. Daher kommt es, dass von zehn zu zehn Jahren die ganze Nation mit einem Schlage ihr geistiges Glaubensbekenntnis ändert und die Götzen des gestrigen Tages... heute wie Schatten von verstorbenen umherwandeln. [...] Sie glauben, dass sei etwas ihrer Nation Eigentümliches, aber andere Völker kennen diesen Zustand auch, nur werden bei ihnen die Knaben endlich Männer!“

(S. 49f.)

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek / Dr. Michaela Karl