33. Kapitel

Indem sie sich im Tempel verschanzt hatten, hatten sie die Nacht überstanden. Sie hatten Hua in die Hände bekommen; sie hatten Kaïkopura dazu gebracht, Torokaha als Erwählte der Göttin zu bezeichnen. Und vor allen Dingen hatten die Feuer im inneren Kreis sich nicht auf die Ringe ausgebreitet – eine Stadt in Flammen wäre alles andere als hilfreich gewesen.

Und so unwahrscheinlich all diese Erfolge auch waren – die größte Herausforderung stand Torokaha noch bevor: Sie musste die Satrapanim überzeugen, sie als Königin anzuerkennen. Und es musste vor dem Volk geschehen, nur so würde sie eine gewisse Sicherheit erlangen, dass die Hohen Häuser ihr nicht bei der ersten Gelegenheit in den Rücken fallen würden.

Mit dem Morgengrauen machte Torokaha sich daran, diesen schwierigsten Teil ihres Plans umzusetzen. Begleitet von zwei Kriegern betrat sie das Allerheiligste, wo die Styrkur Hua und Kaïkopura über Nacht gefangen gehalten hatten. Die Hohepriesterin schlief, doch Hua saß in derselben Haltung an der Wand, in der Torokaha sie verlassen hatte, mit angezogenen Beinen und umschlungenen Knien. Als sie den Besuch sah, zuckte sie so heftig, dass Kaïkopura neben ihr erwachte.

»Was willst du?«, rief Hua, ihre Stimme zu schrill für den heiligen Raum. »Wirst du mich töten?«

»Ich will mit dir reden«, sagte Torokaha. Sie hatte sich aus der Tempelküche Kuchen bringen lassen, bot ihn an. Zögerlich griff Kaïkopura danach, Hua hingegen rührte sich nicht. »Du willst mich vergiften.«

Torokaha verzog das Gesicht. »Wozu der Aufwand? Schwert, Gift, ein unglücklicher Sturz – egal wie, dein Tod würde immer auf mich zurückfallen.«

»Hexe«, murmelte Hua. »Styrkurbraut.«

»Versuchst du, mich zu beleidigen?« Sie wies mit dem Kinn auf ihre bewaffnete Begleitung. »Denk daran, was es Sokai gebracht hat.«
»So oder so«, presste Hua hervor, »werde ich bald ihr Schicksal teilen.«
»Nein«, widersprach Torokaha geduldig, kniete sich vor ihre ehemalige Gegnerin. »Du hast mich verschont, als du den Goldenen Thron bestiegen hast. Und ich bin geneigt, dasselbe zu tun.«

Ein Funken Hoffnung in Huas geröteten Augen. »Was verlangst du von mir?«

»Zeige dich auf der Plattform, ruf das Volk zusammen. Am Mittag soll Kaïkopura verkünden, dass Atua-Kore mich zur Königin bestimmt hat.«

»Und ich soll vor dir auf die Knie gehen?«

Torokaha nickte.

»Und dafür verschonst du mein Leben?«

»Ich schwöre es beim Licht der goldenen Göttin.«

 

Die Stunden bis zum Mittag verbrachte Torokaha in fiebriger Unruhe. Hua hatte das Volk zusammengerufen – aber würde es kommen?

Die Satrapanim hatten das Heer aus dem zweiten Ring geholt und den Tempel umstellen lassen. Außerhalb der Rituale hatte in der tausendjährigen Geschichte Ranuis noch nie der Fuß eines Heeressoldaten den inneren Kreis betreten. Auch, was von der Tempelgarde übrig war, stand bereit. Mehrmals in der Nacht hatte die Garde versucht, die Pyramide zu stürmen. In den beengten Verhältnissen und die Stufen hinauf war es ein verlustreiches Unterfangen gewesen – und sobald die Styrkur herausgefunden hatten, wie die Torsteine zu verankern waren, ein aussichtsloses.

Die Palastwache unterdessen war, soweit Torokaha es mitbekommen hatte, damit beschäftigt gewesen, diejenigen Styrkur zu ihren Schiffen zurückzudrängen, die nicht durch die Tunnel angegriffen hatten. Der vorgebliche Angriff in aller Offenheit sowie das Legen der Feuer waren Matturs Ideen gewesen. Torokaha wäre direkt durch die Tunnel in den Palast eingedrungen – was allerdings erfordert hätte, der Hohepriesterin auf andere Weise habhaft zu werden.

Inzwischen warteten Kohatus Truppen mit den anderen am Fuße des Tempels, offensichtlich klarer Ansagen beraubt. Womöglich wussten sie noch immer nicht, wo ihre Hauptfrau abgeblieben war.

Endlich war die Stunde der Wahrheit erreicht. Gemeinsam mit Mattur stand Torokaha im Gang am Rande der Plattform und beobachtete, wie Hua und Kaïkopura herangeführt wurden. Kaïkopura trug ihre Prunkrobe, Hua das Hemd einer Büßerin. Torokaha selbst hatte sich dafür entschieden, das Kleid einer Priesterin zu tragen. Dies war kein Frevel, als Kind Atua-Kores galt sie als dreifach geweiht.

Von draußen rauschte die Menge. Torokaha knetete ihre Hände. Das Volk war gekommen. Nun würde sich zeigen, ob ihr Plan aufgehen würde. Sie warf einen letzten Blick auf Mattur. Der König der Styrkur war damit beschäftigt, Essensreste aus seinem Bart zu zupfen.

Torokaha nickte Kaïkopuras Wachen zu, diese ließen von ihrer Gefangenen ab, und die Hohepriesterin betrat alleine, mit würdigem Schritt die Plattform der Verkündigung.

»Satrapanim, Ehrbare, Besitzlose, sechs Monde ist es her, dass Atua-Kore eine Königin erwählt hat. Doch als Amokapua, Hohepriesterin im Licht, damals die Münzen warf, missglückte ihr das Deuten der Zeichen. So hat uns Atua-Kore in ihrer Weisheit daran erinnert, wie es in den Heiligen Schriften festgehalten ist: Seid niemals stolz auf Eure Frömmigkeit – denn niemand lebt ein ganzes Leben, ohne dass ihn je die Finsternis berührt.« Sie wies hinter sich. »Torokaha, Tochter der Haika, tritt vor.«

Ein letztes Mal atmete Torokaha tief durch, dann betrat sie die Plattform. Wie eine schäumende Welle lief das Raunen über den Platz der Offenbarung.

 Ja, das Volk war gekommen, bis zum ersten Ring füllte es den Platz. Vor acht Monden, als Mahuika sie hätte opfern sollen, waren es nicht mehr Köpfe gewesen. Wie viel hatte sich seitdem geändert. »Knie nieder, Kind«, sagte Kaïkopura, und Torokaha tat es.

»Hohepriesterin«, erscholl da von unten ein Ruf. In der vordersten Reihe fehlten diesmal die Trommler, stattdessen hatte das Heer mit blanken Waffen Stellung bezogen. Und direkt dahinter, umringt von ihren Leibwachen, standen die Satrapanim. Offensichtlich hatte die Zeit nicht gereicht, eine angemessene Tribüne zu errichten. Eine Ratsherrin hielt ein Sprechrohr in der Hand; »Hohepriesterin«, rief sie erneut, »wenn der Mund Atua-Kores sich einmal getäuscht hat«, sie schwenkte das Sprechrohr so, dass auch das Volk sie hören konnte, »wie können wir sicher sein, dass er sich nicht wieder täuscht?«

Schimmliger Wurmkot, dachte Torokaha, als sie die Sprecherin erkannte; niemand anderes als Alandra Laki war es, ihre vermaledeite Großtante. Das Sprechrohr mochte nur einen Bruchteil so weit tragen wie die Trichter der Herolde, aber die kleinste Unruhe konnte das ganze Ritual in Gefahr bringen. »Beeil dich«, zischte Torokaha der Hohepriesterin zu.

»Bist du bereit«, wiederholte die Hohepriesterin, »Tiratanga zu dienen?«

»Ja«, erwiderte Torokaha, »weil es meine Pflicht ist.«

»Erhebe dich, Erwählte der Göttin.«

»Es ist üblich«, plärrte unten Alandra, »dass der Hohe Rat eine künftige Königin vorschlägt. Dies wurde missachtet. Wilde haben den Tempel gestürmt, haben unser wichtigstes Heiligtum entweiht. Wer weiß, was sie der Hohepriesterin angetan haben, um sie zu diesem schändlichen Schauspiel zu zwingen ...«

»Hua«, rief Torokaha, »Tochter der Rauriki, tritt vor.« Solange die Trichter dröhnten, schluckten sie Alandras Geschwafel.

Barfuß, in ihrem weißen Büßerhemd trat Hua auf die Plattform. Torokaha hatte die Styrkur angewiesen, sich zurückzuhalten. Das Volk musste glauben können, dass die Zeremonie nicht von außen beeinflusst war. Doch jetzt, da Hua zu ihr an den Rand der Plattform trat, wurde Torokahas Magen flau. Ein einziger schneller Stoß würde genügen, und Hua hätte sich ihrer Widersacherin entledigt. »Knie nieder, Kind.«

Als Hua tatsächlich vor ihr in die Knie ging, löste sich ein Teil ihrer Anspannung. Sie würde nicht am Fuß der Pyramide zerschellen. Doch schon plärrte wieder ihre Großtante: »Sie demütigt unsere Königin ...«

»Bist du bereit, deiner Königin zu folgen, in Licht und Finsternis?«

Unten begannen andere Satrapanim, in Alandras Gezeter einzustimmen.

»Ja«, entgegnete Hua, und die Herolde trugen es klar über den Platz, »weil es meine Pflicht ist.«

Rufe der Empörung, weitere Sprechrohre wurden hervorgeholt, ein abgekartetes Spiel. Die Satrapanim wandten sich nun direkt an die Besitzlosen, wiegelten sie auf. Fassungslos beobachtete Torokaha, wie ihr die Lage entglitt. »Erhebe dich, Satrapa«, sagte sie die angemessene Formel, doch auf dem Platz der Offenbarung sah niemand mehr zu ihr hoch. Selbst die Soldaten, die den Tempel belagerten, drehten sich zu der wogenden Menge um. Erste Handgreiflichkeiten waren zu entdecken. Fieberhaft dachte Torokaha nach; was könnte sie tun? Ihr Blick traf den Kaïkopuras, auch dort nur Ratlosigkeit. Wenn das Volk sie nicht annahm, wäre dies das Ende. Auch fliehen wäre unmöglich, die Stadtwache würde die Tunnel längst gesichert haben. Torokaha sah nach Mattur, sein Dolmetscher stand neben ihm. Die grimmigen Mienen offenbarten, dass sie genug verstanden hatten, um zu wissen, dass eine wütende Menschenmasse nicht Teil des Plans gewesen war. Als Torokaha sich wieder dem Platz zuwandte, sah sie eine neue Entwicklung; einige der Besitzlosen hatten sich niedergekniet. Erst einzelne, dann mehr. Auch die Satrapanim bemerkten es, das Kreischen ihrer Sprechrohre bekam erst eine zornige, dann verzweifelte Note. In Massen fiel das Volk jetzt auf die Knie.

»Was geschieht?«, fragte Torokaha die Hohepriesterin. Auch manche derjenigen Satrapanim, die nicht zum Aufstand angestachelt hatten, knieten sich jetzt hin.

»Ich denke«, sagte Kaïkopura, »sie sehen Euch als ihre Königin.«

»Warum? Wie?«

»Ich habe mir wohl einige Feinde gemacht«, murmelte Hua.

Der ganze Platz war inzwischen auf den Knien, außer den Bewaffneten standen nur noch vereinzelte Satrapanim. Die Sprechrohre waren verstummt.

In Staunen sah Torokaha, was sie nicht mehr für möglich gehalten hatte: Ranui gehörte ihr.