18. Kapitel
Die Münze fiel, landete klimpernd in der silbernen Schale, sprang zweimal auf, prallte gegen den Schalenrand, hüpfte ein weiteres Mal und blieb schließlich auf dem Zeichen der Morgenröte liegen.
Erleichtert atmete Amokapua aus. Seit zwei Stunden kniete sie im Tempel Atua-Kores und versuchte, den Willen ihrer Herrin zu deuten. Der polierte Boden des Allerheiligsten drückte ihr schmerzhaft gegen die Knie. Aber solange die Münzen nicht deutlich zu lesen waren, konnte die Hohepriesterin den Wurf nicht beenden. Erst das Kalb, dann der Zorn, und direkt danach auch noch die Spitzhacke. Der Dienst an der Göttin war nicht leicht. Jetzt aber die Morgenröte. Bitte, Herrin, betete Amokapua stumm, während sie sich von einer Akolythin die nächste Münze reichen ließ. Sie sprach die magischen Worte, drückte die Münze an ihre Lippen und warf sie in die Schale. Ohne ein einziges Mal zu hüpfen, blieb sie liegen. Auf der Birke. Amokapua stöhnte auf.
»Ist Euch nicht wohl, Eure Heiligkeit?«, fragte die Akolythin.
Verärgert winkte Amokapua ab. Es war schlimm genug, dass das Ziehen in ihren Gelenken sie ungeduldig machte. Aber dass sie ihre Ungeduld nicht einmal mehr vor ihren Akolythinnen verbergen konnte, war bitter. Vor allen Dingen war die Birke überhaupt nicht so schlimm, dass ihre Enttäuschung gerechtfertigt gewesen wäre. Gepaart mit dem Kalb konnte sie die Spitzhacke ausgleichen. Nur der Zorn war nach wie vor ein Problem. Missmutig ließ sich Amokapua die nächste Münze reichen.
Schritte näherten sich. Amokapua unterdrückte ein Seufzen. Zu ihrer Zeit als Akolythin hätte sie es nie gewagt, die Hohepriesterin während des Münzwurfs zu stören. Nun, das war lange her. Sie warf die Münze, beobachtete, wie diese auf der Kante kreiselte, langsamer wurde, kurz zitterte – und dann genau auf das Zeichen des Buches kippte. Das Buch. Der Tag konnte nicht schlimmer werden. Wenn Buch und Zorn zusammentrafen, verlor die Birke ihre lebensspendende Kraft.
»Hilf mir, Kind«, bat Amokapua, und mit der Unterstützung der Akolythin richtete sie sich auf. Während sie sich noch ihren Stab reichen ließ, sprach der Neuankömmling sie bereits an. »Eure Heiligkeit, ich sehe, Ihr habt den Münzwurf beendet.« Es war Kaïkopura, die Hand Atua-Kores.
Die hatte ihr gerade noch gefehlt. »Was gibt es?«, fragte Amokapua ungeduldig, während sie darauf wartete, dass das Blut zurück in ihre Beine floss.
»Lästerung der Göttin«, erwiderte die einzige Priesterin, die neben Amokapua die dreifache Weihe erfahren hatte.
»Wer?«
»Ein Soldat der Palastwache.«
»Und damit kommt Ihr zu mir? Hängt ihn und lasst es gut sein.«
»Vielleicht solltet Ihr Euch anhören, was er zu sagen hat.«
»Was kann er denn schon zu sagen haben?«
Kaïkopura zuckte die Schultern. »Hört es Euch einfach an.«
Die Gebäude der Tempelwache war nur wenige hundert Schritt entfernt, dennoch pochte ein dumpfer Schmerz in Amokapuas Knien, als sie ankam. Ihr Leben lang hatte sie sich verwehrt, eine Sänfte zu nutzen; Atua-Kore war das Licht, ihre Dienerinnen sollten sich nicht verbergen. Und doch, sie würde diesen Grundsatz vielleicht schon im nächsten Winter aufgeben müssen.
Der Befragungsraum lag im Keller des Nebengebäudes. Widerwillig stieg Amokapua hinab. Treppen hatte sie schon in der Pyramide genug. Aber nicht nur die Stufen bereiteten ihr schlechte Laune, auch den Befragungsraum selbst mochte sie nicht. Warum verbarg man gerade diejenige Stätte im Dunkeln, an der die Geister der Finsternis gebannt werden sollten? Nun, die Angelegenheit war schon vor Jahrhunderten so beschlossen worden, und die Beharrungskräfte innerhalb der Schwesternschaft waren zu groß, als dass Amokapua sich je hatte aufraffen können, auch diesen Kampf noch auf sich zu nehmen.
»Eure Heiligkeit«, murmelte der Richter, als sie den Raum betrat. »Ich danke Atua-Kore für Euren Besuch.«
»Wo ist er?« Amokapua wollte die Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen.
Der Richter wischte sich die Hände an seiner Schürze ab und deutete auf eine Liege, über die eine Decke gebreitet war. »Ihre Gnaden meinte«, er nickte Richtung Kaïkopura, die hinter Amokapua eingetreten war, »ich solle Euch den Anblick ersparen.«
Ausnahmsweise einmal eine Überlegung, die in ihrem Sinne war. Trotzdem war sie ungehalten. »Und wie soll ich dann mit ihm reden?«
Der Richter schlug die Decke zurück, ein Kopf kam zum Vorschein. Der Schädel war geschoren, der Bart stoppelig, die Nase etwas zu groß. Ein ganz gewöhnlicher Kopf. Amokapua war erleichtert. Offenbar war die Befragung weiter unten durchgeführt worden.
In der Zwischenzeit hatte der Richter einen Eimer geholt, leerte Wasser über dem Beklagenswerten aus. Tatsächlich kam Bewegung in den Mann, er warf den Kopf hin und her, wimmerte etwas Unverständliches. Die Augen öffnete er nicht.
»Vor dir steht ihre Heiligkeit Amokapua«, sagte Kaïkopura, »der Mund Atua-Kores. Zeige Ehrfurcht, Verfluchter.«
»Gnade, Herrin«, wimmerte der Mann.
»Gnade«, überlegte Amokapua. »Alle flehen sie um Gnade. Aber wann findet man einmal eine Seele, die zur Buße bereit ist.«
»Wiederhole, Besitzloser«, befahl Kaïkopura, »was du zuvor gesagt hast.«
»Nein, bitte«, seine Gesichtsmuskeln zuckten, »nein ... es war nichts.«
»Sprich!«
»Die Gefallene, die wir suchen sollten ... Prinzessin Mahuika – ein dunkler Geist ist in ihr. Er schenkt ihr die Kraft, Berge zum Einsturz zu bringen ...«
»Keine Kraft der Finsternis vermag das.« In Amokapua stieg die Gewissheit, dass sie hier ihre Zeit verschwendete. »Allein Atua-Kores Zorn hat die Macht, die Erde erzittern zu lassen.«
»Ja, Herrin.«
»Du hast vorhin nicht von einem Geist gesprochen«, bemerkte Kaïkopura scharf.
»Alateon hat der Mandrêb ihn genannt.« Der Kopf ruckte in einem fort, doch die Decke bewegte sich kaum. Der restliche Körper musste an die Liege geschnallt sein.
»Und dann? Was hat der Mandrêb dann gesagt?«
Noch immer hatte der Mann die Augen fest zusammengekniffen; als könne das Licht ihn nicht erreichen, wenn er seinen Geist in Dunkelheit hüllte.
»Sprich!«
»Er hat die Gefallene als Prophetin bezeichnet ...«
Triumphierend drehte sich Kaïkopura zu Amokapua um. »Hört Ihr, Eure Heiligkeit?«
»Das war alles?«
»Eine Prophetin – als wäre dieser Alateon ein Gott!«
Wenn Kaïkopura mit dieser Erkenntnis Eindruck schinden wollte, hatte sie sich getäuscht. »Der Wahn einer Gefallenen«, bemerkte Amokapua bloß. Falls der Mann überhaupt die Wahrheit sprach. Sie hatte genügend Befragungen erlebt, um die Zuverlässigkeit der Ergebnisse zu bezweifeln. »Zeit für das Nachtmahl.« Sie verließ den Befragungsraum und machte sich an den Aufstieg der Kellertreppe. Was war nur los mit der Welt? Vielleicht war es das Alter. Kaïkopura war zwanzig Jahre jünger als sie, hatte ihren fünfzigsten Winter noch nicht erlebt. Ihr Tatendrang bezog sich auf alles, was in ihre Reichweite kam; die Erziehung der Akolythinnen, die Gestaltung der Gebete – selbst ihre Frisur pflegte sie mit einer Leidenschaft, die einer Satrapa alle Ehre gemacht hätte. Amokapua schüttelte den Kopf. War sie selbst einmal von einem ähnlichen leeren Eifer angetrieben worden? Sie wagte kein Urteil.
Als sie die Hälfte der Stufen bereits hinter sich hatte, kam ihr von oben eine Frau entgegen, die von ihrem kunstvoll aufgetürmten Haar dazu gezwungen wurde, geduckt zu gehen: Sokai.
»Was machst du hier?«, fragte Amokapua ihre Tochter schroffer als beabsichtigt. Auf dem Tempelgelände hatte außerhalb der Rituale selbst eine Satrapa nichts zu suchen.
»Ich grüße Euch, Mutter.« Sokai küsste sie auf die Wangen, was in den beengten Verhältnissen des Treppenganges kein leichtes Unterfangen war. »Ihre Gnaden Kaïkopura hat mich rufen lassen. Wo sind Eure Wachen?«
»Welche Wachen?«
Sokais Gesicht verzog sich zu dem mitleidig herablassenden Ausdruck, mit dem vermutlich alle Töchter der Welt ihre Mütter behandelten, wenn sie glaubten, diese seien zu alt geworden für die Herausforderungen des Alltags. »Das Frühjahrsgebet ist keine fünf Wochen her. Wer immer Euch vergiftet hat, wird es wieder versuchen.«
»Gegen Gift würde mir auch eine ganze Armee nichts helfen.«
»Mutter, bitte. Lasst Ihr mich durch?« Sie zwängte sich an Amokapua vorbei, stieg weiter nach unten.
»Sag mal«, rief Amokapua ihr hinterher, »warum genau hat dich Kaïkopura rufen lassen?«
»Wer immer die Goldene verhöhnt, verhöhnt auch Ranui – und darf somit dem Hohen Rat nicht gleichgültig sein«, rief ihre Tochter über die Schulter, bevor sie im nächsten Raum verschwand.
Für einen Augenblick rang Amokapua um eine Entscheidung, dann stieg sie mit einem Seufzen die Stufen wieder hinunter. So langsam, wie sie war, erreichte sie den Befragungsraum erst, als Sokai sich bereits ein Bild gemacht zu haben schien: »Wir müssen alle finden, mit denen er gesprochen hat«, erklärte sie gerade.
»Was machen wir mit den Dornen?«, fragte Kaïkopura.
»Wir warten, bis Kohatu zurück ist. Wenn sie die Berichte von Deris’ Trupp bestätigt, schicken wir sie erneut in die Nebelzinnen, um alles einzureißen, was die Leute verwirren könnte.«
»Und wenn die Arbeiter nach ihrer Rückkehr Gerüchte verbreiten?«
»Vor den Stadtmauern lungern so viele Elende herum, da kann Kohatu sich bedienen. Wenn die nicht zurückkehren, wird niemand traurig sein ...«
»Kohatu?«, warf Amokapua ein, die bisher unbeachtet an der Tür gestanden war. »Ist das nicht die Hauptfrau der Palastwache? Was macht die in den Nebelzinnen?«
»Die Königin hat sie geschickt«, entgegnete Sokai, »um Mahuika nach Ranui zu bringen.«
»Wozu?«, fragte Amokapua verblüfft, »die Gefallene hat den Anspruch auf den Thron verwirkt. Wo sie jetzt ist, ist sie ist keine Gefahr. Aber in Ranui – sie könnte einige Unruhe stiften ...«
»Ja, gewiss.« Sokai zuckte die Schultern. »Aber wer bin ich, die Befehle der Königin in Frage zu stellen?«
Weitere Kapitel:
Die Münze fiel, landete klimpernd in der silbernen Schale, sprang zweimal auf, prallte gegen den Schalenrand, hüpfte ein weiteres Mal und blieb schließlich auf dem Zeichen der Morgenröte liegen.
Erleichtert atmete Amokapua aus. Seit zwei Stunden kniete sie im Tempel Atua-Kores und versuchte, den Willen ihrer Herrin zu deuten. Der polierte Boden des Allerheiligsten drückte ihr schmerzhaft gegen die Knie. Aber solange die Münzen nicht deutlich zu lesen waren, konnte die Hohepriesterin den Wurf nicht beenden. Erst das Kalb, dann der Zorn, und direkt danach auch noch die Spitzhacke. Der Dienst an der Göttin war nicht leicht. Jetzt aber die Morgenröte. Bitte, Herrin, betete Amokapua stumm, während sie sich von einer Akolythin die nächste Münze reichen ließ. Sie sprach die magischen Worte, drückte die Münze an ihre Lippen und warf sie in die Schale. Ohne ein einziges Mal zu hüpfen, blieb sie liegen. Auf der Birke. Amokapua stöhnte auf.
»Ist Euch nicht wohl, Eure Heiligkeit?«, fragte die Akolythin.
Verärgert winkte Amokapua ab. Es war schlimm genug, dass das Ziehen in ihren Gelenken sie ungeduldig machte. Aber dass sie ihre Ungeduld nicht einmal mehr vor ihren Akolythinnen verbergen konnte, war bitter. Vor allen Dingen war die Birke überhaupt nicht so schlimm, dass ihre Enttäuschung gerechtfertigt gewesen wäre. Gepaart mit dem Kalb konnte sie die Spitzhacke ausgleichen. Nur der Zorn war nach wie vor ein Problem. Missmutig ließ sich Amokapua die nächste Münze reichen.
Schritte näherten sich. Amokapua unterdrückte ein Seufzen. Zu ihrer Zeit als Akolythin hätte sie es nie gewagt, die Hohepriesterin während des Münzwurfs zu stören. Nun, das war lange her. Sie warf die Münze, beobachtete, wie diese auf der Kante kreiselte, langsamer wurde, kurz zitterte – und dann genau auf das Zeichen des Buches kippte. Das Buch. Der Tag konnte nicht schlimmer werden. Wenn Buch und Zorn zusammentrafen, verlor die Birke ihre lebensspendende Kraft.
»Hilf mir, Kind«, bat Amokapua, und mit der Unterstützung der Akolythin richtete sie sich auf. Während sie sich noch ihren Stab reichen ließ, sprach der Neuankömmling sie bereits an. »Eure Heiligkeit, ich sehe, Ihr habt den Münzwurf beendet.« Es war Kaïkopura, die Hand Atua-Kores.
Die hatte ihr gerade noch gefehlt. »Was gibt es?«, fragte Amokapua ungeduldig, während sie darauf wartete, dass das Blut zurück in ihre Beine floss.
»Lästerung der Göttin«, erwiderte die einzige Priesterin, die neben Amokapua die dreifache Weihe erfahren hatte.
»Wer?«
»Ein Soldat der Palastwache.«
»Und damit kommt Ihr zu mir? Hängt ihn und lasst es gut sein.«
»Vielleicht solltet Ihr Euch anhören, was er zu sagen hat.«
»Was kann er denn schon zu sagen haben?«
Kaïkopura zuckte die Schultern. »Hört es Euch einfach an.«
Die Gebäude der Tempelwache war nur wenige hundert Schritt entfernt, dennoch pochte ein dumpfer Schmerz in Amokapuas Knien, als sie ankam. Ihr Leben lang hatte sie sich verwehrt, eine Sänfte zu nutzen; Atua-Kore war das Licht, ihre Dienerinnen sollten sich nicht verbergen. Und doch, sie würde diesen Grundsatz vielleicht schon im nächsten Winter aufgeben müssen.
Der Befragungsraum lag im Keller des Nebengebäudes. Widerwillig stieg Amokapua hinab. Treppen hatte sie schon in der Pyramide genug. Aber nicht nur die Stufen bereiteten ihr schlechte Laune, auch den Befragungsraum selbst mochte sie nicht. Warum verbarg man gerade diejenige Stätte im Dunkeln, an der die Geister der Finsternis gebannt werden sollten? Nun, die Angelegenheit war schon vor Jahrhunderten so beschlossen worden, und die Beharrungskräfte innerhalb der Schwesternschaft waren zu groß, als dass Amokapua sich je hatte aufraffen können, auch diesen Kampf noch auf sich zu nehmen.
»Eure Heiligkeit«, murmelte der Richter, als sie den Raum betrat. »Ich danke Atua-Kore für Euren Besuch.«
»Wo ist er?« Amokapua wollte die Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen.
Der Richter wischte sich die Hände an seiner Schürze ab und deutete auf eine Liege, über die eine Decke gebreitet war. »Ihre Gnaden meinte«, er nickte Richtung Kaïkopura, die hinter Amokapua eingetreten war, »ich solle Euch den Anblick ersparen.«
Ausnahmsweise einmal eine Überlegung, die in ihrem Sinne war. Trotzdem war sie ungehalten. »Und wie soll ich dann mit ihm reden?«
Der Richter schlug die Decke zurück, ein Kopf kam zum Vorschein. Der Schädel war geschoren, der Bart stoppelig, die Nase etwas zu groß. Ein ganz gewöhnlicher Kopf. Amokapua war erleichtert. Offenbar war die Befragung weiter unten durchgeführt worden.
In der Zwischenzeit hatte der Richter einen Eimer geholt, leerte Wasser über dem Beklagenswerten aus. Tatsächlich kam Bewegung in den Mann, er warf den Kopf hin und her, wimmerte etwas Unverständliches. Die Augen öffnete er nicht.
»Vor dir steht ihre Heiligkeit Amokapua«, sagte Kaïkopura, »der Mund Atua-Kores. Zeige Ehrfurcht, Verfluchter.«
»Gnade, Herrin«, wimmerte der Mann.
»Gnade«, überlegte Amokapua. »Alle flehen sie um Gnade. Aber wann findet man einmal eine Seele, die zur Buße bereit ist.«
»Wiederhole, Besitzloser«, befahl Kaïkopura, »was du zuvor gesagt hast.«
»Nein, bitte«, seine Gesichtsmuskeln zuckten, »nein ... es war nichts.«
»Sprich!«
»Die Gefallene, die wir suchen sollten ... Prinzessin Mahuika – ein dunkler Geist ist in ihr. Er schenkt ihr die Kraft, Berge zum Einsturz zu bringen ...«
»Keine Kraft der Finsternis vermag das.« In Amokapua stieg die Gewissheit, dass sie hier ihre Zeit verschwendete. »Allein Atua-Kores Zorn hat die Macht, die Erde erzittern zu lassen.«
»Ja, Herrin.«
»Du hast vorhin nicht von einem Geist gesprochen«, bemerkte Kaïkopura scharf.
»Alateon hat der Mandrêb ihn genannt.« Der Kopf ruckte in einem fort, doch die Decke bewegte sich kaum. Der restliche Körper musste an die Liege geschnallt sein.
»Und dann? Was hat der Mandrêb dann gesagt?«
Noch immer hatte der Mann die Augen fest zusammengekniffen; als könne das Licht ihn nicht erreichen, wenn er seinen Geist in Dunkelheit hüllte.
»Sprich!«
»Er hat die Gefallene als Prophetin bezeichnet ...«
Triumphierend drehte sich Kaïkopura zu Amokapua um. »Hört Ihr, Eure Heiligkeit?«
»Das war alles?«
»Eine Prophetin – als wäre dieser Alateon ein Gott!«
Wenn Kaïkopura mit dieser Erkenntnis Eindruck schinden wollte, hatte sie sich getäuscht. »Der Wahn einer Gefallenen«, bemerkte Amokapua bloß. Falls der Mann überhaupt die Wahrheit sprach. Sie hatte genügend Befragungen erlebt, um die Zuverlässigkeit der Ergebnisse zu bezweifeln. »Zeit für das Nachtmahl.« Sie verließ den Befragungsraum und machte sich an den Aufstieg der Kellertreppe. Was war nur los mit der Welt? Vielleicht war es das Alter. Kaïkopura war zwanzig Jahre jünger als sie, hatte ihren fünfzigsten Winter noch nicht erlebt. Ihr Tatendrang bezog sich auf alles, was in ihre Reichweite kam; die Erziehung der Akolythinnen, die Gestaltung der Gebete – selbst ihre Frisur pflegte sie mit einer Leidenschaft, die einer Satrapa alle Ehre gemacht hätte. Amokapua schüttelte den Kopf. War sie selbst einmal von einem ähnlichen leeren Eifer angetrieben worden? Sie wagte kein Urteil.
Als sie die Hälfte der Stufen bereits hinter sich hatte, kam ihr von oben eine Frau entgegen, die von ihrem kunstvoll aufgetürmten Haar dazu gezwungen wurde, geduckt zu gehen: Sokai.
»Was machst du hier?«, fragte Amokapua ihre Tochter schroffer als beabsichtigt. Auf dem Tempelgelände hatte außerhalb der Rituale selbst eine Satrapa nichts zu suchen.
»Ich grüße Euch, Mutter.« Sokai küsste sie auf die Wangen, was in den beengten Verhältnissen des Treppenganges kein leichtes Unterfangen war. »Ihre Gnaden Kaïkopura hat mich rufen lassen. Wo sind Eure Wachen?«
»Welche Wachen?«
Sokais Gesicht verzog sich zu dem mitleidig herablassenden Ausdruck, mit dem vermutlich alle Töchter der Welt ihre Mütter behandelten, wenn sie glaubten, diese seien zu alt geworden für die Herausforderungen des Alltags. »Das Frühjahrsgebet ist keine fünf Wochen her. Wer immer Euch vergiftet hat, wird es wieder versuchen.«
»Gegen Gift würde mir auch eine ganze Armee nichts helfen.«
»Mutter, bitte. Lasst Ihr mich durch?« Sie zwängte sich an Amokapua vorbei, stieg weiter nach unten.
»Sag mal«, rief Amokapua ihr hinterher, »warum genau hat dich Kaïkopura rufen lassen?«
»Wer immer die Goldene verhöhnt, verhöhnt auch Ranui – und darf somit dem Hohen Rat nicht gleichgültig sein«, rief ihre Tochter über die Schulter, bevor sie im nächsten Raum verschwand.
Für einen Augenblick rang Amokapua um eine Entscheidung, dann stieg sie mit einem Seufzen die Stufen wieder hinunter. So langsam, wie sie war, erreichte sie den Befragungsraum erst, als Sokai sich bereits ein Bild gemacht zu haben schien: »Wir müssen alle finden, mit denen er gesprochen hat«, erklärte sie gerade.
»Was machen wir mit den Dornen?«, fragte Kaïkopura.
»Wir warten, bis Kohatu zurück ist. Wenn sie die Berichte von Deris’ Trupp bestätigt, schicken wir sie erneut in die Nebelzinnen, um alles einzureißen, was die Leute verwirren könnte.«
»Und wenn die Arbeiter nach ihrer Rückkehr Gerüchte verbreiten?«
»Vor den Stadtmauern lungern so viele Elende herum, da kann Kohatu sich bedienen. Wenn die nicht zurückkehren, wird niemand traurig sein ...«
»Kohatu?«, warf Amokapua ein, die bisher unbeachtet an der Tür gestanden war. »Ist das nicht die Hauptfrau der Palastwache? Was macht die in den Nebelzinnen?«
»Die Königin hat sie geschickt«, entgegnete Sokai, »um Mahuika nach Ranui zu bringen.«
»Wozu?«, fragte Amokapua verblüfft, »die Gefallene hat den Anspruch auf den Thron verwirkt. Wo sie jetzt ist, ist sie ist keine Gefahr. Aber in Ranui – sie könnte einige Unruhe stiften ...«
»Ja, gewiss.« Sokai zuckte die Schultern. »Aber wer bin ich, die Befehle der Königin in Frage zu stellen?«