Teil 2 – Die Zeichen (12. Kapitel)

Das fruchtbarste Land des Kontinents fand sich dort, wo der Puao schäumend in den Korio stieß, bevor dessen endlose Wassermassen die letzten dreihundert Meilen auf ihrer Reise zum Ostmeer zurücklegten. Kein anderer Ort war Atua-Kore gut genug gewesen, um die Wiege Tiratangas aufzustellen. Mit jedem Winter, der verstrich, wuchs Ranui, und wie Ranui wuchs Atua-Kores Liebe für ihr Volk. Bald konnte sie ihr Auge nicht mehr abwenden von den emsigen Geschöpfen. Doch die Liebe einer Göttin brennt zu heiß, als dass ein Mensch sie alle Zeit ertragen könnte; also schuf Atua-Kore in ihrer Gnade den Schattenberg. Im Westen Ranuis zog sie ihn aus dem Boden heraus, und sein Körper verbarg die Stadt vor der Göttin. Nun endlich gelang es Atua-Kore, sich von ihren Geschöpfen loszureißen und ihr Auge zu schließen. Da wurde es kalt und dunkel in Ranui, die Menschen verzweifelten, hilflos waren sie ohne Atua-Kores wärmenden Blick. Und so richtete Atua-Kore erneut ihr Auge auf die Menschen und bestimmte in ihrer Weisheit, dass ihr Blick so lange auf Ranui gerichtet bleiben sollte, wie viel Zeit es sie kostete, den Himmel von Osten nach Westen zu durchwandern. Sobald sie jedoch den Schattenberg erreichte, würde sie ihr Auge schließen und blind zurück nach Osten eilen. Tag für Tag, Nacht für Nacht.

Hua beobachtete stumpf, wie die Sonne hinter dem Kamm des Schattenbergs verschwand. Wie jede Satrapa hatte sie die Legenden der Priesterinnen von klein auf lernen müssen. Es fröstelte sie. In endloser Wiederholung sprachen die Priesterinnen von Atua-Kores Liebe. Aber wie konnte eine Göttin, die wusste, was Liebe war, von einer Mutter verlangen, ihr Kind zu töten? Den ganzen Tag hatte Hua hier am Fuße des Schattenberges gekniet, vor dem goldenen Portal mit den springenden Löwen, wohinter sich die Katakomben des Berges befinden sollten. Nur wer sein Leben zum Ruhm Atua-Kores gegeben hatte, durfte hier bestattet liegen. Ha. Als ob Huas Tochter freiwillig gestorben war. Mit eigener Hand hatte Hua den Dolch geführt, der den winzigen Körper aus dem Leben genommen hatte. Und wofür? Königin von Tiratanga nannte man sie, und doch kniete sie hier im Staub, vor ihr das verschlossene Portal. Nur den Priesterinnen war der Zutritt des heiligen Berges erlaubt. Welche Göttin verbot es einer Mutter, das Grab der verlorenen Tochter zu besuchen?

»Eure Hoheit?«, ertönte hinter ihr die Stimme der diensthabenden Offizierin ihrer Leibwache.

»Schon gut.« Hua richtete sich auf. Zeit zu gehen. Nachdem sie so lange in derselben Position verharrt hatte, knackten ihre Knie. Mechanisch klopfte sie den Schmutz von ihrer Robe. Sie wandte sich nach der Sänfte, doch ein Wink der Offizierin hielt sie zurück.

»Was ist?«

Sie folgte dem Blick der Offizierin und sah die dunkle Wolke im Tal. Zwischen den Reisfeldern preschte ein Trupp Berittener heran. Die Offizierin rief einen Befehl, die anwesenden Soldaten zogen ihre Waffen und stellten sich schützend vor Hua. Schicksalergeben ließ sie sich von einer Dienerin Wein reichen. Sie war schon in der ersten Woche davon abgekommen, gegen den Verfolgungswahn ihrer Offizierinnen aufzubegehren.

Die Berittenen stürmten den Hang herauf, auf der gepflasterten Straße klapperten die Hufe ihrer Pferde. Es mochten zwei Dutzend sein, sie trugen dieselben Rüstungen wie Huas Leibwache. Im Wind knatterte das Sonnenbanner.

Doch erst, als die vorderste Reiterin als Hauptfrau Kohatu zu erkennen war, senkten die Wachen ihre Waffen. Die Hauptfrau sprang mit einer Leichtigkeit von ihrem Tier, als spürte sie die schwere Rüstung nicht, die sie trug. Bewaffnet war sie nur mit Schwert und Bogen, doch auch ohne ihre fürchterliche Mordaxt ließ ihr Anblick Hua erschauern. Dass dieses Monster sie schützen sollte, bereitete ihr mehr Schrecken als Hoffnung.

Es war Sokai gewesen, die ihr geraten hatte, Torokahas Hauptfrau zu ihrer eigenen zu machen. Kohatu sei eine ausgezeichnete Soldatin, von ihrer Truppe geehrt – und, was bei weitem wichtiger war, sie stehe vollkommen loyal dem Palast gegenüber. Hua war Sokais Empfehlung gefolgt, natürlich, sie selbst hatte ihr bisheriges Leben mit Harfenspiel und anderen albernen Dingen verbracht, wie hätte sie die Auffassung der Sprecherin des Hohen Rates in Frage stellen können. Und dennoch, an jedem Ort hätte sie sich sicherer gefühlt als in Reichweite jener viehisch groben Kriegerin.

Hinter der Hauptfrau entdeckte Hua Sokai, die ebenfalls absaß.

»Was ist passiert?«, fragte Hua, verunsichert von dem unerwarteten Besuch.

Die Ratsherrin warf einem der Soldaten die Zügel ihres Pferdes zu, kniete sich vor Hua, ergriff den Saum der königlichen Robe und drückte dem Protokoll entsprechend ihre Stirn auf den Stoff. Die Nadeln in ihrem hochgesteckten Haar stachen gegen Huas Oberschenkel.

»Steht schon auf.«

Sogleich folgte Sokai der Aufforderung. Mit einer schnellen Geste überprüfte sie den Sitz ihrer Frisur. »Wir haben Nachrichten zu Mahuika.«

Ein Satz wie ein Hammerschlag. »Ihr habt was?«, stammelte Hua. »Von wo?«

»Aus dem Vorgebirge der Naalu Dar.«

»Naalu?« Unmöglich – wie sollte Mahuika es bis zu den Barbaren des Nordens geschafft haben. »Ist das nicht hundert Meilen weit weg?«

 »Fast vierhundert.«

»Und jetzt?« Hua konnte es nicht glauben. »Habt Ihr Häscher ausgeschickt? Was machen wir mit ihr, wenn wir sie haben? Der Hohe Rat muss einberufen werden ...«

»Eure Hoheit, sammelt Euch. So einfach ist es nicht. Ihr seid die Königin; es wird Zeit, dass Ihr lernt, das Schicksal Eures Reiches zu gestalten.«

»Wovon redet Ihr?«

»Wir haben noch niemanden ausgeschickt ...«

 »Was?« Um Zeit zu gewinnen, nahm Hua einen Schluck von ihrem Wein. Sie war dankbar, dass Sokai ihr half mit den königlichen Geschäften. Trotzdem kam sie sich manchmal vor wie eine Schildkröte auf dem Rücken. Der Wein schmeckte sauer.

Sokai wandte sich an den Trupp Soldaten, der sie begleitet hatte. »Bannerführer Deris, tretet vor.«

Ein älterer Soldat glitt aus seinem Sattel und trat nach vorn. Er schwankte, konnte sich offenbar vor Erschöpfung kaum auf den Beinen halten. Seine Rüstung war zerkratzt, die Hose schmutzbesudelt und zerrissen. Hua hatte nicht gewusst, dass es Soldaten erlaubt war, derart ungeordnet vor die Königin zu treten.

»Berichtet«, befahl Sokai.

»Ja, Herrin.« Die Stimme des Mannes klang heiser. »Kronprinzessin Torokaha hatte uns ausgesandt, um nach der Gefallenen zu suchen. Wir haben sie dort gefunden, wo die Koloru-Ebenen den Nebelzinnen entgegensteigen ...«

»Das weiß die Königin bereits«, wurde der Soldat von Sokai unterbrochen, »stiehl noch einmal ihre Zeit, und du wirst brennen.«

»Verzeiht, Herrin.«

»Warum habt ihr sie nicht hergebracht?«, fragte Hua benommen. Der Wein war ihr zu Kopf gestiegen.

»Sie wurde von zwei Knochenbrechern begleitet ...«

Auf einen Schlag lichteten sich die Nebel, die sich um Huas Sinne gelegt hatten. »Echte Schamanen?« In ihrer Kindheit hatte sie die Sagen geliebt, die man sich über die Wunderheiler erzählte. »Ich dachte, es gibt keine mehr.«

»Euer Reich ist groß, Hoheit«, bemerkte Sokai, »und in den Winkeln hält sich mancher Aberglaube.«

»Ihr habt sie den Schamanen überlassen?«, kehrte Hua zu den Ausführungen des Soldaten zurück.

»Einen konnten wir töten«, erklärte der Angesprochene. »Der andere ...«

Hua verschluckte sich. »Ihr habt einen Schamanen getötet?« Nichts brachte größeres Unglück. In aller Hast schlug sie das Schutzzeichen wider die beiläufige Schuld. »Warum?«

»Sie haben die Gefallene geschützt ...«

»Was sonst – sie sind Schamanen!«, rief Hua außer sich. »Schwarzes Eis.« Sofort biss sie sich auf die Lippen, zu spät, die Soldaten erstarrten, und Sokai schlug nun ihrerseits das Schutzzeichen wider den sorglosen Mund. Eine Königin durfte keine Flüche aussprechen, ihre Macht war zu groß. Ein einziges unbedachtes magisches Wort konnte einen Blauen Turm zum Einsturz bringen.

Die angespannte Stille drohte Hua zu erdrücken. Rasch befahl sie dem Truppenführer, in seiner Erzählung fortzufahren.

Sichtlich erschüttert von der Erkenntnis seines Fehlers, schilderte der Soldat, wie sein Banner Mahuika und den zweiten Schamanen ins Gebirge gejagt hatte. »Aber als wir sie gänzlich in die Enge getrieben hatten, beschwor der Schamane einen Dämon der alten Zeit, hoch wie ein Baum, mit einer Dornenkrone, von dessen Enden die Eingeweide erschlagener Krieger hingen.«

»Und dann seid ihr geflohen wie Hunde«, beendete Sokai den Bericht.

Der ängstliche Blick des Soldaten blieb auf den Boden zu Huas Füßen gerichtet. »Verzeiht, Eure Hoheit.«

»Aber ich verstehe trotzdem nicht«, gab Hua an Sokai gewandt zu, »warum das keine Sache für den Hohen Rat ist.« Langsam fasste sie sich. »Wenn überhaupt. Was kümmert uns eine gefallene Prinzessin am Rande der Welt?«

Das goldene Portal, das zu den Katakomben des heiligen Berges führte, wies zu beiden Seiten mit Rosen bewachsene Lauben auf. Vor der einen warteten die Zofen und die Träger der Sänfte. Sokai schritt auf die andere, freie Laube zu und wies Hua an, ihr zu folgen. Als Hauptfrau Kohatu ihnen nacheilen wollte, wurde sie von Sokai brüsk zurechtgewiesen.

Kaum saßen sie in der Laube, auf steinernen Bänken, in welche Szenen aus dem Gründungsmythos Ranuis gemeißelt waren, begann die Sprecherin des Hohen Rates: »Hoheit, lasst mich aufrichtig zu Euch sein. Ich bin doppelt so alt wie Ihr, ich habe viel gesehen – und ich würde alles dafür geben, noch einmal mit einem so milden Blick wie dem Eurigen Atua-Kores Schöpfung begegnen zu können.«

»Ich bin nicht milde«, flüsterte Hua, »nur müde.« Seit dem großen Ritual war keine Nacht verstrichen, an der sie mehr als ein paar Stunden geschlafen hatte.

»Was ich sagen will: Ich bewundere Euch.« Sokai nestelte an einem Rosenzweig, der sich in ihrem Haar verfangen hatte. »Ich glaube, Ihr habt ein gutes Herz und einen starken Glauben. Eure Herrschaft wird ein Segen für Tiratanga sein.«

»Die Priesterinnen sagen, eine Königin herrscht nicht; sie ist die erste Dienerin des Reichs.«

»Wie auch immer«, inzwischen war es Sokai gelungen, ihre Haare von dem Zweig zu befreien, »damit Ihr dem Reich wirklich dienen könnt, darf es keinen Zweifel an Eurer Berufung geben.«

»Wieso sollte es? Ich habe das Große Ritual bestanden ...«

»Ja. Aber Ihr kennt nicht die Schlangen, die sich um die Säulen der Ratshalle winden.«

»Die Ratshalle hat keine Säulen ...«

»Nur ein Bild. Niemand im Hohen Rat hat den Ruhm Atua-Kores im Sinn, geschweige denn das Gedeihen des Reiches.«

In der Laube dämmerte es bereits. Gegen die Kälte der hereinbrechenden Nacht verschränkte Hua die Arme. »Seid Ihr nicht auch im Hohen Rat?«

Sokai lächelte sanft. »Ich bin die Tochter der Hohepriesterin. So, wie meine Mutter ihr eigenes Leben in den Dienst Atua-Kores stellt, erwartet sie, dass ich meines den Dienst des Reiches stelle.«

Überrascht sah Hua auf. »Das heißt, Ihr habt Euch nie selbst dafür entschieden?«

Sokai zuckte die Schultern. »Macht ist kein Eimer Wasser, den man einfach aus dem Brunnen kurbeln kann. Sie kommt und geht, wie es der Goldenen Göttin genehm ist. Ihr solltet das wissen.«

Hua schwieg. Nie hätte sie gedacht, dass die Sprecherin des Hohen Rates, diese selbstbewusste, kluge Frau, sich auf ähnliche Weise dem Willen Atua-Kores ausgeliefert sah wie sie sich selbst. Ein kühler Luftzug rieselte durch die Blätterwände der Laube.

»Deris’ Banner muss getötet werden«, sagte Sokai.

»Was? Weshalb?«

»Nur so können wir Euch schützen.«

Verständnislos starrte Hua ihr Gegenüber an.

»Was glaubt Ihr«, fragte Sokai ruhig, »würde geschehen, spräche sich erst herum, dass Mahuika am Leben ist?«

Hua öffnete den Mund, suchte eine Antwort. Doch sie wusste beim besten Willen nicht, worauf die Ratsherrin hinauswollte.

»Gemäß der Tradition hätte Torokaha erst zur Sonnenwende den Palast verlassen müssen. Dass das Ritual vorgezogen wurde, sorgt für einiges Murren im Rat. Es tut mir leid, Euch das sagen zu müssen, aber nicht alle sehen Euren Aufstieg mit Wohlwollen.«

»Torokaha ist besitzlos ...«

»Dennoch – sie könnte ihren Anspruch auf den Thron neu erheben, wenn ihre Schwester zurück in die Stadt käme. Und ich fürchte, einige im Rat wären nur zu bereit, ihr zu folgen.«

Jetzt glaubte Hua zu verstehen. »Das heißt, wir lassen Mahuika, wo sie ist. Aus freien Stücken wird sie ja kaum zurück nach Ranui kommen.«

»Nicht freiwillig, nein.« Sokai hatte den Blick auf ihre langen, blau eingefärbten Finger gesenkt. »Aber zweifelsohne würden manche Ratsmitglieder versuchen, ihrer habhaft zu werden.«

»Das heißt?« Hua fror inzwischen wirklich, aber sie wagte nicht, nach einer Zofe zu rufen.

»Niemand darf von dem Fund erfahren. Deris’ Bannerleute müssen sterben. Wir haben sie bereits im Verlies der Bastion untergebracht. Deris selbst soll einen Trupp Eurer treusten Wachen dorthin führen, wo er die Gefallene gesehen zu haben glaubt.«

»Also bringen wir sie doch nach Ranui?«

»Nein.« Sokai sagte es mit demselben unzufriedenen Blick, mit dem Hua als Kind von ihren Lehrerinnen bedacht worden war, wenn sie eine Frage nicht beantworten konnte. »Sie muss sterben. Deris auch.«

Hua war kalt, sie hoffte, das Gespräch wäre bald zu Ende. Am besten widersprach sie nicht weiter. Die Sprecherin des Rates würde schon wissen, was sie tat. »Ich weiß ja gar nicht, welcher meiner Wachen ich trauen kann«, murmelte sie bloß.

»Das lasst meine Sorge sein.«

»Und was ist mit dem Dämon, den der Bannerführer beschrieben hat? Nur eine Einbildung?«

Sokai rümpfte die Nase. »Wohl eher eine Ausrede für sein Versagen.«

Woher nur wusste die Sprecherin stets eine Antwort, gleich, wie groß die Frage war? Neben ihr kam Hua sich fürchterlich dumm vor ... und dennoch, irgendetwas an Sokais Plan beunruhigte sie. »Nein«, entschied sie, und plötzlich, noch während sie es sagte, wurde ihr warm. Sie hatte eine eigene Entscheidung getroffen – es war ein beflügelndes Gefühl. »Lasst Mahuika nach Ranui bringen. Vor aller Augen werden wir sie Atua-Kore opfern.«

»Eure königliche Hoheit ...«

Die Wärme stieg höher, ließ Huas Wangen brennen. »Wenn das Volk erst die Gefallene im Feuer sieht, wird es niemand mehr wagen, meine Berufung in Frage zu stellen.«

»Hoheit ...«

»Tut es.«