Die Schwabinger Krawalle

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Eindrücke der Leopoldstraße in München-Schwabing (Bayerische Staatsbibliothek/Fruhstorfer)

Am 21. Juni 1962 riefen Anwohner der Leopoldstraße in München die Polizei, weil eine Gruppe Jugendlicher nach 22.30 Uhr auf der Straße Musik machte. Es war Fronleichnam, das schöne Wetter hatte zahlreiche Nachtschwärmer in die Cafes nach Schwabing gelockt. Als die Polizei eintraf um die fünf Männer, die an der Leopoldstraße Ecke Martiusstraße friedlich russische Volksweisen spielten, festzunehmen, kam es zu einer Rangelei mit den Zuhörern der Musiker. Die Situation eskalierte derart, dass es rund um die Universität vier Tage lang zu Straßenschlachten kam. Zehntausende, vorwiegend Jugendliche waren daran beteiligt. Berittene Polizisten prügelten mit Schlagstöcken auf die jungen Leute ein. Mit ihren Pferden sprengten sie über die Terrassen der Cafes auf der Leopoldstraße und verletzten dabei  auch zahlreiche unbeteiligte Passanten. Der 62-jährige Direktor des städtischen Jugendheims, der zu vermitteln versuchte, wurde ebenfalls von Polizisten niedergeknüppelt. Dass auch der amerikanische Vizekonsul von Polizisten geschlagen wurde – und das gleich zweimal – machte sich besonders schlecht. Am Ende gab es rund 400 Verhaftungen und zahlreiche Schwerverletzte. Für München, das sich nach einem Wettbewerb erst vor zwei Wochen zur „Weltstadt mit Herz“ erklärt hatte, waren die Krawalle ein riesiger Imageschaden. Beendet wurden die Krawalle übrigens nicht von der Polizei, sondern vom Wetter. Nachdem es ein fürchterliches Gewitter gab, fand man in den Bäumen Zettel mit folgender Aufschrift: „Wegen schlechter Witterung fällt das Polizeisportfest heute aus.“

Unter den Jugendlichen, die an den Krawallen beteiligt waren, befand sich auch der spätere RAF-Terrorist Andreas Baader, für dessen politische Radikalisierung die Schwabinger Krawalle einen entscheidenden Faktor darstellten. Obwohl in diesen Tagen keine politischen Forderungen formuliert wurden, waren diese Junitage doch der Auftakt zum Kampf um kulturelle Selbstbestimmung, der sich in den nächsten Jahren massiv auf die ganze Republik ausweitete.

Ulrich sah die Fotos in der Zeitung. Der Student am Boden liegend. Über ihn gebeugt eine junge Frau in einem weiten schwarzen Abendkleid. Sie hält seinen Kopf. Am Hinterkopf und auf dem Boden: Blut. Daneben ein anderes Foto, drei Polizisten schlagen und treten auf einen am Boden liegenden Demonstranten ein, der sein Gesicht mit den Händen zu schützen versucht. Und dann das Foto von dem lachenden Schah und Farah Diba, die eine kleine Krone im Haar trägt. [...]

Zahlen, schrie er, zahlen.

Die Kellnerin sah ihn verwundert an, stellte das Tablett auf einen leeren Tisch ab und sagte dabei: Ja, ja, sofort. Er trank seinen Kaffee nicht aus. Er stand sofort auf.

Ulrich hörte seine Schritte laut auf dem Pflaster der Leopoldstraße.

(Uwe Timm: Heißer Sommer. Roman. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2012, S. 58)

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek / Dr. Michaela Karl