9. Kapitel
Ein süßer Duft kam aus der Küche. Aki schlich zur Türe und schnupperte. Mohnkringel. Die liebte sie am meisten. Morgen war Sommersonnenwende, alle im Palast waren ganz aufgeregt deshalb. Aki auch. Aber eigentlich mochte sie Feste nicht, dann musste man die ganze Zeit still sitzen, und die Erwachsenen tranken Wein und lachten über Sachen, die überhaupt nicht witzig waren. Außer Mama, die schaute ganz ernst, und manchmal sagte sie irgendwas, und alle mussten traurig nicken. Manchmal schrien auch alle ganz plötzlich Tiratanga!, und danach lachten sie wieder, und zwar so laut, dass Aki sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte. Aber das durfte sie nicht, sie durfte nur sitzen und brav sein, sonst gar nichts.
Sie steckte ihren Kopf in die Küche, niemand da. Die Küche war riesig. Einmal hatte Aki die Öfen zählen wollen, aber ihre Finger hatten nicht gereicht. Um zu den Mohnkringeln zu kommen, musste sie an den Gemüsepfannen vorbei. Aki streckte den Pfannen ihre Zunge entgegen, sie hasste Gemüse, vor allem Karotten.
»Was macht Ihr hier, Prinzessin?«
Schnell duckte sie sich unter einen Tisch. Aber die Köchin hatte sie schon gesehen, kniete sich neben sie.
»Ich will Mutter einen Mohnkringel holen.«
Die Köchin schüttelte den Kopf. »Und es war keine Magd zugegen?«
»Es soll eine Überraschung sein«, sagte Aki trotzig, während sie unter dem Tisch hervorkroch.
»Du hättest trotzdem eine Magd schicken können.«
»Morgen ist doch Sonnenwende, alle arbeiten irgendwas.«
»Na gut«, die Köchin lächelte. »Du bist auf jeden Fall diejenige Schwester mit dem schauspielerischen Talent.«
»Ich habe keine Schwester«, widersprach Aki.
Da guckte die Köchin, als habe sie ein Stück Kohle im Mund.
Das verwirrte Aki so, dass sie den ganzen Tag an nichts anderes denken konnte. Am Abend fragte sie Mama, warum die Köchin das gesagt hatte. Auf einmal hatte auch Mama ein Stück Kohle im Mund. Aber Aki fragte noch mal, und da sagte Mama ganz leise, dass Aki es fast nicht hören konnte: »Du hattest einmal eine.«
Erst Jahre später hatte Mahuika erfahren, dass ihre große Schwester von Mutters Hand gestorben war. So wie ihre kleine von Mahuikas eigener hätte sterben sollen. Die Finsternis sollte diese verfluchten Rituale holen. Mahuika hatte ihre kleine Schwester kaum gekannt. Von Anfang an hatte der Tempel Torokaha von ihr ferngehalten. Wer im Namen des Himmels hatte sich eine solche Thronfolge ausgedacht? Gleich, ob es ein Mensch oder eine Göttin gewesen war – mit Freude würde Mahuika den Verantwortlichen den Schädel einschlagen.
Während sie sich durch den Schnee kämpfte, dachte sie an die beiden Mandrêbanim zurück. Was musste das für ein Leben sein – frei umherstreifen zu dürfen, kein Ziel zu haben außer der nächsten Siedlung, dem nächsten Dorf? Hilfe anbieten zu dürfen, statt Unterwerfung einfordern zu müssen. Als Mensch behandelt zu werden, ehrlich, ohne Angst und ohne Schmeicheleien? Als Mensch behandelt zu werden, und nicht als Erbin Tiratangas?
Nun, den Thron hatte sie zurückgewiesen, den Anspruch auf Tiratanga hatte sie verwirkt. Aber das machte sie nicht frei. Mahuika gab sich keinen falschen Hoffnungen hin; der Hohe Rat würde sie jagen – wenn es sein musste, bis zur anderen Seite des Ozeans.
Das Wandern im Dunkeln war unauffälliger und half gegen die Kälte; doch in der ersten Nacht, nachdem sie die heißen Quellen verlassen hatte, war sie mehrmals fast in den Tod gestürzt. Also hatte sie sich entschieden, den Tag zu nutzen und erst am Abend zu rasten. Sie schlief unruhig; bevor der Morgen dämmerte, brach sie wieder auf. Erschöpfung und Kälte hatten sich tief in ihre Knochen gefressen, ihre Beine wehrten sich gegen jeden weiteren Schritt. Immerhin taute der Schnee bereits, versickerte im Fels. Kurz nach Mittag entdeckte sie eine windgeschützte Stelle und beschloss, eine Pause zu machen. Aus dem Beutel, den der alte Schamane ihr gegeben hatte, nahm sie eine Handvoll Nüsse, kaute sie einzeln, bedächtig. Hunger. Ihr Leben lang hatte sie das Wort benutzt. Aber erst vor wenigen Wochen hatte sie erfahren, was es bedeutete. Die Nüsse würden nicht lange reichen. Von den blauen Beeren, die der Schamane erwähnt hatte, hatte sie noch keine gesehen. Nachdem sie die letzte Nuss verzehrt hatte, holte sie Luft, um sich hochzustemmen. Gleich, sagte sie sich, gleich.
»Aufwachen, Missgestalt.« Benommen öffnete sie die Augen. Und war sofort hellwach. Über ihr drohte ein ranaischer Krieger. Mahuika sprang auf, rannte los – und wurde von den Beinen gerissen. Eine Kette hatte sich um ihre Knöchel gewickelt. Verzweifelt warf sie sich herum, versuchte, sich aus der Fessel zu befreien. Eine zweite Kette pfiff durch die Luft, schlug um ihren Oberkörper, presste ihr den Atem aus den Lungen.
»Glaubst du«, fragte der Bannerführer, der sie getreten hatte, »wir folgen dir durch halb Tiratanga, und nachdem wir dich gefunden haben, lassen wir dich wieder laufen?«
Keuchend kämpfte sie gegen ihre Fesseln an. Eine Kettenschleuder – die ranaischen Legenden waren voll davon. Genutzt wurden sie kaum. Die Ausbildung kostete Jahre, nur die Palastwache leistete sich diesen Aufwand. Mahuika gab ihren Widerstand auf, musterte den Bannerführer genauer. Tatsächlich – sein gelb gefiederter Helmbusch ließ keine Zweifel zu: Der Trupp gehörte zur Palastwache.
Bevor sie sich fragen konnte, was das zu bedeuten hatte, wurde sie von harten Händen gepackt und hochgerissen. Wäre sie in Tiratanga gegen ihren Willen nur berührt worden, hätte man dem Unverschämten das Herz aus der Brust geschnitten ... früher zumindest. Mahuika war keine Prinzessin mehr, nicht einmal mehr eine Satrapa. Mit dem Verlust ihres Hauses war sie zu einer Gefallenen geworden, so wenig wert wie eine Besitzlose, weniger.
»Bannerführer«, fragte Mahuika, »hat Torokaha Euch geschickt?«
Der Bannerführer schlug ihr ins Gesicht und befahl seinen Männern: »Bindet ihr die Arme, aber macht die Beine frei, sie soll laufen können. Im ersten Dorf, auf das wir stoßen, trinken wir, bis die Sterne aus dem Himmel fallen.«
Die Männer johlten, Mahuika spuckte Blut.
Die Häscher machten bis zum Abend keinen Halt. An Flucht war nicht zu denken; man hatte Mahuika in die Mitte genommen. Einer der Männer zog sie an einem Seil hinter sich her, das man mit ihren zusammengebundenen Händen verknotet hatte. Während Mahuika sich mühsam auf den Beinen hielt, ihrem Verderben entgegentaumelnd, konnte sie an nichts anderes denken als an ihre kleine Schwester. Warum hatte diese ihre eigene Leibwache geschickt? Dass die Hohepriesterin Mahuika jagen lassen würde, war unausweichlich gewesen; wenn sie Mahuikas Flucht hinnähme, wäre ihr ganzer lächerlicher Glaube ... nun ja, lächerlich gemacht. Aber Torokaha? So weit Mahuika wusste, galten nur unmündige Opfer als entehrt, wenn das Ritual nicht zu Ende geführt wurde. Torokaha jedoch hatte sich als würdig erwiesen, der Thron stand ihr zu. Nur wenige Male hatte Mahuika ihre Schwester gesehen. In ihrer Erinnerung hatte es sich um ein zurückhaltendes, sanftes Mädchen gehandelt. Hatte sie sich getäuscht? Und welche Rolle spielte der Hohe Rat? Je länger Mahuikas Gedanken kreisten, desto sicherer wurde sie sich, dass die Schlange Sokai eine Rolle spielen musste.
Der Wald war dicht geworden. Auf einer Lichtung machten die Krieger ein Feuer und brieten ein Eichhörnchen, das einer der Kettenwerfer unterwegs zur Strecke gebracht hatte. Ein einzelnes Eichhörnchen für einen zehn Mann starken Trupp – Mahuika hoffte gar nichts erst darauf, etwas abzubekommen. Immerhin bekam sie von einem Soldaten mit einer furchteinflößend mächtigen Nase einen Wasserschlauch gereicht, außerdem etwas Brot. Es war steinhart. Beim Kauen bemerkte sie, dass ihre Lippe aufgeplatzt war, vermutlich vom Hieb des Bannerführers. Wie nachdrücklich hatte ihre Schwester wohl befohlen, sie lebendig nach Ranui zurückzubringen? Mahuika fragte lieber nicht nach.
Zwei Wachen wurden aufgestellt, der Rest legte sich schlafen.
Der eine Wächter hockte sich zu ihr. »Wisst Ihr, Eure Hoheit«, sagte er, während er zwischen seinen Zähnen herumpulte, »Ihr wärt eine gute Königin geworden. Besser als Eure Mutter.« Es war der Mann, der ihr den Wasserschlauch gegeben hatte.
Mahuika, der man inzwischen Hände und Füße zusammengebunden hatte, verzichtete auf eine Antwort. Im Wald rief ein Uhu.
»Aber dass Ihr das Ritual gestört habt ...« Der Soldat rieb sich seine klobige Nase. »Das hättet Ihr nicht tun sollen.«
Mahuika fragte sich, ob sie dem Mann schon einmal begegnet war. Aber sie musste sich eingestehen: Sie erinnerte sich an kaum eines der Gesichter der Palastwache. Tag und Nacht war sie von den Kriegern umgeben gewesen, aber wahrgenommen hatte Mahuika sie kaum mehr als die Teppiche an den Wänden.
»Die Goldene Göttin hat Euch erwählt. Warum bloß habt Ihr sie zurückgewiesen?« In der Stimme des Mannes lag ehrliche Betroffenheit.
»Wie heißt du?«, fragte Mahuika.
»Asil, Herrin.«
»Wofür lebst du, Asil?«
»Für Ranui.«
»Was bedeutet das?«
»Im Namen Atua-Kores den Ruhm des Reiches zu mehren.«
»Und warum?«
»Weil es meine Pflicht ist. Ich habe es geschworen.«
»Warum hast du den Schwur geleistet?« Während die gewöhnliche Armee ihre Ränge zum größten Teil aus den Provinzen füllte, nahm die Palastwache nur Freiwillige auf.
Der Mann zögerte.
»Verrate es mir.«
»Meine Eltern waren Flößer«, gestand er schließlich.
»Du wolltest, dass sie stolz auf dich sind.«
Eine Weile war nur der einsame Uhu zu hören, und der Wind im vom Winter noch kahlen Geäst der Bäume.
»Nein«, sagte der Soldat kleinlaut. »Ich wollte so weit weg von ihnen sein wie möglich. Ich wollte ein anderes Leben.«
»So oder so – es waren Menschen, die dich zur Armee gebracht haben.« Ächzend verlagerte sie ihr Gewicht. Die Fesseln zwangen sie zu einer schmerzhaft gekrümmten Haltung. »Ich glaube, die großen Entscheidungen treffen wir wegen der Menschen, die uns umgeben; die uns nahe stehen. Es gibt kein Reich ohne die Menschen darin. Was ist eine Göttin ohne Menschen, die an sie glauben?«
»Eure Hoheit ... Ihr ... das ist ...« Hastig schlug Asil das Schutzzeichen wider die leibhaftige Versuchung.
»Ich konnte es nicht«, sagte Mahuika schlicht. »Töten im Auftrag einer Göttin, die ich nicht verstehe.« Leiser fügte sie hinzu: »Und ich weiß nicht, wie Mutter es vermocht hat.«
»Angriff!«, brüllte die andere Wache vom Rande der Lichtung. Bevor Mahuika den Kopf drehen konnte, waren die Schlafenden bereits wach und auf den Beinen, die Schwerter gezogen, die Ketten schwingend.
Auf den Mann, der Alarm geschlagen hatte, hatte sich ein Schatten gestürzt, ein Messer blitzte im Sternenlicht. Doch der Angegriffene diente in der Leibwache der Königin Tiratangas; hatte die härteste Ausbildung genossen zwischen Ozean und Ozean. Blitzschnell wich er zur Seite, riss den Schild hoch, sein Schwert sauste nieder, der Schatten fiel.
Der Bannerführer bellte Befehle, drei Soldaten umstellten Mahuika, die übrigen sicherten die Lichtung. Eine Minute lang verharrten alle in angespanntem Lauschen, doch der Wald blieb still. Nur von der niedergestreckten Gestalt drang ein leises Stöhnen herüber.
»Es ist der Schüler des Wundenbrenners aus Orofar«, verkündete die Wache, die sich verteidigt hatte.
»Tatsächlich?« Der Bannerführer trat hinzu. »Was für ein Dummkopf.«
»Soll ich es zu Ende bringen?«, fragte die Wache.
Die Antwort erfolgte nicht sofort, der Bannerführer schien zu überlegen. »Er ist keine Gefahr«, sagte er dann.
»Er ist ein Schamane«, warnte die Wache. »In den Provinzen gibt es immer noch viele, die ihm ihre Ohren leihen werden. Er wird schildern, was ihm wiederfahren ist.«
»Wenn er überlebt«, bemerkte der Bannerführer gleichgültig. »Aber ja, soll er doch seine Geschichte erzählen. Lasst die Welt erfahren, dass das Zeitalter der Mandrêbanim sein Ende gefunden hat.«
»Jawohl.« Die Wache kniete sich neben den Verwundeten, wischte ihr Schwert an dessen Gewand ab.
»Sieh nach, ob er irgendwas Brauchbares dabei hat.« Er drehte sich seiner Truppe zu. »Wir werden uns einen neuen Platz zum Rasten suchen.«
Nach einer Meile erreichten sie ein Felsplateau, auf dem sie ihr neues Lager aufschlugen. Bis zum Morgen lag Mahuika wach. Warum hatte Kidogo die Soldaten angegriffen? Wo war sein Meister? Offenbar hatten die Soldaten die Mandrêbanim bereits einmal getroffen – was war geschehen? Kalt glitt die Ahnung in Mahuika, dass sie selbst einen Teil der Schuld zu tragen hatte.
Sie war dankbar, als die Soldaten sich endlich aus ihren Decken schälten und zum Aufbruch fertig machten. In Kidogos Ranzen hatten sie Nüsse und Beeren gefunden, die sie unter sich aufteilten. Asil bot Mahuika welche an, und obwohl sie die blaue Farbe besaßen, von welcher der alte Mandrêb gesprochen hatte, winkte sie ab. Zu fest saß der Knoten in ihrem Magen. Umso erleichterter war sie allerdings darüber, dass Asil ihr die Beinfessel löste, und sie ihren Rücken wieder strecken konnte.
Sie hatte sich gerade aufgerichtet, den ersten vorsichtigen Schritt getan, als einer der Soldaten zu würgen begann. Der neben ihm stand, klopfte ihm lachend auf den Rücken, dann erbrach er sich selbst. Innerhalb einer Minute erlitten die übrigen Soldaten dasselbe Schicksal; fielen auf die Knie, krümmten sich am Boden. Der Bannerführer deutete mit flatternden Augenlidern auf Mahuika; doch bevor er einen Befehl sprechen konnte, trat ihm Schaum auf die Lippen. Seine Muskeln versagten ihren Dienst, zuckend schlug er auf den Fels.
In Angst und Verwirrung sah Mahuika sich um. Manche der Krieger wälzten sich noch, andere bewegten sich nicht mehr. Niemand beachtete sie. Einem der Reglosen zog sie ein Messer aus dem Gürtel, hielt es mit den Zähnen, rieb ihre Fessel an der Klinge. Es dauerte quälend lange. Endlich gab das Seil nach, mit einem Ruck zerriss Mahuika die letzten Fasern. Das vielstimmige Stöhnen, das sie umgab, war leiser geworden, aber nicht weniger grausig.
Ohne nachzudenken, packte sie den Beutel, aus dem Asil ihr gestern das Brot gegeben hatte, steckte ihn in Kidogos Ranzen, griff noch nach einem Wasserschlauch und rannte davon.
Weitere Kapitel:
Ein süßer Duft kam aus der Küche. Aki schlich zur Türe und schnupperte. Mohnkringel. Die liebte sie am meisten. Morgen war Sommersonnenwende, alle im Palast waren ganz aufgeregt deshalb. Aki auch. Aber eigentlich mochte sie Feste nicht, dann musste man die ganze Zeit still sitzen, und die Erwachsenen tranken Wein und lachten über Sachen, die überhaupt nicht witzig waren. Außer Mama, die schaute ganz ernst, und manchmal sagte sie irgendwas, und alle mussten traurig nicken. Manchmal schrien auch alle ganz plötzlich Tiratanga!, und danach lachten sie wieder, und zwar so laut, dass Aki sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte. Aber das durfte sie nicht, sie durfte nur sitzen und brav sein, sonst gar nichts.
Sie steckte ihren Kopf in die Küche, niemand da. Die Küche war riesig. Einmal hatte Aki die Öfen zählen wollen, aber ihre Finger hatten nicht gereicht. Um zu den Mohnkringeln zu kommen, musste sie an den Gemüsepfannen vorbei. Aki streckte den Pfannen ihre Zunge entgegen, sie hasste Gemüse, vor allem Karotten.
»Was macht Ihr hier, Prinzessin?«
Schnell duckte sie sich unter einen Tisch. Aber die Köchin hatte sie schon gesehen, kniete sich neben sie.
»Ich will Mutter einen Mohnkringel holen.«
Die Köchin schüttelte den Kopf. »Und es war keine Magd zugegen?«
»Es soll eine Überraschung sein«, sagte Aki trotzig, während sie unter dem Tisch hervorkroch.
»Du hättest trotzdem eine Magd schicken können.«
»Morgen ist doch Sonnenwende, alle arbeiten irgendwas.«
»Na gut«, die Köchin lächelte. »Du bist auf jeden Fall diejenige Schwester mit dem schauspielerischen Talent.«
»Ich habe keine Schwester«, widersprach Aki.
Da guckte die Köchin, als habe sie ein Stück Kohle im Mund.
Das verwirrte Aki so, dass sie den ganzen Tag an nichts anderes denken konnte. Am Abend fragte sie Mama, warum die Köchin das gesagt hatte. Auf einmal hatte auch Mama ein Stück Kohle im Mund. Aber Aki fragte noch mal, und da sagte Mama ganz leise, dass Aki es fast nicht hören konnte: »Du hattest einmal eine.«
Erst Jahre später hatte Mahuika erfahren, dass ihre große Schwester von Mutters Hand gestorben war. So wie ihre kleine von Mahuikas eigener hätte sterben sollen. Die Finsternis sollte diese verfluchten Rituale holen. Mahuika hatte ihre kleine Schwester kaum gekannt. Von Anfang an hatte der Tempel Torokaha von ihr ferngehalten. Wer im Namen des Himmels hatte sich eine solche Thronfolge ausgedacht? Gleich, ob es ein Mensch oder eine Göttin gewesen war – mit Freude würde Mahuika den Verantwortlichen den Schädel einschlagen.
Während sie sich durch den Schnee kämpfte, dachte sie an die beiden Mandrêbanim zurück. Was musste das für ein Leben sein – frei umherstreifen zu dürfen, kein Ziel zu haben außer der nächsten Siedlung, dem nächsten Dorf? Hilfe anbieten zu dürfen, statt Unterwerfung einfordern zu müssen. Als Mensch behandelt zu werden, ehrlich, ohne Angst und ohne Schmeicheleien? Als Mensch behandelt zu werden, und nicht als Erbin Tiratangas?
Nun, den Thron hatte sie zurückgewiesen, den Anspruch auf Tiratanga hatte sie verwirkt. Aber das machte sie nicht frei. Mahuika gab sich keinen falschen Hoffnungen hin; der Hohe Rat würde sie jagen – wenn es sein musste, bis zur anderen Seite des Ozeans.
Das Wandern im Dunkeln war unauffälliger und half gegen die Kälte; doch in der ersten Nacht, nachdem sie die heißen Quellen verlassen hatte, war sie mehrmals fast in den Tod gestürzt. Also hatte sie sich entschieden, den Tag zu nutzen und erst am Abend zu rasten. Sie schlief unruhig; bevor der Morgen dämmerte, brach sie wieder auf. Erschöpfung und Kälte hatten sich tief in ihre Knochen gefressen, ihre Beine wehrten sich gegen jeden weiteren Schritt. Immerhin taute der Schnee bereits, versickerte im Fels. Kurz nach Mittag entdeckte sie eine windgeschützte Stelle und beschloss, eine Pause zu machen. Aus dem Beutel, den der alte Schamane ihr gegeben hatte, nahm sie eine Handvoll Nüsse, kaute sie einzeln, bedächtig. Hunger. Ihr Leben lang hatte sie das Wort benutzt. Aber erst vor wenigen Wochen hatte sie erfahren, was es bedeutete. Die Nüsse würden nicht lange reichen. Von den blauen Beeren, die der Schamane erwähnt hatte, hatte sie noch keine gesehen. Nachdem sie die letzte Nuss verzehrt hatte, holte sie Luft, um sich hochzustemmen. Gleich, sagte sie sich, gleich.
»Aufwachen, Missgestalt.« Benommen öffnete sie die Augen. Und war sofort hellwach. Über ihr drohte ein ranaischer Krieger. Mahuika sprang auf, rannte los – und wurde von den Beinen gerissen. Eine Kette hatte sich um ihre Knöchel gewickelt. Verzweifelt warf sie sich herum, versuchte, sich aus der Fessel zu befreien. Eine zweite Kette pfiff durch die Luft, schlug um ihren Oberkörper, presste ihr den Atem aus den Lungen.
»Glaubst du«, fragte der Bannerführer, der sie getreten hatte, »wir folgen dir durch halb Tiratanga, und nachdem wir dich gefunden haben, lassen wir dich wieder laufen?«
Keuchend kämpfte sie gegen ihre Fesseln an. Eine Kettenschleuder – die ranaischen Legenden waren voll davon. Genutzt wurden sie kaum. Die Ausbildung kostete Jahre, nur die Palastwache leistete sich diesen Aufwand. Mahuika gab ihren Widerstand auf, musterte den Bannerführer genauer. Tatsächlich – sein gelb gefiederter Helmbusch ließ keine Zweifel zu: Der Trupp gehörte zur Palastwache.
Bevor sie sich fragen konnte, was das zu bedeuten hatte, wurde sie von harten Händen gepackt und hochgerissen. Wäre sie in Tiratanga gegen ihren Willen nur berührt worden, hätte man dem Unverschämten das Herz aus der Brust geschnitten ... früher zumindest. Mahuika war keine Prinzessin mehr, nicht einmal mehr eine Satrapa. Mit dem Verlust ihres Hauses war sie zu einer Gefallenen geworden, so wenig wert wie eine Besitzlose, weniger.
»Bannerführer«, fragte Mahuika, »hat Torokaha Euch geschickt?«
Der Bannerführer schlug ihr ins Gesicht und befahl seinen Männern: »Bindet ihr die Arme, aber macht die Beine frei, sie soll laufen können. Im ersten Dorf, auf das wir stoßen, trinken wir, bis die Sterne aus dem Himmel fallen.«
Die Männer johlten, Mahuika spuckte Blut.
Die Häscher machten bis zum Abend keinen Halt. An Flucht war nicht zu denken; man hatte Mahuika in die Mitte genommen. Einer der Männer zog sie an einem Seil hinter sich her, das man mit ihren zusammengebundenen Händen verknotet hatte. Während Mahuika sich mühsam auf den Beinen hielt, ihrem Verderben entgegentaumelnd, konnte sie an nichts anderes denken als an ihre kleine Schwester. Warum hatte diese ihre eigene Leibwache geschickt? Dass die Hohepriesterin Mahuika jagen lassen würde, war unausweichlich gewesen; wenn sie Mahuikas Flucht hinnähme, wäre ihr ganzer lächerlicher Glaube ... nun ja, lächerlich gemacht. Aber Torokaha? So weit Mahuika wusste, galten nur unmündige Opfer als entehrt, wenn das Ritual nicht zu Ende geführt wurde. Torokaha jedoch hatte sich als würdig erwiesen, der Thron stand ihr zu. Nur wenige Male hatte Mahuika ihre Schwester gesehen. In ihrer Erinnerung hatte es sich um ein zurückhaltendes, sanftes Mädchen gehandelt. Hatte sie sich getäuscht? Und welche Rolle spielte der Hohe Rat? Je länger Mahuikas Gedanken kreisten, desto sicherer wurde sie sich, dass die Schlange Sokai eine Rolle spielen musste.
Der Wald war dicht geworden. Auf einer Lichtung machten die Krieger ein Feuer und brieten ein Eichhörnchen, das einer der Kettenwerfer unterwegs zur Strecke gebracht hatte. Ein einzelnes Eichhörnchen für einen zehn Mann starken Trupp – Mahuika hoffte gar nichts erst darauf, etwas abzubekommen. Immerhin bekam sie von einem Soldaten mit einer furchteinflößend mächtigen Nase einen Wasserschlauch gereicht, außerdem etwas Brot. Es war steinhart. Beim Kauen bemerkte sie, dass ihre Lippe aufgeplatzt war, vermutlich vom Hieb des Bannerführers. Wie nachdrücklich hatte ihre Schwester wohl befohlen, sie lebendig nach Ranui zurückzubringen? Mahuika fragte lieber nicht nach.
Zwei Wachen wurden aufgestellt, der Rest legte sich schlafen.
Der eine Wächter hockte sich zu ihr. »Wisst Ihr, Eure Hoheit«, sagte er, während er zwischen seinen Zähnen herumpulte, »Ihr wärt eine gute Königin geworden. Besser als Eure Mutter.« Es war der Mann, der ihr den Wasserschlauch gegeben hatte.
Mahuika, der man inzwischen Hände und Füße zusammengebunden hatte, verzichtete auf eine Antwort. Im Wald rief ein Uhu.
»Aber dass Ihr das Ritual gestört habt ...« Der Soldat rieb sich seine klobige Nase. »Das hättet Ihr nicht tun sollen.«
Mahuika fragte sich, ob sie dem Mann schon einmal begegnet war. Aber sie musste sich eingestehen: Sie erinnerte sich an kaum eines der Gesichter der Palastwache. Tag und Nacht war sie von den Kriegern umgeben gewesen, aber wahrgenommen hatte Mahuika sie kaum mehr als die Teppiche an den Wänden.
»Die Goldene Göttin hat Euch erwählt. Warum bloß habt Ihr sie zurückgewiesen?« In der Stimme des Mannes lag ehrliche Betroffenheit.
»Wie heißt du?«, fragte Mahuika.
»Asil, Herrin.«
»Wofür lebst du, Asil?«
»Für Ranui.«
»Was bedeutet das?«
»Im Namen Atua-Kores den Ruhm des Reiches zu mehren.«
»Und warum?«
»Weil es meine Pflicht ist. Ich habe es geschworen.«
»Warum hast du den Schwur geleistet?« Während die gewöhnliche Armee ihre Ränge zum größten Teil aus den Provinzen füllte, nahm die Palastwache nur Freiwillige auf.
Der Mann zögerte.
»Verrate es mir.«
»Meine Eltern waren Flößer«, gestand er schließlich.
»Du wolltest, dass sie stolz auf dich sind.«
Eine Weile war nur der einsame Uhu zu hören, und der Wind im vom Winter noch kahlen Geäst der Bäume.
»Nein«, sagte der Soldat kleinlaut. »Ich wollte so weit weg von ihnen sein wie möglich. Ich wollte ein anderes Leben.«
»So oder so – es waren Menschen, die dich zur Armee gebracht haben.« Ächzend verlagerte sie ihr Gewicht. Die Fesseln zwangen sie zu einer schmerzhaft gekrümmten Haltung. »Ich glaube, die großen Entscheidungen treffen wir wegen der Menschen, die uns umgeben; die uns nahe stehen. Es gibt kein Reich ohne die Menschen darin. Was ist eine Göttin ohne Menschen, die an sie glauben?«
»Eure Hoheit ... Ihr ... das ist ...« Hastig schlug Asil das Schutzzeichen wider die leibhaftige Versuchung.
»Ich konnte es nicht«, sagte Mahuika schlicht. »Töten im Auftrag einer Göttin, die ich nicht verstehe.« Leiser fügte sie hinzu: »Und ich weiß nicht, wie Mutter es vermocht hat.«
»Angriff!«, brüllte die andere Wache vom Rande der Lichtung. Bevor Mahuika den Kopf drehen konnte, waren die Schlafenden bereits wach und auf den Beinen, die Schwerter gezogen, die Ketten schwingend.
Auf den Mann, der Alarm geschlagen hatte, hatte sich ein Schatten gestürzt, ein Messer blitzte im Sternenlicht. Doch der Angegriffene diente in der Leibwache der Königin Tiratangas; hatte die härteste Ausbildung genossen zwischen Ozean und Ozean. Blitzschnell wich er zur Seite, riss den Schild hoch, sein Schwert sauste nieder, der Schatten fiel.
Der Bannerführer bellte Befehle, drei Soldaten umstellten Mahuika, die übrigen sicherten die Lichtung. Eine Minute lang verharrten alle in angespanntem Lauschen, doch der Wald blieb still. Nur von der niedergestreckten Gestalt drang ein leises Stöhnen herüber.
»Es ist der Schüler des Wundenbrenners aus Orofar«, verkündete die Wache, die sich verteidigt hatte.
»Tatsächlich?« Der Bannerführer trat hinzu. »Was für ein Dummkopf.«
»Soll ich es zu Ende bringen?«, fragte die Wache.
Die Antwort erfolgte nicht sofort, der Bannerführer schien zu überlegen. »Er ist keine Gefahr«, sagte er dann.
»Er ist ein Schamane«, warnte die Wache. »In den Provinzen gibt es immer noch viele, die ihm ihre Ohren leihen werden. Er wird schildern, was ihm wiederfahren ist.«
»Wenn er überlebt«, bemerkte der Bannerführer gleichgültig. »Aber ja, soll er doch seine Geschichte erzählen. Lasst die Welt erfahren, dass das Zeitalter der Mandrêbanim sein Ende gefunden hat.«
»Jawohl.« Die Wache kniete sich neben den Verwundeten, wischte ihr Schwert an dessen Gewand ab.
»Sieh nach, ob er irgendwas Brauchbares dabei hat.« Er drehte sich seiner Truppe zu. »Wir werden uns einen neuen Platz zum Rasten suchen.«
Nach einer Meile erreichten sie ein Felsplateau, auf dem sie ihr neues Lager aufschlugen. Bis zum Morgen lag Mahuika wach. Warum hatte Kidogo die Soldaten angegriffen? Wo war sein Meister? Offenbar hatten die Soldaten die Mandrêbanim bereits einmal getroffen – was war geschehen? Kalt glitt die Ahnung in Mahuika, dass sie selbst einen Teil der Schuld zu tragen hatte.
Sie war dankbar, als die Soldaten sich endlich aus ihren Decken schälten und zum Aufbruch fertig machten. In Kidogos Ranzen hatten sie Nüsse und Beeren gefunden, die sie unter sich aufteilten. Asil bot Mahuika welche an, und obwohl sie die blaue Farbe besaßen, von welcher der alte Mandrêb gesprochen hatte, winkte sie ab. Zu fest saß der Knoten in ihrem Magen. Umso erleichterter war sie allerdings darüber, dass Asil ihr die Beinfessel löste, und sie ihren Rücken wieder strecken konnte.
Sie hatte sich gerade aufgerichtet, den ersten vorsichtigen Schritt getan, als einer der Soldaten zu würgen begann. Der neben ihm stand, klopfte ihm lachend auf den Rücken, dann erbrach er sich selbst. Innerhalb einer Minute erlitten die übrigen Soldaten dasselbe Schicksal; fielen auf die Knie, krümmten sich am Boden. Der Bannerführer deutete mit flatternden Augenlidern auf Mahuika; doch bevor er einen Befehl sprechen konnte, trat ihm Schaum auf die Lippen. Seine Muskeln versagten ihren Dienst, zuckend schlug er auf den Fels.
In Angst und Verwirrung sah Mahuika sich um. Manche der Krieger wälzten sich noch, andere bewegten sich nicht mehr. Niemand beachtete sie. Einem der Reglosen zog sie ein Messer aus dem Gürtel, hielt es mit den Zähnen, rieb ihre Fessel an der Klinge. Es dauerte quälend lange. Endlich gab das Seil nach, mit einem Ruck zerriss Mahuika die letzten Fasern. Das vielstimmige Stöhnen, das sie umgab, war leiser geworden, aber nicht weniger grausig.
Ohne nachzudenken, packte sie den Beutel, aus dem Asil ihr gestern das Brot gegeben hatte, steckte ihn in Kidogos Ranzen, griff noch nach einem Wasserschlauch und rannte davon.