36. Kapitel
Wenige Tage später brach ein hundert Kopf starker Trupp aus Tempelgardisten und Palastwachen zu den Nebelzinnen auf. Geführt wurde er von keiner geringeren als der Hohepriesterin selbst.
Tag und Nacht hatte Kidogo auf Torokaha eingeredet, das Grab Alateons geschlossen zu lassen. Das Ergebnis war, dass sie ihn der Hohepriesterin mitgeschickt hatte. Er solle vor Ort nach eigenem Ermessen auf Kaïkopura einwirken. Als ob diese sich noch von ihrem Plan abbringen ließe, wenn sie erst die Dornen der Erbauer vor sich aufragen sehen würde.
Trotzdem führte er am Morgen des zweiten Tages sein Pferd neben ihres. Nach ein paar höflichen Floskeln bat er sie, ihm noch einmal zu erläutern, welche Hoffnung sie mit dem Öffnen des Grabes verband. Sie wolle dem Volk die Macht Atua-Kores zeigen, entgegnete sie schmallippig.
»Glaubt Ihr denn«, fragte Kidogo, »dass Ihr Atua-Kores Macht darüber beweisen könnt, dass Ihr dreihundertfünfzig Meilen entfernt von Ranui die Ruinen eines versunkenen Volkes ausgraben lasst?«
»Die Besitzlosen fürchten Alateon. Also zerstören wir ihn – und die Besitzlosen werden ihr Vertrauen in Atua-Kore zurückgewinnen.«
»Eure Heiligkeit, die Menschen wollen einen vollen Bauch und sichere Straßen. Verwendet darauf Eure Kräfte, und die Zweifel an Atua-Kore werden versiegen.«
»Genug, Knochenbrecher. Erklär mir nicht den Willen meines Volkes. Sei froh, dass die Königin dich schützt – andernfalls würde ich dich am nächsten Baum aufknüpfen.«
Kidogo verzichtete darauf, weiter in sie zu dringen.
Der Sommer war zu Ende. In den Laubbäumen waren die ersten gelb-roten Flecken zu entdecken. Je weiter sie nach Norden gelangten, desto seltener zeigte sich die Sonne. Nachts wurde es empfindlich kühl. Mehrere Regenschauer weichten den Pfad auf, trotz der Pferde kamen sie nur langsam voran. Noch mehrere Male versucht Kidogo, auf die Hohepriesterin einzuwirken, doch sie begegnete ihm jedes Mal schroffer, es hatte keinen Zweck.
Auch mit Kohatu versuchte er zu sprechen, die ebenfalls mitgeschickt worden war – aber Torokahas Hauptfrau machte in ihrer einsilbigen Art deutlich, dass sie es nicht zu ihren Aufgaben zählte, eine eigene Meinung zu entwickeln.
Die letzten Tage bis zu den Nebelzinnen verbrachte Kidogo in zunehmender Sorge. Mit jeder Meile, die sie dem Riesengrab näher kamen, war er sich sicherer, dass es geschlossen bleiben musste. Aber was konnte er tun? Er war ein belächelter Außenseiter, ohne Verbündete, den nur die Gnade der Königin am Leben hielt.
Ihr Hauptlager hatten die Arbeiter am Waldrand errichtet, in der Nähe der Klamm, wo Kidogo zum ersten Mal die Dornen gesehen hatte. Eine Zeltstadt, deren Größe unglaublich war; Tausende arbeiteten und wohnten hier. Blasebälge zischten, Schmiedehämmer dröhnten, der Geruch von frisch gesägtem Holz und Zwiebelsuppe lag in der Luft. Von dem ursprünglichen Wald waren auf Meilen hinaus nur noch Stümpfe zu sehen.
Die Lagerleiterin empfing Kaïkopura mit angespannter Ehrerbietung, bat um eine Stunde Zeit, ihr einen festlichen Empfang zu bereiten. Doch es war erst Mittag, und Kaïkopura bestand darauf, gleich zu den Hinterlassenschaften der Erbauer weiterzureisen.
Als sie die Dornenkrone erreichten, verschlug es der Hohepriesterin den Atem – und Kidogo ging es nicht anders. Denn es waren nicht mehr nur einige Spitzen, die aus dem Felsen ragten; das ganze Monument war freigelegt worden. Die dazu benötigten Holzgerüste hatte man noch nicht wieder abgebaut, trotzdem bot sich ein überwältigendes Bild: Eine Säule, so dick wie ein Blauer Turm, war aus dem Hang geschält worden, und von ihrer Spitze aus gingen in alle Himmelsrichtungen die Dornen ab. Nein, nicht in alle, der Ring war nur zu drei Vierteln vollständig – keine der Dornen zeigte zu den Nebelzinnen.
»Eine Warnung«, murmelte Kidogo.
Kaïkopura widersprach nicht, verharrte schweigend.
Neben ihnen brachte Kohatu ihr Ross zum Stehen. »Die Truppe ist müde. Wir sollten rasten.«
»Nein«, sagte die Hohepriesterin. Sie schlug das Zeichen wider die kleinliche Angst, dann drückte sie ihrem eigenen Hengst die Fersen in die Flanken.
Einige hundert Schritt entfernt hatten die Arbeiter eine Rampe zur Hochebene errichtet, so dass auch Pferde und sogar Wagen den Hang bewältigen konnten. Niemand wagte mehr einen Einspruch gegen den Eifer der Hohepriesterin, und nach weiteren anderthalb Stunden erreichten sie das Herz der Anlage. Schon aus der Ferne waren die Geröllhügel zu erkennen, die von den Arbeitern aufgeworfen worden waren. Die schwarzen Würfel waren hinter Holz verschwunden; nur die Säulenspitzen blickten oben aus den Aufbauten, verrieten den Ort, zu dem Kidogo sich geschworen hatte, nie zurückzukehren.
Wie Ameisen wimmelten die Arbeiter über das Gebiet, doch im Vergleich zum Hauptlager waren es überraschend wenige. Ein Grabungsmeister mit blaugoldener Schärpe rannte ihnen entgegen, fiel vor der Hohepriesterin auf die Knie.
»Wo ist der Rest deiner Leute?«
»Unten«, entgegnete der Meister dienstbeflissen. »Wir legen die Platte frei.«
»Führ mich hin.«
»Verzeiht, Eure Heiligkeit ...« Der Mann zögerte.
»Was ist?«
»Es ist zu gefährlich. Wir stützen die Schächte ab, so gut wir können, aber der Gott wehrt sich. Jeden Tag verlieren wir Leute, weil Gänge zusammenbrechen. Manche werden auch verhext. Sie schlafen einfach ein, und erst, wenn wir sie ans Tageslicht bringen, erwachen sie wieder ... die glücklicheren zumindest.«
Die Hohepriesterin war bereits von ihrem Pferd gesprungen. »Mein Glaube schützt mich. Führe mich.«
»Eure Heiligkeit«, bat Kidogo, »hört auf den Mann. Atua-Kore mag Euch gesegnet haben, aber das macht Euch nicht unsterblich. Was nützt Ihr Eurer Göttin, wenn Ihr ...«
»Die Goldene hat mich zu ihrer Vertreterin bestimmt«, wurde er unterbrochen. »Ich werde ihr Licht verbreiten.«
Der Meister führte sie in das Holzgerüst hinein. In der Fläche zwischen den drei Würfeln befand sich ein rechteckiges Loch mit einer Kantenlänge von sechs oder sieben Schritt. Um das Loch herum hatte man ein Geländer errichtet. Schwere Taue verschwanden darin, zitterten, wenn die Seilwinden über ihnen sich bewegten. Diese Winden hatte man zu mehreren Flaschenzügen verbunden, und pro Zug hatte man jeweils zwei Ochsen unterjocht. Kidogo trat ans Geländer, sah in die Tiefe. Ein Käfig wurde emporgezogen, ein zweiter verschwand im Dunkel. Ein Ende des Schachts jedoch war nichts zu erkennen.
»Diese klapprigen Dinger sollen uns nach unten bringen?«, fragte die Hohepriesterin.
Der Meister nickte. »Aber, wie gesagt, wenn Ihr lieber oben bleiben wollt ...«
»Nein.«
Es dauerte eine weitere Minute, dann ratterte der Käfig ins Licht. In seinem Inneren stapelten sich bis an die Decke Körbe mit Erdgemisch. Hinter den schwitzenden Ochsen standen zwei Dutzend Arbeiter, beäugten scheu die Hohepriesterin. Doch als der Meister ihnen winkte, rannten sie herbei und schleppten die Körbe aus dem Käfig. Sobald dieser freigeräumt war, betrat ihn die Hohepriesterin, gefolgt von Kohatu und zwei Tempelgardisten.
Mit wachsender Beklemmung starrte Kidogo in die Finsternis des Schachts. Die Dornenkronen, die schwarzen Würfel – die Zeichen waren so klar. Was immer dort unten lauerte – die Erbauer mussten es gefürchtet haben wie nichts sonst auf der Welt. Geht weg!, hatten sie gerufen, mit einer Lautstärke, die alle Zeitalter überdauern sollte. Es war irre, eine solche Warnung in den Wind zu schlagen.
»Kommst du mit oder nicht?«, fragte ihn die Hohepriesterin.
Kidogo drückte sich zu den anderen in den Käfig.
Auch der Grabungsmeister zwängte sich noch herein, verschloss hinter sich das Gatter im Geländer und die Käfigtür. Anschließend befahl er den Ochsentreibern, ihre Tiere in Bewegung zu setzen. Ein Ruck erschütterte den Käfig, dann ging es nach unten. Kidogo bemerkte, wie die Hohepriesterin sich am Gitter festgeklammert hatte. Sie wirkte blass. War ihr nur übel vom Schaukeln des Käfigs, oder begann sie doch, eine Ahnung für den Wahnsinn ihres Unterfangens zu entwickeln?
Tiefer und tiefer ging es, die Fahrt schien kein Ende zu nehmen. Der Meister sprach von Belüftungstechniken und der Festigkeit verschiedener Gesteinsarten, aber Kidogo gelang es nicht, aufmerksam zu bleiben. Jeder Moment war so wertvoll wie alle anderen, sagten die Mandrêbanim. Nun, wenn das stimmte, war Kidogo kein guter Mandrêb. In seine Beklemmung hatte sich eine kindliche Aufregung gemischt: Die Hohepriesterin des mächtigsten Reiches der Welt schwebte in die Tiefe, um die Hinterlassenschaft eines anderen, vergangenen, aber zu seiner Zeit wohl noch ungleich mächtigeren Reiches zu erkunden. Wenn die Taten eines Menschen bedeutsam sein konnten – wann, wenn nicht heute?
So plötzlich kam der Käfig zum Stehen, dass es Kidogo beinahe von den Beinen gerissen hätte. Die Hohepriesterin wurde fast von ihrem Gitter weggerissen, selbst die Gardisten schwankten. Nur die Hauptfrau stand so reglos, als habe sie die Erschütterung gar nicht bemerkt.
»Wir sind da«, erklärte der Grabungsmeister, ein unsicheres Grinsen im Gesicht. Sie befanden sich in einem dunklen Raum, von dem verschiedene Gänge abgingen. Holzgebälk stützte die niedrige Decke. Von den Wänden hallte das leise Echo von knirschendem Stein und vielstimmigem Keuchen.
»Das ist das Grab?«, fragte die Hohepriesterin. »Sieht nicht beeindruckend aus.« Sie klang mehr erleichtert als enttäuscht.
»Seht nach unten, Eure Heiligkeit.« Der Meister senkte seine Laterne.
»Was ...?«, entfuhr es der Hohepriesterin, während sie zum Käfig zurückwich.
Der Boden war pechschwarz, und so hart und glatt, wie Kidogo es noch nie gesehen hatte – außer hier in den Nebelzinnen, bei den Dornen und Würfeln der Erbauer.
»Der Sarg des Gottes Alateon«, bemerkte der Meister andächtig. Doch dann versteinerte seine Miene, offenbar hatte er sich daran erinnert, wer vor ihm stand.
Etwas wacklig ging die Hohepriesterin auf die Knie, befühlte den Stein.
»Wir kennen kein vergleichbares Material. Es ist unglaublich hart«, erklärte der Meister, augenscheinlich bemüht, von seinem Missgeschick abzulenken. »Aber es ist nicht unzerstörbar.«
»Was ist dahinter?«, platzte es aus Kidogo heraus.
»Durchbohren können haben wir es nicht ... aber wir haben Kratzer erzeugt.«
»Kratzer?«
Der Mann verzog entschuldigend das Gesicht. »Es ist wirklich sehr hart.« Er wandte sich der Hohepriesterin zu. »Außerdem wollten wir auf Eure Anweisung warten.«
Die Angesprochene richtete sich wieder auf. »Wohin führen die Gänge?«
»Wir wollten sehen, wie groß die Platte ist.«
»Und?«
»Inzwischen sind wir in alle Richtungen etwa dreißig Schritt weit vorgedrungen, Eure Heiligkeit. Kein Ende in Sicht.«
»Goldene Göttin.« Sie wischte sich die Hände an dem Ärmel eines ihrer Gardisten ab. »Und überall sieht der Boden aus wie hier?«
»Ja, Eure Heiligkeit.«
»Schlagt ihn auf.«
»Es wird eine Weile dauern.«
»Arbeitet Tag und Nacht. Nutzt jede eurer Möglichkeiten. Beim Licht, schleppt die Ochsen hier runter, wenn es was bringt.«
»Ja, Eure Heiligkeit.«
»Seid Ihr sicher?«, warf Kidogo ein. »Ich denke ...«
»Ich will nichts hören.«
»Nur ein Gedanke, bitte. Was, wenn es eine Falle ist?«
»Atua-Kore wird mich schützen.«
»Ja, ich bezweifle es nicht. Aber sie ist die Göttin des Lichts. Was, wenn sie hier, in den Tiefen der Finsternis, in ihren Kräften beschränkt ist?«
»Na gut, Knochenbrecher. Was schlägst du vor?«
»Wir kehren nach Ranui zurück und berichten, dass Ihr in das Dunkel hinabgestiegen seid, ohne dass es Euch etwas anhaben konnte. Dass Alateon schläft und es nicht gewagt hat, den Mund Atua-Kores herauszufordern – nicht einmal in seiner eigene lichtlosen Höhle.«
Kaïkopura zögerte. Hatte er tatsächlich Aussicht zu Erfolg? »Es ist die Wahrheit«, setzte er nach. »Und wir haben genügend Zeugen, die es bestätigen können. Wir können die Arbeiter aus den Gängen holen – sie alle sollen sehen, wie ihre Hohepriesterin groß und aufrecht auf dem Grab des Götzen steht.«
»Ja«, sagte Kaïkopura nachdenklich, »ja, vielleicht hast du recht. Vielleicht ist es eine Falle.«
»Eure Heiligkeit«, rief Kidogo hoffnungsvoll, »ich bin mir sicher.«
»Wir versuchen nicht, die Platte zu durchbrechen.« Sie wandte sich an den Grabungsmeister. »Bohrt weiter eure Gänge. Irgendwo wird diese Platte ein Ende haben. Und dann finden wir heraus, ob Alateon die Wände seines Sarges genauso fest gefügt hat.«
Weitere Kapitel:
Wenige Tage später brach ein hundert Kopf starker Trupp aus Tempelgardisten und Palastwachen zu den Nebelzinnen auf. Geführt wurde er von keiner geringeren als der Hohepriesterin selbst.
Tag und Nacht hatte Kidogo auf Torokaha eingeredet, das Grab Alateons geschlossen zu lassen. Das Ergebnis war, dass sie ihn der Hohepriesterin mitgeschickt hatte. Er solle vor Ort nach eigenem Ermessen auf Kaïkopura einwirken. Als ob diese sich noch von ihrem Plan abbringen ließe, wenn sie erst die Dornen der Erbauer vor sich aufragen sehen würde.
Trotzdem führte er am Morgen des zweiten Tages sein Pferd neben ihres. Nach ein paar höflichen Floskeln bat er sie, ihm noch einmal zu erläutern, welche Hoffnung sie mit dem Öffnen des Grabes verband. Sie wolle dem Volk die Macht Atua-Kores zeigen, entgegnete sie schmallippig.
»Glaubt Ihr denn«, fragte Kidogo, »dass Ihr Atua-Kores Macht darüber beweisen könnt, dass Ihr dreihundertfünfzig Meilen entfernt von Ranui die Ruinen eines versunkenen Volkes ausgraben lasst?«
»Die Besitzlosen fürchten Alateon. Also zerstören wir ihn – und die Besitzlosen werden ihr Vertrauen in Atua-Kore zurückgewinnen.«
»Eure Heiligkeit, die Menschen wollen einen vollen Bauch und sichere Straßen. Verwendet darauf Eure Kräfte, und die Zweifel an Atua-Kore werden versiegen.«
»Genug, Knochenbrecher. Erklär mir nicht den Willen meines Volkes. Sei froh, dass die Königin dich schützt – andernfalls würde ich dich am nächsten Baum aufknüpfen.«
Kidogo verzichtete darauf, weiter in sie zu dringen.
Der Sommer war zu Ende. In den Laubbäumen waren die ersten gelb-roten Flecken zu entdecken. Je weiter sie nach Norden gelangten, desto seltener zeigte sich die Sonne. Nachts wurde es empfindlich kühl. Mehrere Regenschauer weichten den Pfad auf, trotz der Pferde kamen sie nur langsam voran. Noch mehrere Male versucht Kidogo, auf die Hohepriesterin einzuwirken, doch sie begegnete ihm jedes Mal schroffer, es hatte keinen Zweck.
Auch mit Kohatu versuchte er zu sprechen, die ebenfalls mitgeschickt worden war – aber Torokahas Hauptfrau machte in ihrer einsilbigen Art deutlich, dass sie es nicht zu ihren Aufgaben zählte, eine eigene Meinung zu entwickeln.
Die letzten Tage bis zu den Nebelzinnen verbrachte Kidogo in zunehmender Sorge. Mit jeder Meile, die sie dem Riesengrab näher kamen, war er sich sicherer, dass es geschlossen bleiben musste. Aber was konnte er tun? Er war ein belächelter Außenseiter, ohne Verbündete, den nur die Gnade der Königin am Leben hielt.
Ihr Hauptlager hatten die Arbeiter am Waldrand errichtet, in der Nähe der Klamm, wo Kidogo zum ersten Mal die Dornen gesehen hatte. Eine Zeltstadt, deren Größe unglaublich war; Tausende arbeiteten und wohnten hier. Blasebälge zischten, Schmiedehämmer dröhnten, der Geruch von frisch gesägtem Holz und Zwiebelsuppe lag in der Luft. Von dem ursprünglichen Wald waren auf Meilen hinaus nur noch Stümpfe zu sehen.
Die Lagerleiterin empfing Kaïkopura mit angespannter Ehrerbietung, bat um eine Stunde Zeit, ihr einen festlichen Empfang zu bereiten. Doch es war erst Mittag, und Kaïkopura bestand darauf, gleich zu den Hinterlassenschaften der Erbauer weiterzureisen.
Als sie die Dornenkrone erreichten, verschlug es der Hohepriesterin den Atem – und Kidogo ging es nicht anders. Denn es waren nicht mehr nur einige Spitzen, die aus dem Felsen ragten; das ganze Monument war freigelegt worden. Die dazu benötigten Holzgerüste hatte man noch nicht wieder abgebaut, trotzdem bot sich ein überwältigendes Bild: Eine Säule, so dick wie ein Blauer Turm, war aus dem Hang geschält worden, und von ihrer Spitze aus gingen in alle Himmelsrichtungen die Dornen ab. Nein, nicht in alle, der Ring war nur zu drei Vierteln vollständig – keine der Dornen zeigte zu den Nebelzinnen.
»Eine Warnung«, murmelte Kidogo.
Kaïkopura widersprach nicht, verharrte schweigend.
Neben ihnen brachte Kohatu ihr Ross zum Stehen. »Die Truppe ist müde. Wir sollten rasten.«
»Nein«, sagte die Hohepriesterin. Sie schlug das Zeichen wider die kleinliche Angst, dann drückte sie ihrem eigenen Hengst die Fersen in die Flanken.
Einige hundert Schritt entfernt hatten die Arbeiter eine Rampe zur Hochebene errichtet, so dass auch Pferde und sogar Wagen den Hang bewältigen konnten. Niemand wagte mehr einen Einspruch gegen den Eifer der Hohepriesterin, und nach weiteren anderthalb Stunden erreichten sie das Herz der Anlage. Schon aus der Ferne waren die Geröllhügel zu erkennen, die von den Arbeitern aufgeworfen worden waren. Die schwarzen Würfel waren hinter Holz verschwunden; nur die Säulenspitzen blickten oben aus den Aufbauten, verrieten den Ort, zu dem Kidogo sich geschworen hatte, nie zurückzukehren.
Wie Ameisen wimmelten die Arbeiter über das Gebiet, doch im Vergleich zum Hauptlager waren es überraschend wenige. Ein Grabungsmeister mit blaugoldener Schärpe rannte ihnen entgegen, fiel vor der Hohepriesterin auf die Knie.
»Wo ist der Rest deiner Leute?«
»Unten«, entgegnete der Meister dienstbeflissen. »Wir legen die Platte frei.«
»Führ mich hin.«
»Verzeiht, Eure Heiligkeit ...« Der Mann zögerte.
»Was ist?«
»Es ist zu gefährlich. Wir stützen die Schächte ab, so gut wir können, aber der Gott wehrt sich. Jeden Tag verlieren wir Leute, weil Gänge zusammenbrechen. Manche werden auch verhext. Sie schlafen einfach ein, und erst, wenn wir sie ans Tageslicht bringen, erwachen sie wieder ... die glücklicheren zumindest.«
Die Hohepriesterin war bereits von ihrem Pferd gesprungen. »Mein Glaube schützt mich. Führe mich.«
»Eure Heiligkeit«, bat Kidogo, »hört auf den Mann. Atua-Kore mag Euch gesegnet haben, aber das macht Euch nicht unsterblich. Was nützt Ihr Eurer Göttin, wenn Ihr ...«
»Die Goldene hat mich zu ihrer Vertreterin bestimmt«, wurde er unterbrochen. »Ich werde ihr Licht verbreiten.«
Der Meister führte sie in das Holzgerüst hinein. In der Fläche zwischen den drei Würfeln befand sich ein rechteckiges Loch mit einer Kantenlänge von sechs oder sieben Schritt. Um das Loch herum hatte man ein Geländer errichtet. Schwere Taue verschwanden darin, zitterten, wenn die Seilwinden über ihnen sich bewegten. Diese Winden hatte man zu mehreren Flaschenzügen verbunden, und pro Zug hatte man jeweils zwei Ochsen unterjocht. Kidogo trat ans Geländer, sah in die Tiefe. Ein Käfig wurde emporgezogen, ein zweiter verschwand im Dunkel. Ein Ende des Schachts jedoch war nichts zu erkennen.
»Diese klapprigen Dinger sollen uns nach unten bringen?«, fragte die Hohepriesterin.
Der Meister nickte. »Aber, wie gesagt, wenn Ihr lieber oben bleiben wollt ...«
»Nein.«
Es dauerte eine weitere Minute, dann ratterte der Käfig ins Licht. In seinem Inneren stapelten sich bis an die Decke Körbe mit Erdgemisch. Hinter den schwitzenden Ochsen standen zwei Dutzend Arbeiter, beäugten scheu die Hohepriesterin. Doch als der Meister ihnen winkte, rannten sie herbei und schleppten die Körbe aus dem Käfig. Sobald dieser freigeräumt war, betrat ihn die Hohepriesterin, gefolgt von Kohatu und zwei Tempelgardisten.
Mit wachsender Beklemmung starrte Kidogo in die Finsternis des Schachts. Die Dornenkronen, die schwarzen Würfel – die Zeichen waren so klar. Was immer dort unten lauerte – die Erbauer mussten es gefürchtet haben wie nichts sonst auf der Welt. Geht weg!, hatten sie gerufen, mit einer Lautstärke, die alle Zeitalter überdauern sollte. Es war irre, eine solche Warnung in den Wind zu schlagen.
»Kommst du mit oder nicht?«, fragte ihn die Hohepriesterin.
Kidogo drückte sich zu den anderen in den Käfig.
Auch der Grabungsmeister zwängte sich noch herein, verschloss hinter sich das Gatter im Geländer und die Käfigtür. Anschließend befahl er den Ochsentreibern, ihre Tiere in Bewegung zu setzen. Ein Ruck erschütterte den Käfig, dann ging es nach unten. Kidogo bemerkte, wie die Hohepriesterin sich am Gitter festgeklammert hatte. Sie wirkte blass. War ihr nur übel vom Schaukeln des Käfigs, oder begann sie doch, eine Ahnung für den Wahnsinn ihres Unterfangens zu entwickeln?
Tiefer und tiefer ging es, die Fahrt schien kein Ende zu nehmen. Der Meister sprach von Belüftungstechniken und der Festigkeit verschiedener Gesteinsarten, aber Kidogo gelang es nicht, aufmerksam zu bleiben. Jeder Moment war so wertvoll wie alle anderen, sagten die Mandrêbanim. Nun, wenn das stimmte, war Kidogo kein guter Mandrêb. In seine Beklemmung hatte sich eine kindliche Aufregung gemischt: Die Hohepriesterin des mächtigsten Reiches der Welt schwebte in die Tiefe, um die Hinterlassenschaft eines anderen, vergangenen, aber zu seiner Zeit wohl noch ungleich mächtigeren Reiches zu erkunden. Wenn die Taten eines Menschen bedeutsam sein konnten – wann, wenn nicht heute?
So plötzlich kam der Käfig zum Stehen, dass es Kidogo beinahe von den Beinen gerissen hätte. Die Hohepriesterin wurde fast von ihrem Gitter weggerissen, selbst die Gardisten schwankten. Nur die Hauptfrau stand so reglos, als habe sie die Erschütterung gar nicht bemerkt.
»Wir sind da«, erklärte der Grabungsmeister, ein unsicheres Grinsen im Gesicht. Sie befanden sich in einem dunklen Raum, von dem verschiedene Gänge abgingen. Holzgebälk stützte die niedrige Decke. Von den Wänden hallte das leise Echo von knirschendem Stein und vielstimmigem Keuchen.
»Das ist das Grab?«, fragte die Hohepriesterin. »Sieht nicht beeindruckend aus.« Sie klang mehr erleichtert als enttäuscht.
»Seht nach unten, Eure Heiligkeit.« Der Meister senkte seine Laterne.
»Was ...?«, entfuhr es der Hohepriesterin, während sie zum Käfig zurückwich.
Der Boden war pechschwarz, und so hart und glatt, wie Kidogo es noch nie gesehen hatte – außer hier in den Nebelzinnen, bei den Dornen und Würfeln der Erbauer.
»Der Sarg des Gottes Alateon«, bemerkte der Meister andächtig. Doch dann versteinerte seine Miene, offenbar hatte er sich daran erinnert, wer vor ihm stand.
Etwas wacklig ging die Hohepriesterin auf die Knie, befühlte den Stein.
»Wir kennen kein vergleichbares Material. Es ist unglaublich hart«, erklärte der Meister, augenscheinlich bemüht, von seinem Missgeschick abzulenken. »Aber es ist nicht unzerstörbar.«
»Was ist dahinter?«, platzte es aus Kidogo heraus.
»Durchbohren können haben wir es nicht ... aber wir haben Kratzer erzeugt.«
»Kratzer?«
Der Mann verzog entschuldigend das Gesicht. »Es ist wirklich sehr hart.« Er wandte sich der Hohepriesterin zu. »Außerdem wollten wir auf Eure Anweisung warten.«
Die Angesprochene richtete sich wieder auf. »Wohin führen die Gänge?«
»Wir wollten sehen, wie groß die Platte ist.«
»Und?«
»Inzwischen sind wir in alle Richtungen etwa dreißig Schritt weit vorgedrungen, Eure Heiligkeit. Kein Ende in Sicht.«
»Goldene Göttin.« Sie wischte sich die Hände an dem Ärmel eines ihrer Gardisten ab. »Und überall sieht der Boden aus wie hier?«
»Ja, Eure Heiligkeit.«
»Schlagt ihn auf.«
»Es wird eine Weile dauern.«
»Arbeitet Tag und Nacht. Nutzt jede eurer Möglichkeiten. Beim Licht, schleppt die Ochsen hier runter, wenn es was bringt.«
»Ja, Eure Heiligkeit.«
»Seid Ihr sicher?«, warf Kidogo ein. »Ich denke ...«
»Ich will nichts hören.«
»Nur ein Gedanke, bitte. Was, wenn es eine Falle ist?«
»Atua-Kore wird mich schützen.«
»Ja, ich bezweifle es nicht. Aber sie ist die Göttin des Lichts. Was, wenn sie hier, in den Tiefen der Finsternis, in ihren Kräften beschränkt ist?«
»Na gut, Knochenbrecher. Was schlägst du vor?«
»Wir kehren nach Ranui zurück und berichten, dass Ihr in das Dunkel hinabgestiegen seid, ohne dass es Euch etwas anhaben konnte. Dass Alateon schläft und es nicht gewagt hat, den Mund Atua-Kores herauszufordern – nicht einmal in seiner eigene lichtlosen Höhle.«
Kaïkopura zögerte. Hatte er tatsächlich Aussicht zu Erfolg? »Es ist die Wahrheit«, setzte er nach. »Und wir haben genügend Zeugen, die es bestätigen können. Wir können die Arbeiter aus den Gängen holen – sie alle sollen sehen, wie ihre Hohepriesterin groß und aufrecht auf dem Grab des Götzen steht.«
»Ja«, sagte Kaïkopura nachdenklich, »ja, vielleicht hast du recht. Vielleicht ist es eine Falle.«
»Eure Heiligkeit«, rief Kidogo hoffnungsvoll, »ich bin mir sicher.«
»Wir versuchen nicht, die Platte zu durchbrechen.« Sie wandte sich an den Grabungsmeister. »Bohrt weiter eure Gänge. Irgendwo wird diese Platte ein Ende haben. Und dann finden wir heraus, ob Alateon die Wände seines Sarges genauso fest gefügt hat.«