31. Kapitel

Der Schlag traf sie so hart, dass Kohatu schwarz vor Augen wurde. Sie taumelte zurück, kämpfte um ihr Gleichgewicht.

»Meine Hauptfrau«, rief bestürzt die Soldatin, von der sie getroffen worden war. »Verzeiht, ein Missgeschick, verzeiht.«

Langsam fand Kohatu zu ihren Sinnen zurück. »Schon gut«, winkte sie ab. »Es war meine Schuld.« Sie betastete ihr Jochbein, es begann bereits zu schwellen. »Wiederholt die Übungen, die ich euch gezeigt habe«, wies sie die versammelten Offizierinnen an. Ohne sich noch nach ihnen umzusehen, stolperte sie vom Hof der Palastwache. Betäubt von Scham und Schmerz, erreichte sie ihr eigenes Gemach; ließ sich Wasser bringen, um ihr Gesicht zu kühlen.

Drei Monde lag der Tag des Urteils zurück, aber der Druck in Kohatus Brust nahm nur zu. Nacht für Nacht fuhr sie aus dem Schlaf, das Bild der zuckenden Pehu vor Augen, die klaffende Wunde im Hals, die sich ausbreitende Blutlache; die überstürzten Hiebe des Richters, das Werk doch noch zu vollenden. Pehu, hatte die Königin gesagt, habe die Goldene verraten. Doch wenn selbst Pehu der Finsternis anheimfallen konnte – wer konnte dann noch bestehen?

Sie achtete auf ihren Atem, atmete in den vorgeschriebenen Abständen ein und aus, aber diesmal half die vielfach erprobte Technik nichts. In ihrem Kopf schrien tausend Vögel durcheinander. Ihr Geist verlor an Schärfe, und zwar zu einem Zeitpunkt, zu dem die Königin – ihre, Kohatus, Schutzbefohlene – in höchster Gefahr schwebte. Seit der Besteuerung des Zugangs zum Markt hatte man die Wachen am dritten Tor verdoppeln müssen, sooft bereitete das Volk dort inzwischen Scherereien. Die fünftausend Arbeiter, die Hua in die Nebelzinnen geschickt hatte, fehlten in Ranui. Und zugleich wurden die Fragen immer lauter, warum man einen solchen Aufwand betrieb, wenn es sich doch nur um einen unbedeutenden Bergriesen handeln sollte. Auch Kohatu wusste keine Antwort darauf. Aber sie wusste, dass der Zorn der Besitzlosen irgendwann auf die Hohen Häuser übergreifen würde. Natürlich gab es den Rat, um Uneinigkeiten zu klären – doch Ranuis Geschichte bot eine reiche Sammlung an Geschichten, in denen unzufriedene Satrapanim darauf verzichteten, ihre Missbilligung der königlichen Entscheidungen öffentlich zu äußern, um sie stattdessen auf blutigere Weise kundzutun.

Schlimmer als der Tod Pehus lastete der Mord an Mahuika auf Kohatus Schultern. Nur Richter hatten die Befugnis, Wehrlose zu töten. Hua hätte ihr niemals befehlen dürfen, das Richtschwert zu ergreifen, es war nicht im Sinne Atua-Kores. Doch wie hätte sie vor dem gesamten Volk Ranuis ihre Stirn gegen die Königin senken sollen? Es wäre die Aufgabe der Hohepriesterin gewesen, für Kohatu einzustehen, doch diese hatte geschwiegen. Und dann Torokaha in der Menge. Die Unglückselige hatte um das Leben ihrer gefallenen Schwester gefleht. Und hätte damit fast sich selbst zerstört. Um sie zu retten, hatte Kohatu nichts anderes tun können, als ihr Geschrei so rasch wie möglich ins Leere laufen zu lassen. Sie machte sich nichts vor – in dem Versuch, ihren Schwur zu halten, hatte sie Torokahas Gunst für immer verloren. Wer wusste, ob sie überhaupt noch am Leben war?

Eine Entscheidung hatte in Kohatu geschwärt, und die Unaufmerksamkeit soeben auf dem Kampfplatz reichte aus, um den Ausschlag zu geben. So wie sie Torokaha nicht hatte genügen können, würde sie früher oder später Königin Hua enttäuschen. Es gab nur einen Weg: Sie würde die Königin bitten müssen, sie von ihrem Eid zu entbinden.

»Hauptfrau?«

»Was gibt es?«

»Eine Junge will Euch sprechen. Er sagt, es ist dringend.«

»Wer?«

»Das wollte er nicht sagen. Er steht am dritten Tor.«

»Er soll sich an die diensthabende Offizierin wenden.«

»Er behauptet, er spricht mit Euch oder mit niemandem.«

»Dann in die Finsternis mit ihm.«

»Er sagt, Ihr hättet ihm das Leben gerettet. Nun will er sich erkenntlich zeigen.«

»Wann soll das gewesen sein?«

»Vor ein paar Monden. Er sagt, Ihr hattet eine Orange dabei.«

 

Eine halbe Stunde später war Kohatu am dritten Tor. Es war tatsächlich der Junge, der von den Schlachtergesellen verprügelt worden war. Als er seine Geschichte erzählt hatte, führte sie ihn geradewegs zum Palast der Königin. Mit großen Augen stand er im Vorraum des Empfangszimmers. Kohatu erinnerte sich daran, wie sie selbst zum ersten Mal den inneren Kreis betreten hatte, noch jünger war sie damals gewesen als der Knabe jetzt.

Gerade, als sie eingelassen wurden, trat Sokai durch eine Nebentür. Die Königin saß bereits auf ihrem Sofa. »Was ist so dringend, Hauptfrau?«, fragte sie übellaunig, »dass du mich beim Baden störst?«

»Dieser Junge«, sie legte ihm eine Hand zwischen die Schulterblätter und schob ihn der Königin entgegen, »ist ein Besitzloser aus dem dritten Ring.«

»Das rieche ich.«

»Los, Knabe, erzähl ihrer königlichen Hoheit, was du mir erzählt hast.«

Der Junge zitterte vor Aufregung, mit dünner Stimme kam er der Anweisung nach. Eine Gruppe Besitzloser habe sich mit einigen wichtigen Mitgliedern der Gildenhäuser zusammengetan und plane die Besetzung der Kornkammern im zweiten Ring. Der Plan sehe vor, solange auszuharren, bis die Besteuerung des dritten Tors zurückgenommen werde. Wenn die Stadtwache versuche, die Kornkammern zu stürmen, wollten die Verschwörer Feuer legen.

Es war eine Drohung, die bereits Kohatu den Atem verschlagen hatte, und auch die Königin wurde bleich. Die letzte Ernte war nicht gut gewesen, ein Brand in den Kornkammern würde eine Hungersnot bedeuten. Und Hunger bedeutete Blut in den Kanälen, auch davon legte die Geschichte Ranuis reiches Zeugnis ab.

Es überraschte Kohatu nicht, dass es Sokai war, die als Erste das Wort ergriff. »Wer?«, fragte sie.

Der Junge zählte eine Reihe von Namen auf, Sokai notierte sie auf einem Papier. Anschließend sagte sie: »Kohatu, gib ihm zwei Silber und bring ihn in den dritten Ring zurück.« Sie reichte Kohatu eine entsprechende Vollmacht für die Kämmerin. »Danach komm zurück zu uns.«

Zwei Silber waren mehr, als viele Besitzlose in einem Jahr verdienten. Kohatu bat die Kämmerin, dem Jungen den Gegenwert in Kupferstücken auszuzahlen. Niemand würde ihm glauben, ein Silberstück auf ehrliche Weise erworben zu haben. Wahrscheinlich hatte Sokai die hohe Summe sogar bewusst gewählt, um sich des Jungen zu entledigen, ohne sich selbst die Finger schmutzig zu machen. Sinnvoller allerdings wäre es gewesen – zumindest nach Kohatus nichtiger Meinung –, sich ihn für künftige Herausforderungen warmzuhalten.

Als sie den Palast verließen, fragte sie ihn, wie er sie gefunden habe.

»Am Tag des Urteils stand ich in der ersten Reihe, Herrin. Als Ihr Euren Helm abgenommen habt, um die Gefallene zu richten, habe ich Euch wiedererkannt.«

Schweigend führte Kohatu ihn den Rest des Weges bis zum dritten Tor. Eine Sache jedoch nagte an ihr. Bevor sie ihn verabschiedete, sagte sie: »Warum hast du das getan? Die anderen verraten? Du wohnst im dritten Ring – sie kämpfen auch für dich.«

»Niemand tut das. Ihr selbst habt mich gewarnt: Im dritten Ring kämpft jeder nur für sich allein.«

 

Der Junge hatte behauptet, der Anschlag solle bereits im Grauen des nächsten Morgens beginnen; es sei vorgesehen, die beteiligten Besitzlosen am Vorabend ins Haus des Mehls zu schmuggeln, um sie dort die Nacht verbringen zu lassen.

Am späten Abend umringten zweihundert Stadtwachen das Haus des Mehls, drangen gleichzeitig durch die fünf verschiedenen Zugänge und nahmen vierunddreißig Verschwörerinnen und Verschwörer fest. Zur selben Zeit stürmten weitere hundertfünfzig Wachen drei Gildenhäuser, eine Kürschnerei, ein Badehaus und eine Rüstschmiede. Dies geschah im ersten, zweiten und dritten Ring. Im inneren Kreis hatten sich unter Kohatus Führung acht Banner der Palastwache auf acht Hohe Häuser verteilt; vom Dach des Palastes aus entzündete Kohatu die Fackel, die den Angriff befahl, und innerhalb weniger Minuten waren alle acht Satrapanim und zwei Dutzend ihrer Angehörigen in Gewahrsam genommen.

 

Als am Morgen Atua-Kore ihr Auge öffnete, sah sie die Hauptstraße Ranuis vom Platz der Offenbarung bis zum äußersten Tor mit Kreuzen gesäumt. Viele derer, die dort hingen, lebten noch, und ein schauerliches Wimmeren hallte durch alle Ringe der Stadt. Zum ersten Mal, seit Kohatu denken konnte, standen Satrapanim, Ehrbare und Besitzlose ohne Regel beieinander auf den Straßen, vom selben Grauen vereint.

Zu Pferd ritt Kohatu an den Kreuzen vorbei. Es war Vorschrift, dass die Palastwache die inneren Ringe nur beritten verließ. Für Kohatu bedeutete es, dass sie auf Augenhöhe mit den Sterbenden war. Sie wusste, dass es sie zerstören würde, und dennoch sah sie jeden Einzelnen an; sie konnte nicht, durfte nicht wegsehen.

Ihre Schicht war zu Ende. Im ersten Ring gab sie ihr Ross ab, ging zu Fuß zum Palast. An den Kreuzen im inneren Kreis starben die verräterischen Satrapanim und ihre Familien. Verräterinnen? Keiner ihrer Namen war über die Lippen des Jungen gekommen, und trotzdem hatten ihre Namen auf der Liste gestanden, die Sokai ihr am Abend gereicht hatte. Nicht nur um die Namen der Satrapanim, um viele andere hatte sich die Liste verlängert. Sie habe ihre eigenen Quellen, hatte Sokai gesagt, und die Königin hatte genickt.

Mit schweren Beinen, gerädert von der schlaflosen Nacht, stieg Kohatu die Stufen hoch ins Empfangszimmer der Erwählten Atua-Kores. Mit wächsernem Gesicht saß die Königin vor einem unberührten Frühstück. Am Schreibtisch saß Sokai und zeichnete Schriftstücke gegen.

»Meine Königin«, sagte Kohatu, »ich habe getan, was Ihr wolltet.«

»Und hast mir gute Dienste erwiesen.«

Kohatus Augen brannten von der durchwachten Nacht. »Ich habe eine Bitte.« Ihre Stimme klang heiser.

»Was immer du möchtest.«

»Ich sehe mich nicht mehr fähig, die Palastwache zu führen.«

»Wovon redest du? Du bist die treuste Hauptfrau, die man sich nur wünschen kann.«

»Ich bitte Euch, entbindet mich von meinem Schwur.«

Für einen Augenblick war nichts zu hören als das Kratzen von Sokais Federkiel. Dann erstarb auch das.

»Warum?«, fragte die Königin schließlich. Sie sah so jung aus, so unschuldig; ein verängstigtes Kind in den Kleidern einer Erwachsenen. Auf einmal hatte Kohatu das Gefühl, sie im Stich zu lassen. Sie aufzugeben, während die Kiefer einer Löwin sich um sie schlossen.

»Ich wurde zum Kampf ausgebildet«, bekannte Kohatu, jedes Wort kostete sie Kraft, »aber das Töten Wehrloser ...«

»Sie hatten es nicht anders verdient.«

»Ja, mag sein, aber trotzdem, ich kann nicht mehr ...«

Die Königin starrte auf ihr unangetastetes Frühstück.

Jeden Muskel in Kohatus Körper hatte die Erschöpfung in Besitz genommen, bis in die Zehen und Fingerspitzen hatte sie sich ausgebreitet. Gegen das Jochbein, das ihre Offizierin am Vortag verletzt hatte, pulste das Blut. »Bitte, gebt mich frei.«

Endlich löste sich die Königin aus ihrer Starre, drehte sich nach Sokai um. Diese schüttelte stumm den Kopf.

Hua wandte sich wieder Kohatu zu. »Nein«, sagte sie, »ich kann dich nicht gehen lassen.«

»Bitte.«

»Ich brauche dich.«