39. Kapitel
Als sie das äußere Tor erreichten, bemerkte Kidogo, wie ein Ruck durch Kohatu ging.
»Was ist los?«, fragte er.
»Die Wachen. Es sind doppelt so viele wie sonst.«
Aber natürlich gab es keinen Weg zurück. Und fürs Erste schienen sie sicher zu sein. Als die diensthabende Offizierin ihre Hauptfrau erkannte, nahm sie sogleich Haltung an.
»Warum habt ihr den Posten verstärkt?«, fragte Kohatu.
»Der Hohe Rat hat das Kriegsrecht ausgerufen.«
»Weswegen?«
»Die Anschläge der Alateaten nehmen zu, und ...«
»Halt ein. Ich war drei Wochen nicht da – was für Alateaten?«
»Die Verehrer Alateons. Anfangs waren es nur einige wenige Spinner, und Königin Torokaha hat sie gewähren lassen. Aber dann gab es einen Zusammenstoß auf dem Markt, als eine Priesterin mit einem ihrer Prediger aneinandergeraten ist. Dessen Anhänger haben die Priesterin erschlagen. Zur Strafe wurden der Prediger und seine Gefolgschaft gehängt. Doch das hat das Volk nicht befriedet, im Gegenteil, es spaltet sich in zwei Lager, die sich immer heftiger bekämpfen.«
»Hier.« Kohatu reichte der Offizierin die Leine, an der sie die Ersatzpferde geführt hatte.
Sie trieb ihr eigenes Tier bereits durchs Tor, als die Offizierin ihr hinterherrief: »Ihr wollt direkt zu ihrer königlichen Hoheit? Ihr findet sie in der Arena.«
»Was? Wieso?«
»Seit Königin Haikas Tod hat es keine Spiele mehr gegeben. Königin Torokaha hielt es für angebracht, das Volk die Entbehrungen der letzten Zeit vergessen zu lassen.«
»Während Kriegsrecht gilt?«, fragte Kohatu. Doch sie wartete keine Antwort ab, sondern schlug nur die Fersen in die Weichen ihres Rosses. So rücksichtslos preschte sie durch den dritten Ring, dass Kidogo kaum hinterherkam. Er konnte sich ausmalen, woher ihre Hast rührte – wenn stimmte, was die Torwache erzählt hatte, grenzte es an Wahnsinn, die gespaltene Stadt in die Enge der Arena zu quetschen. Es mochte nicht lang dauern, bis sich die verfeindeten Parteien gegenseitig an die Gurgel gingen.
Während ihrer Flucht aus den Nebelzinnen hatte Kidogo mit Kohatu besprochen, Torokaha behutsam davon zu überzeugen, dass Kaïkopura Einhalt geboten werden musste. Aber wenn sich gewaltbereite Fronten gebildet hatten, waren derlei Überlegungen vielleicht schon hinfällig. Der Karren eines Kohlhändlers versperrte den Weg, Kohatu setzte tollkühn darüber hinweg. Kidogos eigenes Pferd wich zur Seite aus, im letzten Moment bekam er die Mähne zu fassen. Als die Wachen am Tor zum zweiten Ring die heranstürmenden Reiter sahen, senkten sie ihre Speere. Doch Kohatu wurde nicht langsamer, vertraute darauf, dass man sie erkennen würde. Und tatsächlich, gerade noch rechtzeitig sprangen sie zur Seite, Kohatu rauschte vorbei, Kidogo hinterher.
Sie erreichten die Arena. Das höchste Gebäude außerhalb des inneren Kreises und groß genug, um hunderttausend Menschen zu fassen. Es hatte die Form eines langgezogenen Ovals. Ab den höheren Ebenen waren die Wände nicht mehr durchgängig gemauert, sondern bestanden aus endlosen Reihen offener Bögen. Aus jeder Öffnung ragte eine Stange mit dem gelb-roten Banner der Königin – es sah aus wie ein Herbstwald aus Stein und Stoff statt Holz und Laub.
Der Vorplatz war gespenstisch leer. Bis auf ein paar gelangweilte Händlerinnen waren nur zwei Trupps der Palastwache zu sehen. Ein sicheres Zeichen, dass die Königin sich in der Arena befand. Kohatu warf einer der Wachen ihre Zügel zu und rannte durch den nächstliegenden Torbogen. Verflucht, war sie schnell. Obwohl sie ihre volle Rüstung trug, war es Kidogo unmöglich, Schritt zu halten. Glücklicherweise führte der Gang geradewegs in ein offenes Stiegenhaus. Von oben drang das Klappern der Lamellen von Kohatus Panzerschurz. Ansonsten war es nach wie vor verstörend still. Kidogo eilte die Stufen hoch.
Da, das Dröhnen der Heroldstrichter. Doch die genauen Worte drangen nicht durch das Mauerwerk. Keuchend rannte er weiter. Endlich erreichte er die Ebene, auf der er zuletzt Kohatu gesehen hatte. Ein Gang führte von den Treppen weg, doch der Zugang wurde von einem Soldaten versperrt.
»Ich gehöre zu Kohatu«, erklärte er atemlos. »Ich bin Berater der Königin.«
»Ich erkenne Euch, Heiler.« Der Soldat trat zur Seite.
Durch den Gang, in dem sich weitere Bewaffnete befanden, erreichte Kidogo einen hohen Raum, der mit prunkvollen Teppichen ausgelegt war. Die Wände waren von Liegen gesäumt, auf schweren Tischen waren Speisen und Getränke angerichtet. Aus seinem Magen bellte der Hunger, doch Kidogo war nur einen Wimpernschlag lang abgelenkt, denn schon tönten wieder die Trichter. Der Raum öffnete sich auf einen Balkon, auf dem ein Dutzend Satrapanim vor bemalten Lehnstühlen standen. Zwischen ihnen hindurch drängte Kohatu, den Blick auf den Rücken einer in roter und goldener Seide gekleideten, zierlichen Gestalt gerichtet, die am Rande der Balustrade stand: Torokaha, Akis Schwester. Zwei Schritt von ihr entfernt blieb Kohatu stehen. Torokaha beachtete sie nicht, immer noch mit dem Rücken zu Kidogo rief sie etwas, und die Trichter verkündeten: »Ich werde Euch einen Frieden bringen, in dem außerhalb dieser Mauern kein Blut mehr fließen wird.«
Nun war Kidogo nah genug heran, um zu sehen, mit wem sie gesprochen hatte. Und ihn schwindelte bei dem Anblick der Wand aus Menschen, die sich vor ihm zeigte. Auf dem Platz der Offenbarung waren es vermutlich nicht weniger Leute gewesen; doch hier, im Rund der Arena, türmten sie sich viele Stufen hoch übereinander auf, wie bunte Steinchen eines ungeheuren Mosaiks.
»Ranui wird blühen«, rief Torokaha, »dies verspreche ich, eure Königin.«
In das ausklingende Echo der Trichter brach ein einziger Jubelschrei aus hunderttausend begeisterten Kehlen. So laut war es, dass Kidogo den Boden unter seinen Füßen zittern zu spüren glaubte. Minutenlang lärmte die Masse.
Wieder sprach Torokaha, doch durch das Tosen hindurch konnten selbst die Herolde neben ihr sie nicht verstehen. Sie hob die Hände, der Sturm ließ nach. »Mögen die Spiele beginnen.«
Und das Tosen war zurück.
Ungläubig starrte Kidogo die Königin an. Kriegsrecht, ein drohender Bürgerkrieg – hatte er sich die Offizierin am Tor bloß eingebildet? Aber ein Blick zu Kohatu belehrte ihn eines Besseren: Die Hauptfrau sah genauso verdattert drein.
Jetzt wandte sich Torokaha von der Brüstung ab, ihr Blick traf seinen. Mit einem so sorglos heiteren Lächeln begrüßte sie ihn, dass er daran zweifelte, bei wachem Verstand zu sein. An den klatschenden Satrapanim vorbei kam sie auf ihn zu.
Fahrig verneigte er sich auf die vorgeschriebene Weise. »Ich muss mit dir sprechen.«
»Kann das nicht warten?«
Mit zusammengepressten Lippen schüttelte er den Kopf.
»Na gut.« Sie winkte ihm, ihr zu folgen. Ihre Bewegungen waren von einer gleichgültigen Selbstgewissheit, wie Kidogo sie noch nie an ihr bemerkt hatte. Eine nachgerade königliche Haltung.
Im Raum mit den Speisen wartete eine Dienerin. Torokaha scheuchte sie davon, füllte selbst zwei Gläser mit dem allgegenwärtigen Wein. Als Kohatu den Bereich betrat, füllte sie ein drittes. »Also«, sagte sie, während sie die Gläser verteilte, »was gibt es?«
Doch Kidogo musst seine eigene Frage loswerden: »Was ist hier passiert?«
»Mutter hat die Arena immer nur für Wagenrennen genutzt. Ich lasse Besitzlose gegeneinander antreten. Bis zum Tod – die Leute werden es lieben.«
»Das ist ...«
»Sieh mich nicht so an.« Sie sagte es spöttisch. »Die Kämpfenden melden sich freiwillig. Arme Wesen, die nichts zu verlieren haben. Für jeden Sieg bekommen sie ein Silberstück. Ab drei Siegen außerdem lebenslange Verköstigung.«
So unsicher Kidogo war, was er sich aus dieser Art der Unterhaltung machen sollte, lag ihm eine andere Sache doch noch schwerer auf dem Herzen. »Du hast das Kriegsrecht ausgerufen? Wegen der ... Alateaten?«
»Ach das«, sagte sie leichthin. »Das war der Hohe Rat. Hauptsächlich geht es um nächtliche Ausgangssperren und eine erhöhte Alarmbereitschaft des Heeres. Ich glaube auch, die Blauen Türme dürfen ihre Verfahren rascher abschließen. Alles in allem klingt es aufregender, als es ist.«
»Eure königliche Hoheit«, bemerkte Kohatu, »ich fürchte, Ihr täuscht Euch. Jede, die nur ein Stadtwappen auf der Brust trägt, darf erschlagen, wer immer ihr in die Quere kommt. Glaubt mir, es gibt mehr schwarze Schafe in den Rängen als Ratten im dritten Ring. Ist es wahr, dass sich eine Gemeinde um Alateon gebildet hat, die gegen Atua-Kore hetzt?«
»Was heißt schon ›hetzen‹? Es gibt einige, die Mahuika nicht als billige Bauernfängerin sehen wollen – was ist so schlimm daran?«
Kidogo traute seinen Ohren nicht. »Du förderst die Entwicklung?«
Wieder dieses Lächeln, das ihm heiterer als früher vorkam, aber auch weniger offen. »Ich füge mich. Die Leute brauchen eine Königin, die für alle gleichermaßen da ist. Und soll ich dir was sagen: Es gelingt. Wer die Schuld an Ranuis Niedergang nicht Hua und dem Hohen Rat zuschreibt, macht die Priesterinnen verantwortlich – und von da ist es nur ein kleiner Schritt, Atua-Kore selbst anzuzweifeln.« Sie hatte ihr Glas bereits geleert, füllte es nach. Zumindest ihre Trinkgewohnheiten hatten sich also nicht geändert. »Ich hingegen – ich war bereit, für Atua-Kore in den Tod zu gehen, das ganze Volk konnte es beobachten. Nach Mahuikas Flucht wäre ich die rechtmäßige Thronfolgerin gewesen, doch der Hohe Rat hat mir mein Recht verwehrt. Und was war das Ergebnis? Eine ermordete Hohepriesterin, das Schröpfen der äußeren Ringe, eine Allee aus blutigen Kreuzen. Eine Verurteilte, vor welcher der Richter auf die Knie sinkt? Ich kann jede Seele verstehen, die in Mahuika mehr als eine Gefallene gesehen hat.
Ich bin die Schwester der Prophetin, und ich habe Huas Tyrannei beendet – mit dem Segen der Hohepriesterin. Ich bin die einzige, die beides sein kann: Bewahrung und Erneuerung. Und die Menschen sehen es.« Sie machte eine unbestimmte Handbewegung in Richtung des Balkons. »Sie lieben mich.«
»Torokaha«, Kidogo legte ihr beide Hände auf die Schultern, »hör mir zu. Es mag sein, dass die Menschen auf dich hoffen, es ist sogar wahrscheinlich, nach allem, was ich über Hua weiß und du mir über die Herrschaft deiner Mutter erzählt hast. Aber Hoffnung ist ein flüchtiges Gut. Du wirst mehr brauchen als ein paar gruselige Schaukämpfe, um die Stadt zu befrieden. Hat der Hohe Rat bereits eine Sprecherin gewählt?«
»Wir beraten noch ... wieso?«
»Du wirst weniger Fehler machen, wenn jemand deine Entscheidungen überprüft – und im Zweifel auch die Macht hat, Einspruch zu erheben.«
»Ich habe dich.«
»Nein. Wirklich, hör mir zu.« Er unterdrückte den Drang, sie zu schütteln. »Wenn du die Hoffnung Ranuis an dein eigenes Schicksal knüpfst, wird mit jedem Fehler, den du begehst, diese Hoffnung schwinden. Nimm diese Last nicht auf dich.«
Torokaha streifte seine Hände von ihren Schultern, griff nach ihrem Glas, leerte und füllte es. »Du wolltest mit mir reden?« Ihr Lächeln war verschwunden, und nun wirkten ihre Züge noch einmal fremder.
»Kaïkopura hat die Grabkammer Alateons gefunden.«
»Oh.«
»Nur, dass es sich nicht um die Grabkammer eines Gottes handelt, sondern um ein Lager, in dem die Erbauer Fässer versteckt haben.«
»Fässer?«
»Kaïkopura will sie öffnen lassen.«
»Und?«
Kidogo fuhr sich durch die Haare. Sah denn niemand die Gefahr? »Sie sind mit Totenschädeln bemalt. Sie wurden hunderte Schritt tief in der Erde vergraben. Die Erbauer hatten nur ein Ziel: Diese Fässer geschlossen zu halten. Wir sollten sie nicht öffnen.«
»Beruhige dich. Wenn es dir so wichtig ist, dann werde ich Kaïkopura empfehlen, deinem Rat zu folgen.«
»Empfehlen?« Schrill klingelte seine Stimme in seinen eigenen Ohren.
»Sie ist die Hohepriesterin. Wenn sie glaubt, dass Atua-Kore sich mit Alateon messen will, kann ich sie nicht aufhalten.«
»Natürlich kannst du. Du bist die Erwählte der Göttin.«
»Hast du nicht gerade gesagt, ich soll nicht alle Verantwortung für das Schicksal Ranuis auf meine Schultern laden?« Sie trank ihr Glas aus. »Ich beherzige nur deinen Rat.«
Weitere Kapitel:
Als sie das äußere Tor erreichten, bemerkte Kidogo, wie ein Ruck durch Kohatu ging.
»Was ist los?«, fragte er.
»Die Wachen. Es sind doppelt so viele wie sonst.«
Aber natürlich gab es keinen Weg zurück. Und fürs Erste schienen sie sicher zu sein. Als die diensthabende Offizierin ihre Hauptfrau erkannte, nahm sie sogleich Haltung an.
»Warum habt ihr den Posten verstärkt?«, fragte Kohatu.
»Der Hohe Rat hat das Kriegsrecht ausgerufen.«
»Weswegen?«
»Die Anschläge der Alateaten nehmen zu, und ...«
»Halt ein. Ich war drei Wochen nicht da – was für Alateaten?«
»Die Verehrer Alateons. Anfangs waren es nur einige wenige Spinner, und Königin Torokaha hat sie gewähren lassen. Aber dann gab es einen Zusammenstoß auf dem Markt, als eine Priesterin mit einem ihrer Prediger aneinandergeraten ist. Dessen Anhänger haben die Priesterin erschlagen. Zur Strafe wurden der Prediger und seine Gefolgschaft gehängt. Doch das hat das Volk nicht befriedet, im Gegenteil, es spaltet sich in zwei Lager, die sich immer heftiger bekämpfen.«
»Hier.« Kohatu reichte der Offizierin die Leine, an der sie die Ersatzpferde geführt hatte.
Sie trieb ihr eigenes Tier bereits durchs Tor, als die Offizierin ihr hinterherrief: »Ihr wollt direkt zu ihrer königlichen Hoheit? Ihr findet sie in der Arena.«
»Was? Wieso?«
»Seit Königin Haikas Tod hat es keine Spiele mehr gegeben. Königin Torokaha hielt es für angebracht, das Volk die Entbehrungen der letzten Zeit vergessen zu lassen.«
»Während Kriegsrecht gilt?«, fragte Kohatu. Doch sie wartete keine Antwort ab, sondern schlug nur die Fersen in die Weichen ihres Rosses. So rücksichtslos preschte sie durch den dritten Ring, dass Kidogo kaum hinterherkam. Er konnte sich ausmalen, woher ihre Hast rührte – wenn stimmte, was die Torwache erzählt hatte, grenzte es an Wahnsinn, die gespaltene Stadt in die Enge der Arena zu quetschen. Es mochte nicht lang dauern, bis sich die verfeindeten Parteien gegenseitig an die Gurgel gingen.
Während ihrer Flucht aus den Nebelzinnen hatte Kidogo mit Kohatu besprochen, Torokaha behutsam davon zu überzeugen, dass Kaïkopura Einhalt geboten werden musste. Aber wenn sich gewaltbereite Fronten gebildet hatten, waren derlei Überlegungen vielleicht schon hinfällig. Der Karren eines Kohlhändlers versperrte den Weg, Kohatu setzte tollkühn darüber hinweg. Kidogos eigenes Pferd wich zur Seite aus, im letzten Moment bekam er die Mähne zu fassen. Als die Wachen am Tor zum zweiten Ring die heranstürmenden Reiter sahen, senkten sie ihre Speere. Doch Kohatu wurde nicht langsamer, vertraute darauf, dass man sie erkennen würde. Und tatsächlich, gerade noch rechtzeitig sprangen sie zur Seite, Kohatu rauschte vorbei, Kidogo hinterher.
Sie erreichten die Arena. Das höchste Gebäude außerhalb des inneren Kreises und groß genug, um hunderttausend Menschen zu fassen. Es hatte die Form eines langgezogenen Ovals. Ab den höheren Ebenen waren die Wände nicht mehr durchgängig gemauert, sondern bestanden aus endlosen Reihen offener Bögen. Aus jeder Öffnung ragte eine Stange mit dem gelb-roten Banner der Königin – es sah aus wie ein Herbstwald aus Stein und Stoff statt Holz und Laub.
Der Vorplatz war gespenstisch leer. Bis auf ein paar gelangweilte Händlerinnen waren nur zwei Trupps der Palastwache zu sehen. Ein sicheres Zeichen, dass die Königin sich in der Arena befand. Kohatu warf einer der Wachen ihre Zügel zu und rannte durch den nächstliegenden Torbogen. Verflucht, war sie schnell. Obwohl sie ihre volle Rüstung trug, war es Kidogo unmöglich, Schritt zu halten. Glücklicherweise führte der Gang geradewegs in ein offenes Stiegenhaus. Von oben drang das Klappern der Lamellen von Kohatus Panzerschurz. Ansonsten war es nach wie vor verstörend still. Kidogo eilte die Stufen hoch.
Da, das Dröhnen der Heroldstrichter. Doch die genauen Worte drangen nicht durch das Mauerwerk. Keuchend rannte er weiter. Endlich erreichte er die Ebene, auf der er zuletzt Kohatu gesehen hatte. Ein Gang führte von den Treppen weg, doch der Zugang wurde von einem Soldaten versperrt.
»Ich gehöre zu Kohatu«, erklärte er atemlos. »Ich bin Berater der Königin.«
»Ich erkenne Euch, Heiler.« Der Soldat trat zur Seite.
Durch den Gang, in dem sich weitere Bewaffnete befanden, erreichte Kidogo einen hohen Raum, der mit prunkvollen Teppichen ausgelegt war. Die Wände waren von Liegen gesäumt, auf schweren Tischen waren Speisen und Getränke angerichtet. Aus seinem Magen bellte der Hunger, doch Kidogo war nur einen Wimpernschlag lang abgelenkt, denn schon tönten wieder die Trichter. Der Raum öffnete sich auf einen Balkon, auf dem ein Dutzend Satrapanim vor bemalten Lehnstühlen standen. Zwischen ihnen hindurch drängte Kohatu, den Blick auf den Rücken einer in roter und goldener Seide gekleideten, zierlichen Gestalt gerichtet, die am Rande der Balustrade stand: Torokaha, Akis Schwester. Zwei Schritt von ihr entfernt blieb Kohatu stehen. Torokaha beachtete sie nicht, immer noch mit dem Rücken zu Kidogo rief sie etwas, und die Trichter verkündeten: »Ich werde Euch einen Frieden bringen, in dem außerhalb dieser Mauern kein Blut mehr fließen wird.«
Nun war Kidogo nah genug heran, um zu sehen, mit wem sie gesprochen hatte. Und ihn schwindelte bei dem Anblick der Wand aus Menschen, die sich vor ihm zeigte. Auf dem Platz der Offenbarung waren es vermutlich nicht weniger Leute gewesen; doch hier, im Rund der Arena, türmten sie sich viele Stufen hoch übereinander auf, wie bunte Steinchen eines ungeheuren Mosaiks.
»Ranui wird blühen«, rief Torokaha, »dies verspreche ich, eure Königin.«
In das ausklingende Echo der Trichter brach ein einziger Jubelschrei aus hunderttausend begeisterten Kehlen. So laut war es, dass Kidogo den Boden unter seinen Füßen zittern zu spüren glaubte. Minutenlang lärmte die Masse.
Wieder sprach Torokaha, doch durch das Tosen hindurch konnten selbst die Herolde neben ihr sie nicht verstehen. Sie hob die Hände, der Sturm ließ nach. »Mögen die Spiele beginnen.«
Und das Tosen war zurück.
Ungläubig starrte Kidogo die Königin an. Kriegsrecht, ein drohender Bürgerkrieg – hatte er sich die Offizierin am Tor bloß eingebildet? Aber ein Blick zu Kohatu belehrte ihn eines Besseren: Die Hauptfrau sah genauso verdattert drein.
Jetzt wandte sich Torokaha von der Brüstung ab, ihr Blick traf seinen. Mit einem so sorglos heiteren Lächeln begrüßte sie ihn, dass er daran zweifelte, bei wachem Verstand zu sein. An den klatschenden Satrapanim vorbei kam sie auf ihn zu.
Fahrig verneigte er sich auf die vorgeschriebene Weise. »Ich muss mit dir sprechen.«
»Kann das nicht warten?«
Mit zusammengepressten Lippen schüttelte er den Kopf.
»Na gut.« Sie winkte ihm, ihr zu folgen. Ihre Bewegungen waren von einer gleichgültigen Selbstgewissheit, wie Kidogo sie noch nie an ihr bemerkt hatte. Eine nachgerade königliche Haltung.
Im Raum mit den Speisen wartete eine Dienerin. Torokaha scheuchte sie davon, füllte selbst zwei Gläser mit dem allgegenwärtigen Wein. Als Kohatu den Bereich betrat, füllte sie ein drittes. »Also«, sagte sie, während sie die Gläser verteilte, »was gibt es?«
Doch Kidogo musst seine eigene Frage loswerden: »Was ist hier passiert?«
»Mutter hat die Arena immer nur für Wagenrennen genutzt. Ich lasse Besitzlose gegeneinander antreten. Bis zum Tod – die Leute werden es lieben.«
»Das ist ...«
»Sieh mich nicht so an.« Sie sagte es spöttisch. »Die Kämpfenden melden sich freiwillig. Arme Wesen, die nichts zu verlieren haben. Für jeden Sieg bekommen sie ein Silberstück. Ab drei Siegen außerdem lebenslange Verköstigung.«
So unsicher Kidogo war, was er sich aus dieser Art der Unterhaltung machen sollte, lag ihm eine andere Sache doch noch schwerer auf dem Herzen. »Du hast das Kriegsrecht ausgerufen? Wegen der ... Alateaten?«
»Ach das«, sagte sie leichthin. »Das war der Hohe Rat. Hauptsächlich geht es um nächtliche Ausgangssperren und eine erhöhte Alarmbereitschaft des Heeres. Ich glaube auch, die Blauen Türme dürfen ihre Verfahren rascher abschließen. Alles in allem klingt es aufregender, als es ist.«
»Eure königliche Hoheit«, bemerkte Kohatu, »ich fürchte, Ihr täuscht Euch. Jede, die nur ein Stadtwappen auf der Brust trägt, darf erschlagen, wer immer ihr in die Quere kommt. Glaubt mir, es gibt mehr schwarze Schafe in den Rängen als Ratten im dritten Ring. Ist es wahr, dass sich eine Gemeinde um Alateon gebildet hat, die gegen Atua-Kore hetzt?«
»Was heißt schon ›hetzen‹? Es gibt einige, die Mahuika nicht als billige Bauernfängerin sehen wollen – was ist so schlimm daran?«
Kidogo traute seinen Ohren nicht. »Du förderst die Entwicklung?«
Wieder dieses Lächeln, das ihm heiterer als früher vorkam, aber auch weniger offen. »Ich füge mich. Die Leute brauchen eine Königin, die für alle gleichermaßen da ist. Und soll ich dir was sagen: Es gelingt. Wer die Schuld an Ranuis Niedergang nicht Hua und dem Hohen Rat zuschreibt, macht die Priesterinnen verantwortlich – und von da ist es nur ein kleiner Schritt, Atua-Kore selbst anzuzweifeln.« Sie hatte ihr Glas bereits geleert, füllte es nach. Zumindest ihre Trinkgewohnheiten hatten sich also nicht geändert. »Ich hingegen – ich war bereit, für Atua-Kore in den Tod zu gehen, das ganze Volk konnte es beobachten. Nach Mahuikas Flucht wäre ich die rechtmäßige Thronfolgerin gewesen, doch der Hohe Rat hat mir mein Recht verwehrt. Und was war das Ergebnis? Eine ermordete Hohepriesterin, das Schröpfen der äußeren Ringe, eine Allee aus blutigen Kreuzen. Eine Verurteilte, vor welcher der Richter auf die Knie sinkt? Ich kann jede Seele verstehen, die in Mahuika mehr als eine Gefallene gesehen hat.
Ich bin die Schwester der Prophetin, und ich habe Huas Tyrannei beendet – mit dem Segen der Hohepriesterin. Ich bin die einzige, die beides sein kann: Bewahrung und Erneuerung. Und die Menschen sehen es.« Sie machte eine unbestimmte Handbewegung in Richtung des Balkons. »Sie lieben mich.«
»Torokaha«, Kidogo legte ihr beide Hände auf die Schultern, »hör mir zu. Es mag sein, dass die Menschen auf dich hoffen, es ist sogar wahrscheinlich, nach allem, was ich über Hua weiß und du mir über die Herrschaft deiner Mutter erzählt hast. Aber Hoffnung ist ein flüchtiges Gut. Du wirst mehr brauchen als ein paar gruselige Schaukämpfe, um die Stadt zu befrieden. Hat der Hohe Rat bereits eine Sprecherin gewählt?«
»Wir beraten noch ... wieso?«
»Du wirst weniger Fehler machen, wenn jemand deine Entscheidungen überprüft – und im Zweifel auch die Macht hat, Einspruch zu erheben.«
»Ich habe dich.«
»Nein. Wirklich, hör mir zu.« Er unterdrückte den Drang, sie zu schütteln. »Wenn du die Hoffnung Ranuis an dein eigenes Schicksal knüpfst, wird mit jedem Fehler, den du begehst, diese Hoffnung schwinden. Nimm diese Last nicht auf dich.«
Torokaha streifte seine Hände von ihren Schultern, griff nach ihrem Glas, leerte und füllte es. »Du wolltest mit mir reden?« Ihr Lächeln war verschwunden, und nun wirkten ihre Züge noch einmal fremder.
»Kaïkopura hat die Grabkammer Alateons gefunden.«
»Oh.«
»Nur, dass es sich nicht um die Grabkammer eines Gottes handelt, sondern um ein Lager, in dem die Erbauer Fässer versteckt haben.«
»Fässer?«
»Kaïkopura will sie öffnen lassen.«
»Und?«
Kidogo fuhr sich durch die Haare. Sah denn niemand die Gefahr? »Sie sind mit Totenschädeln bemalt. Sie wurden hunderte Schritt tief in der Erde vergraben. Die Erbauer hatten nur ein Ziel: Diese Fässer geschlossen zu halten. Wir sollten sie nicht öffnen.«
»Beruhige dich. Wenn es dir so wichtig ist, dann werde ich Kaïkopura empfehlen, deinem Rat zu folgen.«
»Empfehlen?« Schrill klingelte seine Stimme in seinen eigenen Ohren.
»Sie ist die Hohepriesterin. Wenn sie glaubt, dass Atua-Kore sich mit Alateon messen will, kann ich sie nicht aufhalten.«
»Natürlich kannst du. Du bist die Erwählte der Göttin.«
»Hast du nicht gerade gesagt, ich soll nicht alle Verantwortung für das Schicksal Ranuis auf meine Schultern laden?« Sie trank ihr Glas aus. »Ich beherzige nur deinen Rat.«