7. Kapitel
Das ewige Reich Atua-Kores war nicht golden, sondern schwarz. Und die Seele flog nicht leicht wie ein Vogel, sondern war in einen Käfig aus Eisnadeln gesperrt. Die Leiden des Leibes hatten sich nicht aufgelöst, sondern umhüllten die ganze Welt. Hatte Atua-Kore ein falsches Versprechen gegeben? Eine überwältigende Angst erfasste Amokapua. Wenn die Göttin nicht aufrichtig gewesen war, dann blieb nichts als Finsternis, in Ewigkeit. Verzweifelt schrie sie in die Dunkelheit hinein, doch die Dunkelheit schwieg.
»Mutter.«
Ein Wort wie ein Lichtstrahl. Wenn es Wörter wie dieses gab, war die Finsternis nicht endgültig. Eine bange Hoffnung keimte in Amokapua, angestrengt lauschte sie in die Nacht.
»Mutter. Hört Ihr mich?«
Mit jedem Wort wich das Dunkel weiter zurück. »Ich bin hier, mein Kind.« Sie sagte es, doch kein Laut verließ ihre Lippen. »Mein Kind!« Panisch schrie sie es hinaus. »Meine Tochter!« Doch ihr Mund blieb stumm.
Eine Nacht ohne Sterne. Amokapua schwamm in einem Meer aus schwarzer Tinte, und aus der Tiefe griffen Dämonen nach ihren Gliedern. Ein Schimmern am Horizont. Das Boot Atua-Kores? Amokapua versuchte, nach ihm zu greifen, aber von unten zogen die Dämonen an ihr.
»Mutter.«
So leise, so fern – von jenseits des Meeres musste das Wort gesprochen sein. »Hier«, flüsterte Amokapua, »ich bin hier.«
Warme Haut an ihren Fingern. Eine Hand. Amokapua klammerte sich an ihr fest und hörte nicht auf das Brüllen der Dämonen. Langsam wurde sie aus dem öligen Ozean gezogen. Zurück in eine Welt, in der es Körper gab.
»Hört Ihr mich?«
Körper und Ohren und Augenlider. Ein Kopf, der schwerer war als der, den Amokapua früher besessen hatte. Sie brauchte all ihre Kraft, die Lider zu heben.
»Ihr seid wach.«
In der Dunkelheit schimmerte ein Gesicht, Amokapua konnte nur die Umrisse erkennen. Trotzdem wusste sie, wem es gehörte.
»Sokai«, flüsterte sie, und die Silben brannten in ihrem Hals. Sie spürte Regentropfen. Nein, nicht Regen. Die Tränen ihrer Tochter.
Als Amokapua das nächste Mal zu sich kam, gelang es ihr ohne Mühe, die Augen zu öffnen. Sogar der Kopf ließ sich drehen. Sofort rannte eine Akolythin herbei, bot ihr eine Schale mit Wasser an. Amokapua trank, dann sah sie sich um. Sie befand sich im Tempel, in ihrem eigenen Gemach. Eine zweite Akolythin war ans Bett getreten, eine dritte stand am Fußende. Am Fenster stand eine Priesterin in blauer Robe. Auf den Brustbereich war ein goldener Ring gestickt, der einer Sonne nachempfunden war. Es handelte sich um das Zeichen der dreifach Geweihten. Kaïkopura, die Hand Atua-Kores. Nur Amokapua selbst – als der Mund Atua-Kores – besaß einen höheren Rang. Zwei Kriegerinnen bewachten die Tür.
»Wo ist meine Tochter?«
Das Mädchen am Fußende des Bettes verbeugte sich und eilte aus dem Raum.
Amokapua spürte ihren Körper, nahm ihren Atem wahr, sah die ängstlichen Blicke der Akolythinnen. Sie lebte. Die Erkenntnis beunruhigte sie; sie hatte den Tod berührt, und er war kälter gewesen, als Atua-Kore es versprochen hatte. Weshalb hatte die Goldene Göttin ihr Licht nicht entsandt? Oder war es nicht hell genug gewesen, um die Finsternis zu durchdringen? Die quälendste Frage war, ob Atua-Kore nicht hatte helfen wollen – oder es nicht vermocht hatte. Beides war eine schauerliche Vorstellung.
Die Tür öffnete sich, und Sokai rauschte herein. »Mutter.«
»Mein Kind.« Ihr schönes, schönes Kind. Hätte sie die Kraft besessen, hätte sie ihm über die Wange gestrichen.
Eine Weile sagte keine ein Wort. Reglos saß Sokai auf der Bettkante, mit stillen, warmen Fingern hielt sie Amokapuas Hand. Eine Wärme, schoss es Amokapua bitter durch den Kopf, wie Atua-Kore sie ihren Dienerinnen versprochen hatte.
»Warum die Wachen?«
»Ihr wurdet vergiftet, Mutter.«
Bruchstücke einer Erinnerung. »Das Frühjahrsgebet.«
»Ja.«
»Das Ritual ...?«
»Werden wir vollenden, sobald Ihr wieder bei Kräften seid.«
»War es Torokaha?«
»Die Euch vergiftet hat?« Ihre Tochter verzog das Gesicht. »Sie leugnet. Wir haben den ganzen Palast umgekrempelt, ihren ganze Hof befragt, ohne den geringsten Hinweis zu finden.«
»Wer dann?«, fragte sich die Hohepriesterin matt. »Hat Atua-Kore uns nicht ein Reich geschenkt, das von Ozean zu Ozean reicht? Wer könnte sich an ihrer Dienerin vergehen wollen?«
Die Angesprochene warf einen verstohlenen Blick zu Kaïkopura. Obwohl ihre Tochter die Unterstellung nicht einmal ausgesprochen hatte, schnaubte Amokapua vor Empörung. »Frevel.« Der Dienst an Atua-Kore erlaubte keinen Stolz; Demut war das Erste, was den Akolythinnen beigebracht wurde. Keine Priesterin würde nach einem anderen Platz streben als dem, den Atua-Kore ihr zuwiese.
Sokai zuckte gleichgültig die Schultern. »Die Styrkur vielleicht.«
»Pah«, lachte Amokapua auf, ein Fehler, denn das Lachen geriet zu einem Husten, der sie minutenlang schüttelte.
»Ihr solltet Euch schonen, Eure Heiligkeit«, warf Kaïkopura vom Fenster her ein.
»Die Styrkur sind Schmeißfliegen«, röchelte Amokapua. »Ihre Boote reichen aus, ihre Insel zu schützen, aber niemals würden sie wagen, uns direkt herauszufordern. Es wäre ihr Ende.«
»Sie sind der einzige äußere Feind, den wir noch haben.«
»Dennoch«, murmelte Amokapua erschöpft. Der Wortwechsel und das Husten hatten ihre Stirn zum Glühen gebracht. »Eines der Hohen Häuser muss seine Finger im Spiel haben.«
»Welches?«
»Du bist die Sprecherin des Hohen Rates. Wer hat einen besseren Überblick darüber, welche Ziele die einzelnen Mitglieder verfolgen?«
»Ich kümmere mich.«
»Vielleicht Haus Laki?«
»Alandra Laki hasst ihre Nichte, ich glaube nicht, dass sie gemeinsame Sache mit ihr macht.«
»Wer dann?«
Eine Akolythin trat heran, legte ihr ein feuchtes Tuch auf die Stirn. Sokai, sichtlich gestört von der Unterbrechung, warf dem Mädchen einen zornigen Blick zu, sagte aber nichts. Nach der Königin war sie die mächtigste Frau in Ranui – doch an der Schwelle des Tempelportals endete alle weltliche Macht.
»Seit Prinzessin Mahuika verschwunden ist«, erklärte sie, nachdem die Akolythin wieder zurückgetreten war, »gibt es kaum ein Haus, das nicht versucht, seine Position zu verbessern. Wir haben keine Königin. Beinahe hätten wir auch noch unsere Hohepriesterin verloren. Es brodelt in Ranui. Wenn wir nicht bald für Ordnung sorgen, werden Leichen in den Kanälen treiben.«
»Ich werde das Frühjahrsgebet sprechen, sobald ich aus dem Bett komme. Das Volk muss sehen, dass Atua-Kore uns nicht verlassen hat.« Ein kleiner Stich ins Herz, als der Name der Göttin ihre Lippen verließ.
»Was, wenn das nicht reicht?«, wandte Sokai ein. »Wenn die Unsicherheit um sich greift? Oder wenn ein neuer Anschlag kommt? In Zeiten ohne Königin wiegt kein Wort schwerer als das der Hohepriesterin.«
Amokapua schonte ihre Kräfte, sah ihre Tochter nur fragend an.
»Die Sommersonnenwende ist zu fern«, erklärte diese, »um eine neue Königin zu küren. Bitte, Mutter, bestimmt einen Tag, der näher liegt.«
»Rituale sind heilig ...«
»Sie müssen nicht immer am selben Tag stattfinden. Es gab Ausnahmen ... ich war in der Bücherei.«
Seitdem Amokapua Torokaha das Reich versagt hatte, hatte sie mit einem unheilvollen Gedanken zu kämpfen gehabt. Zum ersten Mal sprach sie ihn aus: »Was ist, wenn das Los auf dich fällt? Bist du bereit, das Opfer zu bringen?« Sokai hatte keine Kinder und keine Schwestern. Wenn der Rat sie zur Königin bestimmte, würde sie ihren ältesten Bruder töten müssen.
Sokai zupfte das nasse Tuch zurecht.
»Bist du bereit?«
Als Sokai sprach, sprach sie langsam, bedächtig. »Der Hohe Rat hätte mich nicht zu seiner Sprecherin gewählt, wenn er sich nicht sicher gewesen wäre, dass ich das Wohl des Reiches immer vor mein eigenes stellen werde.«
Am Fenster atmete Kaïkopura hörbar aus. Amokapua ahnte, wieso – ihre Tochter hatte nicht den Ruf, ihr eigenes Wohl oft aus dem Blick zu verlieren.
»Und Ihr?«, fragte Sokai ihre Mutter, »wärt Ihr bereit?«
Niemand außer der Hohepriesterin selbst konnte eine Entscheidung des Rates zurücknehmen. »Niemals«, murmelte Amokapua. »Aber ich würde meine Pflicht tun.«
»Wenn es Euer Wille ist, stehe ich an Eurer Seite«, sagte Kaïkopura. Um die Regeln eines Rituals zu ändern, konnte Amokapua nicht einfach die Münzen werfen. Vorher musste sie mindestens drei Priesterinnen die Möglichkeit gegeben haben, Einspruch zu erheben – oder der Hand Atua-Kores, Kaïkopura, die als dreifach Geweihte drei Stimmen besaß.
Amokapua spürte die Hand ihrer Tochter auf den Fingern. Die Müdigkeit zerrte an ihren Lidern. »Die Tradition verlangt, eine Königin in der Nacht der Sommersonnenwende zu weihen. Doch das Reich ist in Aufruhr, es braucht seine Königin. Wir wollen Atua-Kore um Erlaubnis bitten, die Weihe bereits früher durchzuführen.«
»Wann?«, fragte Kaïkopura, immer noch am Fenster.
»Sobald der Mond sich gefüllt hat.«
Kaïkopura senkte den Kopf. Es war beschlossen.
Weitere Kapitel:
Das ewige Reich Atua-Kores war nicht golden, sondern schwarz. Und die Seele flog nicht leicht wie ein Vogel, sondern war in einen Käfig aus Eisnadeln gesperrt. Die Leiden des Leibes hatten sich nicht aufgelöst, sondern umhüllten die ganze Welt. Hatte Atua-Kore ein falsches Versprechen gegeben? Eine überwältigende Angst erfasste Amokapua. Wenn die Göttin nicht aufrichtig gewesen war, dann blieb nichts als Finsternis, in Ewigkeit. Verzweifelt schrie sie in die Dunkelheit hinein, doch die Dunkelheit schwieg.
»Mutter.«
Ein Wort wie ein Lichtstrahl. Wenn es Wörter wie dieses gab, war die Finsternis nicht endgültig. Eine bange Hoffnung keimte in Amokapua, angestrengt lauschte sie in die Nacht.
»Mutter. Hört Ihr mich?«
Mit jedem Wort wich das Dunkel weiter zurück. »Ich bin hier, mein Kind.« Sie sagte es, doch kein Laut verließ ihre Lippen. »Mein Kind!« Panisch schrie sie es hinaus. »Meine Tochter!« Doch ihr Mund blieb stumm.
Eine Nacht ohne Sterne. Amokapua schwamm in einem Meer aus schwarzer Tinte, und aus der Tiefe griffen Dämonen nach ihren Gliedern. Ein Schimmern am Horizont. Das Boot Atua-Kores? Amokapua versuchte, nach ihm zu greifen, aber von unten zogen die Dämonen an ihr.
»Mutter.«
So leise, so fern – von jenseits des Meeres musste das Wort gesprochen sein. »Hier«, flüsterte Amokapua, »ich bin hier.«
Warme Haut an ihren Fingern. Eine Hand. Amokapua klammerte sich an ihr fest und hörte nicht auf das Brüllen der Dämonen. Langsam wurde sie aus dem öligen Ozean gezogen. Zurück in eine Welt, in der es Körper gab.
»Hört Ihr mich?«
Körper und Ohren und Augenlider. Ein Kopf, der schwerer war als der, den Amokapua früher besessen hatte. Sie brauchte all ihre Kraft, die Lider zu heben.
»Ihr seid wach.«
In der Dunkelheit schimmerte ein Gesicht, Amokapua konnte nur die Umrisse erkennen. Trotzdem wusste sie, wem es gehörte.
»Sokai«, flüsterte sie, und die Silben brannten in ihrem Hals. Sie spürte Regentropfen. Nein, nicht Regen. Die Tränen ihrer Tochter.
Als Amokapua das nächste Mal zu sich kam, gelang es ihr ohne Mühe, die Augen zu öffnen. Sogar der Kopf ließ sich drehen. Sofort rannte eine Akolythin herbei, bot ihr eine Schale mit Wasser an. Amokapua trank, dann sah sie sich um. Sie befand sich im Tempel, in ihrem eigenen Gemach. Eine zweite Akolythin war ans Bett getreten, eine dritte stand am Fußende. Am Fenster stand eine Priesterin in blauer Robe. Auf den Brustbereich war ein goldener Ring gestickt, der einer Sonne nachempfunden war. Es handelte sich um das Zeichen der dreifach Geweihten. Kaïkopura, die Hand Atua-Kores. Nur Amokapua selbst – als der Mund Atua-Kores – besaß einen höheren Rang. Zwei Kriegerinnen bewachten die Tür.
»Wo ist meine Tochter?«
Das Mädchen am Fußende des Bettes verbeugte sich und eilte aus dem Raum.
Amokapua spürte ihren Körper, nahm ihren Atem wahr, sah die ängstlichen Blicke der Akolythinnen. Sie lebte. Die Erkenntnis beunruhigte sie; sie hatte den Tod berührt, und er war kälter gewesen, als Atua-Kore es versprochen hatte. Weshalb hatte die Goldene Göttin ihr Licht nicht entsandt? Oder war es nicht hell genug gewesen, um die Finsternis zu durchdringen? Die quälendste Frage war, ob Atua-Kore nicht hatte helfen wollen – oder es nicht vermocht hatte. Beides war eine schauerliche Vorstellung.
Die Tür öffnete sich, und Sokai rauschte herein. »Mutter.«
»Mein Kind.« Ihr schönes, schönes Kind. Hätte sie die Kraft besessen, hätte sie ihm über die Wange gestrichen.
Eine Weile sagte keine ein Wort. Reglos saß Sokai auf der Bettkante, mit stillen, warmen Fingern hielt sie Amokapuas Hand. Eine Wärme, schoss es Amokapua bitter durch den Kopf, wie Atua-Kore sie ihren Dienerinnen versprochen hatte.
»Warum die Wachen?«
»Ihr wurdet vergiftet, Mutter.«
Bruchstücke einer Erinnerung. »Das Frühjahrsgebet.«
»Ja.«
»Das Ritual ...?«
»Werden wir vollenden, sobald Ihr wieder bei Kräften seid.«
»War es Torokaha?«
»Die Euch vergiftet hat?« Ihre Tochter verzog das Gesicht. »Sie leugnet. Wir haben den ganzen Palast umgekrempelt, ihren ganze Hof befragt, ohne den geringsten Hinweis zu finden.«
»Wer dann?«, fragte sich die Hohepriesterin matt. »Hat Atua-Kore uns nicht ein Reich geschenkt, das von Ozean zu Ozean reicht? Wer könnte sich an ihrer Dienerin vergehen wollen?«
Die Angesprochene warf einen verstohlenen Blick zu Kaïkopura. Obwohl ihre Tochter die Unterstellung nicht einmal ausgesprochen hatte, schnaubte Amokapua vor Empörung. »Frevel.« Der Dienst an Atua-Kore erlaubte keinen Stolz; Demut war das Erste, was den Akolythinnen beigebracht wurde. Keine Priesterin würde nach einem anderen Platz streben als dem, den Atua-Kore ihr zuwiese.
Sokai zuckte gleichgültig die Schultern. »Die Styrkur vielleicht.«
»Pah«, lachte Amokapua auf, ein Fehler, denn das Lachen geriet zu einem Husten, der sie minutenlang schüttelte.
»Ihr solltet Euch schonen, Eure Heiligkeit«, warf Kaïkopura vom Fenster her ein.
»Die Styrkur sind Schmeißfliegen«, röchelte Amokapua. »Ihre Boote reichen aus, ihre Insel zu schützen, aber niemals würden sie wagen, uns direkt herauszufordern. Es wäre ihr Ende.«
»Sie sind der einzige äußere Feind, den wir noch haben.«
»Dennoch«, murmelte Amokapua erschöpft. Der Wortwechsel und das Husten hatten ihre Stirn zum Glühen gebracht. »Eines der Hohen Häuser muss seine Finger im Spiel haben.«
»Welches?«
»Du bist die Sprecherin des Hohen Rates. Wer hat einen besseren Überblick darüber, welche Ziele die einzelnen Mitglieder verfolgen?«
»Ich kümmere mich.«
»Vielleicht Haus Laki?«
»Alandra Laki hasst ihre Nichte, ich glaube nicht, dass sie gemeinsame Sache mit ihr macht.«
»Wer dann?«
Eine Akolythin trat heran, legte ihr ein feuchtes Tuch auf die Stirn. Sokai, sichtlich gestört von der Unterbrechung, warf dem Mädchen einen zornigen Blick zu, sagte aber nichts. Nach der Königin war sie die mächtigste Frau in Ranui – doch an der Schwelle des Tempelportals endete alle weltliche Macht.
»Seit Prinzessin Mahuika verschwunden ist«, erklärte sie, nachdem die Akolythin wieder zurückgetreten war, »gibt es kaum ein Haus, das nicht versucht, seine Position zu verbessern. Wir haben keine Königin. Beinahe hätten wir auch noch unsere Hohepriesterin verloren. Es brodelt in Ranui. Wenn wir nicht bald für Ordnung sorgen, werden Leichen in den Kanälen treiben.«
»Ich werde das Frühjahrsgebet sprechen, sobald ich aus dem Bett komme. Das Volk muss sehen, dass Atua-Kore uns nicht verlassen hat.« Ein kleiner Stich ins Herz, als der Name der Göttin ihre Lippen verließ.
»Was, wenn das nicht reicht?«, wandte Sokai ein. »Wenn die Unsicherheit um sich greift? Oder wenn ein neuer Anschlag kommt? In Zeiten ohne Königin wiegt kein Wort schwerer als das der Hohepriesterin.«
Amokapua schonte ihre Kräfte, sah ihre Tochter nur fragend an.
»Die Sommersonnenwende ist zu fern«, erklärte diese, »um eine neue Königin zu küren. Bitte, Mutter, bestimmt einen Tag, der näher liegt.«
»Rituale sind heilig ...«
»Sie müssen nicht immer am selben Tag stattfinden. Es gab Ausnahmen ... ich war in der Bücherei.«
Seitdem Amokapua Torokaha das Reich versagt hatte, hatte sie mit einem unheilvollen Gedanken zu kämpfen gehabt. Zum ersten Mal sprach sie ihn aus: »Was ist, wenn das Los auf dich fällt? Bist du bereit, das Opfer zu bringen?« Sokai hatte keine Kinder und keine Schwestern. Wenn der Rat sie zur Königin bestimmte, würde sie ihren ältesten Bruder töten müssen.
Sokai zupfte das nasse Tuch zurecht.
»Bist du bereit?«
Als Sokai sprach, sprach sie langsam, bedächtig. »Der Hohe Rat hätte mich nicht zu seiner Sprecherin gewählt, wenn er sich nicht sicher gewesen wäre, dass ich das Wohl des Reiches immer vor mein eigenes stellen werde.«
Am Fenster atmete Kaïkopura hörbar aus. Amokapua ahnte, wieso – ihre Tochter hatte nicht den Ruf, ihr eigenes Wohl oft aus dem Blick zu verlieren.
»Und Ihr?«, fragte Sokai ihre Mutter, »wärt Ihr bereit?«
Niemand außer der Hohepriesterin selbst konnte eine Entscheidung des Rates zurücknehmen. »Niemals«, murmelte Amokapua. »Aber ich würde meine Pflicht tun.«
»Wenn es Euer Wille ist, stehe ich an Eurer Seite«, sagte Kaïkopura. Um die Regeln eines Rituals zu ändern, konnte Amokapua nicht einfach die Münzen werfen. Vorher musste sie mindestens drei Priesterinnen die Möglichkeit gegeben haben, Einspruch zu erheben – oder der Hand Atua-Kores, Kaïkopura, die als dreifach Geweihte drei Stimmen besaß.
Amokapua spürte die Hand ihrer Tochter auf den Fingern. Die Müdigkeit zerrte an ihren Lidern. »Die Tradition verlangt, eine Königin in der Nacht der Sommersonnenwende zu weihen. Doch das Reich ist in Aufruhr, es braucht seine Königin. Wir wollen Atua-Kore um Erlaubnis bitten, die Weihe bereits früher durchzuführen.«
»Wann?«, fragte Kaïkopura, immer noch am Fenster.
»Sobald der Mond sich gefüllt hat.«
Kaïkopura senkte den Kopf. Es war beschlossen.