35. Kapitel
Jeden Morgen dankte Kaïkopura ihrer Göttin auf den Knien für das Leben, das sie führen durfte. Von ihren Priesterinnen wurde sie bewundert, von ihren Akolythinnen mit scheuer Ehrfurcht bedacht. Es war höchste Zeit gewesen, die Verkrustungen aufzubrechen, die sich unter der alten Hohepriesterin Amokapua gebildet hatten. Die neue Königin schien klüger als die alte, aber weniger hinterlistig als Sprecherin Sokai. Dass ihr Staatsstreich gelungen war, bewies die Sehnsucht der Stadt nach einem Ende der Machtkämpfe. Die Styrkur waren wieder davongerudert, nachdem Torokaha die Bäuche ihrer Schiffe mit Gold hatte füllen lassen. Eine Handelspartnerschaft war im Hohen Rat beschlossen worden, und niemand hatte dagegengestimmt. Dies war umso bemerkenswerter, da die Styrkur als Faustpfand die erstgeborenen Töchter der vierzehn wichtigsten Häuser verlangt und erhalten hatten. Gewiss, nach zwei Wintern sollten sie gegen die Töchter anderer Häuser ausgetauscht werden, aber Kaïkopura vermutete, dass es noch einen wichtigeren Grund für das Zugeständnis der Satrapanim gegeben hatte – jahrhundertelang hatten die Styrkur die Handelsketten an der Ostküste bedroht. Wenn sie jetzt Teil dieser Ketten werden würden, versprach das gewaltige Gewinne für jedes Hohe Haus, das bereit war, das Nötige zu tun.
Kaïkopura sollte es recht sein. Wenn die Satrapanim sich der Vermehrung ihres weltlichen Reichtums widmeten, würden sie ihr nicht bei der Vollendung ihrer eigenen Pläne in die Quere kommen. Im Gegensatz zu Amokapua hatte sie bemerkt, wie mit jedem Winter, der kam und ging, das Volk schwächer wurde in seinem Glauben. Der aufrichtigen Andacht waren Pflichtgefühl und Gewohnheit gewichen. Selbst die Großen Rituale waren zu bloßem Schauspiel verkommen. Zur Verabschiedung der Hohepriesterin im Licht waren Speisen und Getränke mitgebracht worden wie zu einem Sommerausflug. Nein, die Zustände waren nicht haltbar. Zu lange war Atua-Kore nur das Maskottchen des Hohen Rates gewesen, ein Werkzeug zur moralischen Überhöhung seiner Entscheidungen. Es war Zeit, Ranui zu zeigen, was es eigentlich bedeutete, das auserwählte Volk der Goldenen Göttin zu sein. Kaïkopura war bereit.
Der erste Schritt wäre, mehr Geld vom Hohen Rat zugestanden zu bekommen. Anschließend würde sie sich um die äußeren Ringe kümmern: Schreine errichten, ihre Priesterinnen zum Predigen ausschicken, Almosen verteilen, Gebetsschulen gründen. Es gab viel zu tun.
Allerdings war es entscheidend, dabei die eigenen Bedürfnisse nicht aus den Augen zu verlieren. Wer seinem Leib nicht gerecht wird, wird seiner Seele Leid zufügen, sagten die Heiligen Schriften.
Den ganzen Tag über hatte Kaïkopura für das Wohl des Volkes gebrütet. Nun erhob sie sich von ihrem Schreibtisch, streckte sich und rieb ihre überanstrengten Augen. Nachdem sie ihre Robe gegen das Kleid einer Besitzlosen getauscht hatte, verließ sie ihr Arbeitszimmer, ging zum nächsten Stiegenhaus und zum Ausgang der Pyramide. In befriedigender Ehrfurcht neigten die Gardisten ihre Häupter. Dass sie ihr Gewand gewechselt hatte, erzeugte keine Verblüffung, bereits als Hand Atua-Kores hatte sie es so gehalten, wenn sie den Tempel verließ – eine Sicherheitsmaßnahme, die seit Amokapuas Tod nur an Überzeugungskraft gewonnen hatte.
Das erste Tor war noch offen, das zweite jedoch nicht. Sie zeigte der Wache ihren Siegelring, ließ sich die für die Rückkehr nötige Losung geben und durfte passieren. Selbes Spiel am dritten Tor. Wie immer schlug ihr Herz höher, sobald sie den Ring der Besitzlosen betrat. Hier war das Leben roher, echter als irgendwo sonst.
Es war nicht so, dass die Genüsse, die der innere Kreis zu bieten hatte, Kaïkopura missfielen. Doch ab und an brauchte sie die Flucht aus ihrem Alltag, brauchte ein paar Stunden, in denen sie nicht Hohepriesterin war, in denen nicht jede Zofe, jeder Fleischwalker sie als den Mund Atua-Kore behandelte.
Das Gasthaus, das sie für die heutige Nacht als Ziel gewählt hatte, befand sich nah am Ufer des Korio; von den schlechten Gegenden des dritten Rings eine der schlechteren. Aber wenn nicht gerade eine Horde blutbeschmierter Styrkur in ihr Allerheiligstes stürmte, war Kaïkopura kein ängstlicher Mensch.
Als sie das Klopfzeichen gab, öffnete sich innerhalb eines Wimpernschlags die Tür. Nachdem sie der Hausherrin die bereitgehaltene Kupfermünze in die Hand gedrückt hatte, führte jene sie in den Kellerraum, der als der Schauplatz des nächtlichen Zeitvertreibs herhalten sollte. Weder der ranzige Teppichboden sah einladend aus noch die fleckigen Polster, die man an die Wände gelegt hatte. Die meisten Gäste waren bereits da, einige von ihnen erkannte Kaïkopura von früheren Veranstaltungen; man begrüßte sich flüchtig. Kaïkopura bekam Essig angeboten, der sich erfolglos als Wein zu verkleiden versucht hatte. Sie trank ihn trotzdem; wenn sie erlesenen Geschmack gesucht hätte, wäre sie im Kreis geblieben. Die anderen Anwesenden waren schwerlich schön zu nennen, oder auch nur gepflegt. Trugen Frisuren, die kaum den Namen verdienten. Kleine Kaufleute, Handwerksmeister, Geldwechslerinnen – die Bessergestellten des dritten Rings. Nein, Geschmack war es wahrlich nicht, was man hier finden konnte.
Ohne viel Federlesens entkleidete man sich. Kaïkopura hatte sich vorgenommen, den Abend zurückhaltend zu beginnen, doch schon nach der ersten Viertelstunde hatte sie alle guten Vorsätze vergessen. In den nächsten Stunden tat sie alles, wofür sie hergekommen war, und mehr.
Ihre Ausdauer suchte ihresgleichen, es war bereits weit nach Mitternacht, als sie langsam und wohlig die Gewissheit in sich aufsteigen spürte, auf ihre Kosten gekommen zu sein. Gerade rechtzeitig, denn sie war inzwischen allein mit ihrem letzten Gespielen, und auch der war nicht mehr zu viel zu gebrauchen. Ein dicker, bärtiger Mann mit dem Gesicht eines Trunkenbolds. Dieses Gesicht lag auf ihrem Bauch, sie hatten ihre Finger verschränkt. »Welche Schärpe trägst du?«
Seufzend ließ Kaïkopura seine Hand los und stützte sich auf die Ellenbogen. »Ich bin nicht zum Reden hier.«
»Natürlich nicht. Aber deine Finger ... sie sind so weich.«
Gut, das war wohl das Stichwort zu verschwinden.
»Du bist nicht aus dem dritten Ring, oder? Arbeitest du bei einer der Gilden?«
Kaïkopura setzte sich auf, so dass der Mann den Kopf wegnehmen musste. Unverhofft entdeckte sie einen Weinkrug in Reichweite. Schmeckte immer noch nach Essig. Schon oft hatte sie sich vorgenommen, weniger zu trinken, die Kopfschmerzen hielten sie vom Arbeiten ab.
»Oder nein – dienst du etwa in einem der Hohen Häuser?«
»Sei still und nimm.« Sie reichte ihm den Krug und machte sich daran, ihre Beine unter seinem massigen Körper hervorzuziehen.
»Ah, ich hab’s, du bist die Kammerfrau einer Satrapa, richtig? Das erklärt es.«
»Erklärt was?«
»Na, die zarten Hände, die glatten Haare. Die Wörter.«
Endlich hatte Kaïkopura sich befreit, sah sich nach ihrem Gewand um. »Wörter?«
»Na, du redest, als wären wir im Hohen Rat.«
Inzwischen hatte sie ihr Kleid gefunden, sie stülpte es über den Kopf. »Wie reden die dort denn?«
»Ich war da ja noch nie«, grinste der Mann. »Aber in meiner Vorstellung so wie du.« Mit verstellter Stimme machte er sie nach: »Zügle dich, es ist noch Zeit. Geduld veredelt den Genuss.« Sein Spiel war gar nicht schlecht, Kaïkopura musste lachen.
»Bis zum nächsten Mal«, verabschiedete sie sich.
»Selbstredend. Aber wenn ich dir einen Rat geben darf«, auf allen vieren kroch er zu seinen Stiefeln, »hau ab, bevor es zu spät ist.«
Verwundert blieb Kaïkopura stehen. »Was meinst du?«
»Die Hohen Häuser werden fallen, das musst du doch am besten wissen.« Zwar hatte er seine Stiefel erreicht, doch bemerkte er jetzt, dass ihm seine Hose noch fehlte. Forschend sah er sich um. »Ich meine, wenn du wirklich bei denen arbeitest. Verrückt, wenn ich nicht so besoffen wäre, müsstest du mir davon erzählen. Mensch, ich wette, im inneren Kreis geht es ganz schön ab.«
»Was meinst du damit: Die Häuser würden fallen?«
»Die Zeichen sind doch offensichtlich. Seit Haikas Tod macht jede Satrapa, was sie will. Mit dem Großen Ritual ging es los. Dann, beim Frühlingsgebet, als die Hohepriesterin auf den Altarstufen zusammengebrochen ist. Der Richter, der sich geweigert hat, das Urteil an der Prophetin zu vollziehen. Die Styrkur ...«
»Halt«, unterbrach ihn Kaïkopura, »hast du die Gefallene gerade eine Prophetin genannt?«
»Sie hat es selbst gesagt.«
»Ja, aber das heißt doch nicht ...«
»Wie könnte sie keine sein? Nicht nur, dass der Richter vor ihr auf die Knie gefallen ist. Wusstest du, dass der Geist ihrer toten Schwester in der Menge gewesen sein soll?«
»Ich glaube nicht, dass ...«
»Im Hohen Rat soll sie mit Feuer und Tod gedroht haben, wenn ihre Worte missachtet werden. Und was passiert? Ein paar Tage später stirbt die Hohepriesterin. Ein Wahnsinn befällt Honigpüppchen ...«
»Honig... wen?«
»Königin Hua – du bist echt nicht oft im dritten Ring, oder? Jedenfalls kreuzigt Honigpüppchen Satrapanim und Besitzlose gleichermaßen und faselt was von Verschwörung – als ob Satrapanim und Besitzlose je gemeinsame Sache machen würden. Und dann? Kommt die wiederauferstandene Schwester der Prophetin zurück nach Ranui – dieselbe, deren Geist die Hinrichtung miterlebt hat –, und mit einer Handvoll Styrkur brennt sie die Anwesen der Satrapanim ab und besetzt den Tempel. Und das ist nur ein Vorgeschmack dessen, was Alateon mit den Hohen Häusern vorhat.«
»Königin Torokaha wurde von Atua-Kore erwählt. Und das ganze Volk ist vor der Entscheidung der Goldenen Göttin auf die Knie gegangen.«
Der Mann lachte schallend. »Erzählen dir das die feinen Damen, denen du dienst? Ich sage dir, Atua-Kore hat uns schon längst den Rücken gekehrt.«
»Wie kannst du das sagen.« Erschauernd schlug Kaïkopura das Zeichen wider die leibhaftige Versuchung. »Warst du dabei? Hast du nicht die Hohepriesterin gesehen?«
»Du meinst Kaïkopura, diese Bucklerin? Verkündet eine neue Erwählte der Göttin, während Hua nebendran steht. Haben sich die heiligen Riten geändert? Oder war da nicht doch eher eine Hochstaplerin am Werk, die ihre Haut retten will?«
»Das Volk hat gekniet«, beharrte Kaïkopura, in ihren Schläfen pochte der Wein.
»Das Volk? Zählst du dich nicht dazu? Warst du schon so lange im Kreis, dass du glaubst, selbst ’ne feine Dame zu sein? Hübsche, ich muss dich enttäuschen, wir werden nie dazugehören, auch du nicht ... und dass wir auf die Knie gegangen sind – haben Atua-Kores Priesterinnen nicht lange genug verkündet, dass es Sünde ist, schwachen Göttern zu folgen? Wenn eine Göttin es zulässt, dass ihre Hohepriesterin stirbt und von einer Gauklerin ersetzt wird, wenn sie es zulässt, dass ihr Allerheiligstes von einer Horde Wilder entweiht wird, wie kann sie stark sein?« Der Mann hatte sich in Zorn geredet, seine dem Wein geschuldete Schwerfälligkeit war verschwunden. »Wir haben gekniet, weil wir die Macht eines Gottes in Torokaha gesehen haben. Wir haben gekniet, weil der innere Kreis uns Tag für Tag lehrt, uns stets auf die Seite der Mächtigen zu schlagen, komme, was wolle.«
»Ich muss los«, sagte Kaïkopura.
Als Kaïkopura die Sicherheit ihrer Tempelgemächer erreicht hatte, fiel sie in ihre Schlafstatt, und für drei Tage stand sie nur auf, um ihre Notdurft zu verrichten. Die Priesterinnen waren ratlos, von welcher Krankheit sie wohl befallen war. Selbst der Schamane, der von der Königin geschickt worden war, vermochte ihr nicht zu helfen.
Die Behauptungen des Trinkers waren haarsträubend genug – aber der selbstverständliche Ton, in dem er sie vorgetragen hatte, quälte Kaïkopura mehr als alles andere; wer so leichthin, so ohne Angst die Göttin schmähen konnte, dessen Seele war in einen Abgrund gefallen, der ohne Boden war. Und was, wenn es stimmte? Was, wenn Atua-Kore ihr Volk tatsächlich aufgegeben haben sollte? Und sie selbst – war sie tatsächlich eine Hochstaplerin? Ja, sie hatte nach Macht gestrebt – aber sie hatte es stets im Sinne der Göttin getan. Sei mehr als du selbst, hieß es in den Heiligen Schriften. Was hatte sie falsch gemacht, um so aus ihrem Leben geworfen zu werden? Hatte sie es verdient? Welche Schuld hatte sie auf sich geladen? Immer und immer wieder flehte sie die Goldene an, ihr einen Weg aus der Finsternis zu zeigen.
Am vierten Tag erhielt sie Antwort.
Ein Botentrupp aus den Nebelzinnen berichtete, dass die Ausgrabungen erfolgreich gewesen seien. Man habe eine gewaltige stählerne Platte gefunden.
Auf einen Schlag kehrten alle Kräfte in Kaïkopuras erschlafften Körper zurück. Kaum nahm sie sich die Zeit, ihre Robe übers Nachthemd zu werfen, bevor sie aus dem Tempel eilte.
Als sie den königlichen Palast erreichte, hatte die Königin ihre wichtigsten Beraterinnen bereits in der Schreibstube versammelt, auch der Schamane war anwesend.
»Ah, Eure Heiligkeit«, sagte die Königin, als Kaïkopura in den Raum platzte, »ich sehe, es geht Euch besser?«
»Wir müssen die Platte öffnen.«
»Ihr seid Euch sicher?« Torokaha zog die Augenbrauen hoch. »Sollten wir die Sache nicht etwas gründlicher durchdenken?«
»Die Platte verbirgt die Schlafkammer Alateons, ich bin mir sicher.«
»Wirklich?«
»Oder seinen Sarg, was sonst?«
»Wäre es dann nicht klüger, ihn geschlossen zu halten?«, warf der Schamane ein.
»In letzter Zeit kommt mir zu Ohren«, sagte eine ältliche Satrapa mit blaugefärbtem Haar, »dass die Besitzlosen an Atua-Kores Macht zu zweifeln beginnen.« Ihr Alter deutete darauf hin, dass sie die ranghöchste Beraterin war, eine neue Sprecherin war noch nicht gewählt worden. »Vielleicht ist es der falsche Moment, um einen schlafenden Gott zu wecken?«
»Im Gegenteil«, rief Kaïkopura, »dieser vermaledeite Alateon ist es, der die Finsternis schürt. Auch jetzt schon. Holen wir ihn aus seinem Grab, führen wir ihn vor, zeigen wir dem Volk, dass dieser dunkle Geist der Goldenen Göttin nicht gewachsen ist!« Bang und aufgekratzt sah sie in die Runde.
»Und wenn doch?«
Entsetzte Stille. Schutzzeichen. Alle Augen richteten sich auf den Schamanen; er war es, der gesprochen hatte. Im Gegensatz zu den schillernden, silberdurchwirkten Gewändern der Satrapanim trug er eine einfache, dunkelgrüne Robe – doch schon jetzt, nach den wenigen Tagen im Palast, war er den Hohen Häusern ein Dorn im Auge; es hieß, die Königin entschied nichts ohne seinen Rat.
»Wenn Atua-Kore uns verlassen hat«, sagte Kaïkopura langsam, »dann wird geschehen, was die Gefallene behauptet hat: Ranui wird brennen.« Sie schlug das Zeichen wider die vollkommene Finsternis. »Ganz gleich, ob wir den Götzen wecken oder nicht.«
Weitere Kapitel:
Jeden Morgen dankte Kaïkopura ihrer Göttin auf den Knien für das Leben, das sie führen durfte. Von ihren Priesterinnen wurde sie bewundert, von ihren Akolythinnen mit scheuer Ehrfurcht bedacht. Es war höchste Zeit gewesen, die Verkrustungen aufzubrechen, die sich unter der alten Hohepriesterin Amokapua gebildet hatten. Die neue Königin schien klüger als die alte, aber weniger hinterlistig als Sprecherin Sokai. Dass ihr Staatsstreich gelungen war, bewies die Sehnsucht der Stadt nach einem Ende der Machtkämpfe. Die Styrkur waren wieder davongerudert, nachdem Torokaha die Bäuche ihrer Schiffe mit Gold hatte füllen lassen. Eine Handelspartnerschaft war im Hohen Rat beschlossen worden, und niemand hatte dagegengestimmt. Dies war umso bemerkenswerter, da die Styrkur als Faustpfand die erstgeborenen Töchter der vierzehn wichtigsten Häuser verlangt und erhalten hatten. Gewiss, nach zwei Wintern sollten sie gegen die Töchter anderer Häuser ausgetauscht werden, aber Kaïkopura vermutete, dass es noch einen wichtigeren Grund für das Zugeständnis der Satrapanim gegeben hatte – jahrhundertelang hatten die Styrkur die Handelsketten an der Ostküste bedroht. Wenn sie jetzt Teil dieser Ketten werden würden, versprach das gewaltige Gewinne für jedes Hohe Haus, das bereit war, das Nötige zu tun.
Kaïkopura sollte es recht sein. Wenn die Satrapanim sich der Vermehrung ihres weltlichen Reichtums widmeten, würden sie ihr nicht bei der Vollendung ihrer eigenen Pläne in die Quere kommen. Im Gegensatz zu Amokapua hatte sie bemerkt, wie mit jedem Winter, der kam und ging, das Volk schwächer wurde in seinem Glauben. Der aufrichtigen Andacht waren Pflichtgefühl und Gewohnheit gewichen. Selbst die Großen Rituale waren zu bloßem Schauspiel verkommen. Zur Verabschiedung der Hohepriesterin im Licht waren Speisen und Getränke mitgebracht worden wie zu einem Sommerausflug. Nein, die Zustände waren nicht haltbar. Zu lange war Atua-Kore nur das Maskottchen des Hohen Rates gewesen, ein Werkzeug zur moralischen Überhöhung seiner Entscheidungen. Es war Zeit, Ranui zu zeigen, was es eigentlich bedeutete, das auserwählte Volk der Goldenen Göttin zu sein. Kaïkopura war bereit.
Der erste Schritt wäre, mehr Geld vom Hohen Rat zugestanden zu bekommen. Anschließend würde sie sich um die äußeren Ringe kümmern: Schreine errichten, ihre Priesterinnen zum Predigen ausschicken, Almosen verteilen, Gebetsschulen gründen. Es gab viel zu tun.
Allerdings war es entscheidend, dabei die eigenen Bedürfnisse nicht aus den Augen zu verlieren. Wer seinem Leib nicht gerecht wird, wird seiner Seele Leid zufügen, sagten die Heiligen Schriften.
Den ganzen Tag über hatte Kaïkopura für das Wohl des Volkes gebrütet. Nun erhob sie sich von ihrem Schreibtisch, streckte sich und rieb ihre überanstrengten Augen. Nachdem sie ihre Robe gegen das Kleid einer Besitzlosen getauscht hatte, verließ sie ihr Arbeitszimmer, ging zum nächsten Stiegenhaus und zum Ausgang der Pyramide. In befriedigender Ehrfurcht neigten die Gardisten ihre Häupter. Dass sie ihr Gewand gewechselt hatte, erzeugte keine Verblüffung, bereits als Hand Atua-Kores hatte sie es so gehalten, wenn sie den Tempel verließ – eine Sicherheitsmaßnahme, die seit Amokapuas Tod nur an Überzeugungskraft gewonnen hatte.
Das erste Tor war noch offen, das zweite jedoch nicht. Sie zeigte der Wache ihren Siegelring, ließ sich die für die Rückkehr nötige Losung geben und durfte passieren. Selbes Spiel am dritten Tor. Wie immer schlug ihr Herz höher, sobald sie den Ring der Besitzlosen betrat. Hier war das Leben roher, echter als irgendwo sonst.
Es war nicht so, dass die Genüsse, die der innere Kreis zu bieten hatte, Kaïkopura missfielen. Doch ab und an brauchte sie die Flucht aus ihrem Alltag, brauchte ein paar Stunden, in denen sie nicht Hohepriesterin war, in denen nicht jede Zofe, jeder Fleischwalker sie als den Mund Atua-Kore behandelte.
Das Gasthaus, das sie für die heutige Nacht als Ziel gewählt hatte, befand sich nah am Ufer des Korio; von den schlechten Gegenden des dritten Rings eine der schlechteren. Aber wenn nicht gerade eine Horde blutbeschmierter Styrkur in ihr Allerheiligstes stürmte, war Kaïkopura kein ängstlicher Mensch.
Als sie das Klopfzeichen gab, öffnete sich innerhalb eines Wimpernschlags die Tür. Nachdem sie der Hausherrin die bereitgehaltene Kupfermünze in die Hand gedrückt hatte, führte jene sie in den Kellerraum, der als der Schauplatz des nächtlichen Zeitvertreibs herhalten sollte. Weder der ranzige Teppichboden sah einladend aus noch die fleckigen Polster, die man an die Wände gelegt hatte. Die meisten Gäste waren bereits da, einige von ihnen erkannte Kaïkopura von früheren Veranstaltungen; man begrüßte sich flüchtig. Kaïkopura bekam Essig angeboten, der sich erfolglos als Wein zu verkleiden versucht hatte. Sie trank ihn trotzdem; wenn sie erlesenen Geschmack gesucht hätte, wäre sie im Kreis geblieben. Die anderen Anwesenden waren schwerlich schön zu nennen, oder auch nur gepflegt. Trugen Frisuren, die kaum den Namen verdienten. Kleine Kaufleute, Handwerksmeister, Geldwechslerinnen – die Bessergestellten des dritten Rings. Nein, Geschmack war es wahrlich nicht, was man hier finden konnte.
Ohne viel Federlesens entkleidete man sich. Kaïkopura hatte sich vorgenommen, den Abend zurückhaltend zu beginnen, doch schon nach der ersten Viertelstunde hatte sie alle guten Vorsätze vergessen. In den nächsten Stunden tat sie alles, wofür sie hergekommen war, und mehr.
Ihre Ausdauer suchte ihresgleichen, es war bereits weit nach Mitternacht, als sie langsam und wohlig die Gewissheit in sich aufsteigen spürte, auf ihre Kosten gekommen zu sein. Gerade rechtzeitig, denn sie war inzwischen allein mit ihrem letzten Gespielen, und auch der war nicht mehr zu viel zu gebrauchen. Ein dicker, bärtiger Mann mit dem Gesicht eines Trunkenbolds. Dieses Gesicht lag auf ihrem Bauch, sie hatten ihre Finger verschränkt. »Welche Schärpe trägst du?«
Seufzend ließ Kaïkopura seine Hand los und stützte sich auf die Ellenbogen. »Ich bin nicht zum Reden hier.«
»Natürlich nicht. Aber deine Finger ... sie sind so weich.«
Gut, das war wohl das Stichwort zu verschwinden.
»Du bist nicht aus dem dritten Ring, oder? Arbeitest du bei einer der Gilden?«
Kaïkopura setzte sich auf, so dass der Mann den Kopf wegnehmen musste. Unverhofft entdeckte sie einen Weinkrug in Reichweite. Schmeckte immer noch nach Essig. Schon oft hatte sie sich vorgenommen, weniger zu trinken, die Kopfschmerzen hielten sie vom Arbeiten ab.
»Oder nein – dienst du etwa in einem der Hohen Häuser?«
»Sei still und nimm.« Sie reichte ihm den Krug und machte sich daran, ihre Beine unter seinem massigen Körper hervorzuziehen.
»Ah, ich hab’s, du bist die Kammerfrau einer Satrapa, richtig? Das erklärt es.«
»Erklärt was?«
»Na, die zarten Hände, die glatten Haare. Die Wörter.«
Endlich hatte Kaïkopura sich befreit, sah sich nach ihrem Gewand um. »Wörter?«
»Na, du redest, als wären wir im Hohen Rat.«
Inzwischen hatte sie ihr Kleid gefunden, sie stülpte es über den Kopf. »Wie reden die dort denn?«
»Ich war da ja noch nie«, grinste der Mann. »Aber in meiner Vorstellung so wie du.« Mit verstellter Stimme machte er sie nach: »Zügle dich, es ist noch Zeit. Geduld veredelt den Genuss.« Sein Spiel war gar nicht schlecht, Kaïkopura musste lachen.
»Bis zum nächsten Mal«, verabschiedete sie sich.
»Selbstredend. Aber wenn ich dir einen Rat geben darf«, auf allen vieren kroch er zu seinen Stiefeln, »hau ab, bevor es zu spät ist.«
Verwundert blieb Kaïkopura stehen. »Was meinst du?«
»Die Hohen Häuser werden fallen, das musst du doch am besten wissen.« Zwar hatte er seine Stiefel erreicht, doch bemerkte er jetzt, dass ihm seine Hose noch fehlte. Forschend sah er sich um. »Ich meine, wenn du wirklich bei denen arbeitest. Verrückt, wenn ich nicht so besoffen wäre, müsstest du mir davon erzählen. Mensch, ich wette, im inneren Kreis geht es ganz schön ab.«
»Was meinst du damit: Die Häuser würden fallen?«
»Die Zeichen sind doch offensichtlich. Seit Haikas Tod macht jede Satrapa, was sie will. Mit dem Großen Ritual ging es los. Dann, beim Frühlingsgebet, als die Hohepriesterin auf den Altarstufen zusammengebrochen ist. Der Richter, der sich geweigert hat, das Urteil an der Prophetin zu vollziehen. Die Styrkur ...«
»Halt«, unterbrach ihn Kaïkopura, »hast du die Gefallene gerade eine Prophetin genannt?«
»Sie hat es selbst gesagt.«
»Ja, aber das heißt doch nicht ...«
»Wie könnte sie keine sein? Nicht nur, dass der Richter vor ihr auf die Knie gefallen ist. Wusstest du, dass der Geist ihrer toten Schwester in der Menge gewesen sein soll?«
»Ich glaube nicht, dass ...«
»Im Hohen Rat soll sie mit Feuer und Tod gedroht haben, wenn ihre Worte missachtet werden. Und was passiert? Ein paar Tage später stirbt die Hohepriesterin. Ein Wahnsinn befällt Honigpüppchen ...«
»Honig... wen?«
»Königin Hua – du bist echt nicht oft im dritten Ring, oder? Jedenfalls kreuzigt Honigpüppchen Satrapanim und Besitzlose gleichermaßen und faselt was von Verschwörung – als ob Satrapanim und Besitzlose je gemeinsame Sache machen würden. Und dann? Kommt die wiederauferstandene Schwester der Prophetin zurück nach Ranui – dieselbe, deren Geist die Hinrichtung miterlebt hat –, und mit einer Handvoll Styrkur brennt sie die Anwesen der Satrapanim ab und besetzt den Tempel. Und das ist nur ein Vorgeschmack dessen, was Alateon mit den Hohen Häusern vorhat.«
»Königin Torokaha wurde von Atua-Kore erwählt. Und das ganze Volk ist vor der Entscheidung der Goldenen Göttin auf die Knie gegangen.«
Der Mann lachte schallend. »Erzählen dir das die feinen Damen, denen du dienst? Ich sage dir, Atua-Kore hat uns schon längst den Rücken gekehrt.«
»Wie kannst du das sagen.« Erschauernd schlug Kaïkopura das Zeichen wider die leibhaftige Versuchung. »Warst du dabei? Hast du nicht die Hohepriesterin gesehen?«
»Du meinst Kaïkopura, diese Bucklerin? Verkündet eine neue Erwählte der Göttin, während Hua nebendran steht. Haben sich die heiligen Riten geändert? Oder war da nicht doch eher eine Hochstaplerin am Werk, die ihre Haut retten will?«
»Das Volk hat gekniet«, beharrte Kaïkopura, in ihren Schläfen pochte der Wein.
»Das Volk? Zählst du dich nicht dazu? Warst du schon so lange im Kreis, dass du glaubst, selbst ’ne feine Dame zu sein? Hübsche, ich muss dich enttäuschen, wir werden nie dazugehören, auch du nicht ... und dass wir auf die Knie gegangen sind – haben Atua-Kores Priesterinnen nicht lange genug verkündet, dass es Sünde ist, schwachen Göttern zu folgen? Wenn eine Göttin es zulässt, dass ihre Hohepriesterin stirbt und von einer Gauklerin ersetzt wird, wenn sie es zulässt, dass ihr Allerheiligstes von einer Horde Wilder entweiht wird, wie kann sie stark sein?« Der Mann hatte sich in Zorn geredet, seine dem Wein geschuldete Schwerfälligkeit war verschwunden. »Wir haben gekniet, weil wir die Macht eines Gottes in Torokaha gesehen haben. Wir haben gekniet, weil der innere Kreis uns Tag für Tag lehrt, uns stets auf die Seite der Mächtigen zu schlagen, komme, was wolle.«
»Ich muss los«, sagte Kaïkopura.
Als Kaïkopura die Sicherheit ihrer Tempelgemächer erreicht hatte, fiel sie in ihre Schlafstatt, und für drei Tage stand sie nur auf, um ihre Notdurft zu verrichten. Die Priesterinnen waren ratlos, von welcher Krankheit sie wohl befallen war. Selbst der Schamane, der von der Königin geschickt worden war, vermochte ihr nicht zu helfen.
Die Behauptungen des Trinkers waren haarsträubend genug – aber der selbstverständliche Ton, in dem er sie vorgetragen hatte, quälte Kaïkopura mehr als alles andere; wer so leichthin, so ohne Angst die Göttin schmähen konnte, dessen Seele war in einen Abgrund gefallen, der ohne Boden war. Und was, wenn es stimmte? Was, wenn Atua-Kore ihr Volk tatsächlich aufgegeben haben sollte? Und sie selbst – war sie tatsächlich eine Hochstaplerin? Ja, sie hatte nach Macht gestrebt – aber sie hatte es stets im Sinne der Göttin getan. Sei mehr als du selbst, hieß es in den Heiligen Schriften. Was hatte sie falsch gemacht, um so aus ihrem Leben geworfen zu werden? Hatte sie es verdient? Welche Schuld hatte sie auf sich geladen? Immer und immer wieder flehte sie die Goldene an, ihr einen Weg aus der Finsternis zu zeigen.
Am vierten Tag erhielt sie Antwort.
Ein Botentrupp aus den Nebelzinnen berichtete, dass die Ausgrabungen erfolgreich gewesen seien. Man habe eine gewaltige stählerne Platte gefunden.
Auf einen Schlag kehrten alle Kräfte in Kaïkopuras erschlafften Körper zurück. Kaum nahm sie sich die Zeit, ihre Robe übers Nachthemd zu werfen, bevor sie aus dem Tempel eilte.
Als sie den königlichen Palast erreichte, hatte die Königin ihre wichtigsten Beraterinnen bereits in der Schreibstube versammelt, auch der Schamane war anwesend.
»Ah, Eure Heiligkeit«, sagte die Königin, als Kaïkopura in den Raum platzte, »ich sehe, es geht Euch besser?«
»Wir müssen die Platte öffnen.«
»Ihr seid Euch sicher?« Torokaha zog die Augenbrauen hoch. »Sollten wir die Sache nicht etwas gründlicher durchdenken?«
»Die Platte verbirgt die Schlafkammer Alateons, ich bin mir sicher.«
»Wirklich?«
»Oder seinen Sarg, was sonst?«
»Wäre es dann nicht klüger, ihn geschlossen zu halten?«, warf der Schamane ein.
»In letzter Zeit kommt mir zu Ohren«, sagte eine ältliche Satrapa mit blaugefärbtem Haar, »dass die Besitzlosen an Atua-Kores Macht zu zweifeln beginnen.« Ihr Alter deutete darauf hin, dass sie die ranghöchste Beraterin war, eine neue Sprecherin war noch nicht gewählt worden. »Vielleicht ist es der falsche Moment, um einen schlafenden Gott zu wecken?«
»Im Gegenteil«, rief Kaïkopura, »dieser vermaledeite Alateon ist es, der die Finsternis schürt. Auch jetzt schon. Holen wir ihn aus seinem Grab, führen wir ihn vor, zeigen wir dem Volk, dass dieser dunkle Geist der Goldenen Göttin nicht gewachsen ist!« Bang und aufgekratzt sah sie in die Runde.
»Und wenn doch?«
Entsetzte Stille. Schutzzeichen. Alle Augen richteten sich auf den Schamanen; er war es, der gesprochen hatte. Im Gegensatz zu den schillernden, silberdurchwirkten Gewändern der Satrapanim trug er eine einfache, dunkelgrüne Robe – doch schon jetzt, nach den wenigen Tagen im Palast, war er den Hohen Häusern ein Dorn im Auge; es hieß, die Königin entschied nichts ohne seinen Rat.
»Wenn Atua-Kore uns verlassen hat«, sagte Kaïkopura langsam, »dann wird geschehen, was die Gefallene behauptet hat: Ranui wird brennen.« Sie schlug das Zeichen wider die vollkommene Finsternis. »Ganz gleich, ob wir den Götzen wecken oder nicht.«