6. Kapitel
Berge des Zorns. Kidogo stapfte an ihren Ausläufern entlang, durch eine eisige, zerklüftete Landschaft; wie Dolche ragten Felsspitzen aus dem Weiß, zerfetzten ihm die Schneeschuhe. Die gewaltige, finstere Spalte, der er gefolgt war, war schmaler geworden, aber noch immer zu breit, um die gegenüberliegende Seite zu erreichen.
Ein Kind der Berge sei er, hatte der Meister gesagt. In Kidogos Ohren klang es wie Hohn. Nichts wollte er sehnlicher, als diese verfluchte Ödnis hinter sich zu lassen. Wie es dem Meister wohl erging? Nein, nicht Meister – Kumbuko. Der Alte hatte keine Macht mehr über ihn. Und hatte selbst dafür gesorgt, dass es so war. Hatte Kidogo vor die Wahl gestellt. Vierundzwanzig Winter hatte Kidogo mit Kumbuko verbracht. Eine Ausbildung hatte es Kumbuko genannt – doch welche Ausbildung dauerte vierundzwanzig Winter? Es gab Königreiche, die kürzer währten.
Wütend starrte Kidogo in die Ferne. Weit und breit kein Fluss zu sehen. Ohne viel zu überlegen, war er der Spalte gefolgt, statt den Bergsattel zu suchen, von dem der Meister ... Kumbuko gesprochen hatte. Vierundzwanzig Winter lang war er ihm gefolgt, und es hatte Kidogo nirgendwo hingeführt. Warum hätte er jetzt, da er mit dem Alten gebrochen hatte, auf ihn hören sollen? Wenn der Fluss ins Meer floss, würde er früher oder später auch so auf jenen stoßen.
Ein Zittern unter ihm. Kidogo stolperte, fing sich wieder. Erschrocken musterte er seine Spuren. War er auf irgendein Lebewesen getreten? Nichts zu erkennen. Aus dem Gebirge rollte ein Donnern heran. Argwöhnisch spähte er in die entsprechende Richtung. Von einem der Hänge hatte sich der Schnee gelöst, rutschte herab, bauschte sich dabei auf, stob hoch, floss über den Himmel wie ein umgestoßener Krug Kokossaft.
Mit offenem Mund betrachtete Kidogo das Spektakel, zu keiner Regung fähig. Die weiße Flut knickte Tannen um und nahm sie schäumend mit sich, ein klirrender Wind war aufgekommen. Obwohl das Unheil hunderte Schritte an Kidogo vorbeirauschte, wirbelte es genug Schnee auf, um auch ihn zu schlucken. Ein rasender grauer Nebel, der so fest an ihm zog, dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Für einige angsterfüllte Minuten konnte Kidogo nichts tun, als sich in den Sturm zu lehnen und den Kopf zwischen die Schultern zu ducken.
Irgendwann legte sich der Nebel. Aus einem wolkenlosen Himmel leuchtete die Sonne in fröhlicher, falscher Unschuld. Berge des Zorns. Langsam ahnte Kidogo, woher der Name kam. Er wollte sich nicht vorstellen, was geschehen wäre, hätte der Schneerutsch ihn direkt getroffen.
Da erzitterte der Boden erneut. Kidogo stockte der Atem. Hastig sah er sich nach dem Gebirge um. Kein Hang war nah genug, dass eine zweite Lawine ihn treffen könnte. Trotzdem, der Ort war ihm nicht geheuer. Mit der Kraft der Angst marschierte er los.
Und schlug der Länge nach hin.
Mehrere bange Herzschläge lang blieb er liegen, versuchte zu verstehen, was passiert war. Der Boden zitterte. Nein, kein Zittern mehr, ein Beben. Unter ihm knackten die Knochen eines Untiers. Voller Furcht rappelte er sich auf, sah sich um. Aus der Tiefe der Spalte drang ein unmenschliches Stöhnen. Der Boden schwankte, wieder wurde Kidogo von den Beinen gerissen. Das Poltern eines Riesen. Der Dorfälteste hatte es gesagt; der Riese sei erwacht. Kidogo sprang auf, rannte. Die Gurte seines Ranzens rutschten, er warf ihn ab, rannte weiter. Egal, wohin, er hatte kein Ziel – nur weg von hier.
Hinter ihm knirschte die Welt. Er sah sich nicht um. Seine Schneeschuhe lösten sich von den Stiefeln, er rannte weiter. Dann fiel er. Nein, nicht er, der Boden selbst senkte sich unter seinen Füßen, brach auseinander. Ohrenbetäubend laut brüllte das Land. Oben und unten vertauschten sich. Von allen Seiten regnete es Erde und Eis. Felsbrocken flogen an ihm vorbei, trafen auf anderen Stein, zerspritzten wie Tonschalen. Von allen Seiten prasselten Schläge auf Kidogos Körper ein, er drehte sich um die eigene Achse, rutschte, fiel, rutschte wieder. Blieb liegen. Lauschte atemlos.
Von oben bröselte noch Sand, doch die Erde selbst schien sich beruhigt zu haben. Benommen hob er den Kopf. Er lag am Grunde einer Kluft, doch die ursprüngliche konnte es nicht sein, vor jener war er ja geflohen. Auch ragten die Kanten nur ein halbes Dutzend Schritt über ihm auf, und befanden sich kaum einen Schritt auseinander. Weder gab es Eiszapfen, noch Vorsprünge, von denen jene hätten herabhängen können.
Langsam kam Kidogo wieder zur Besinnung. Ein Erdbeben. Kein Wunder, dass Tuark von einem Riesen gesprochen hatte. Alle Völker hatten ihre eigenen Erklärungen: Drachen, die aus tausendjährigem Schlaf erwachten; gefallene Götter, die in den Erdkern gesperrt worden waren, und an ihren Ketten zerrten; Feuerdämonen, welche die Erdmutter quälten. Aberglaube, sagte Kumbuko.
Nichtsdestoweniger spähte Kidogo furchtsam in den schmalen Streifen blau, als könnte sich dort jeden Augenblick die Stiefelsohle des vorgeblichen Riesen zeigen. Vorsichtig tastete er seine Glieder ab. Was spielte es für eine Rolle, ob es ein Gott gewesen war, der die Erde aufgerissen hatte? Sterben ließ sich auch so.
Einer seiner Arme war gebrochen, das andere Handgelenk geprellt. Die Beine waren im Geröll begraben, doch nachdem er sie davon befreit hatte, konnte er sie wieder bewegen. Es grenzte an ein Wunder, wie glimpflich der Sturz ausgegangen war.
Allerdings hielt seine Erleichterung nicht lange an. Denn die Erde selbst war zwar nur kopfhoch aufgerissen, doch über dem Graben türmte sich der Schnee in doppelter Höhe. Stöhnend richtete Kidogo sich auf. Betastete die Felswand. Sie schien guten Halt zu bieten. Mit nur einer Hand wäre sie trotzdem kaum zu erklimmen. Er hob seinen gebrochenen Arm – und schrie auf vor Schmerz. Vermaledeiter Wieselkot. Die Kluft war nicht länger als vierzig Schritt. Es dauerte nicht lang, bis er sie der Länge nach abgeschritten hatte. Eines ihrer Enden führte zu der großen Schlucht, welcher er zuvor gefolgt war. Ein machbarer Aufgang fand sich nirgends. Kidogo riss eine Spur von seinem Schal und wickelte sie um den gebrochenen Arm. Es mussten sich noch mehrere schmerzlindernde Kräuter in seinem Ranzen befinden – aber der Ranzen lag oben im Schnee.
Nachdem er den Bruch verbunden hatte, wagte er sich erneut an den Aufstieg. Der Schmerz war überwältigend. Sein geprelltes Handgelenk war inzwischen zu doppelter Größe geschwollen. Noch bevor der Fels zu Schnee überging, ließ es ihn im Stich. Er rutschte ab, schnappte vergeblich nach Halt, krachend landete er auf dem Rücken.
Ächzend versuchte er sich aufzusetzen, doch sein Körper gehorchte ihm kaum, entmutigt sank er zurück.
Würde Kumbuko ihn finden? Kaum, wenn der Alte tatsächlich den Bergsattel hinaufgegangen war. Vielleicht befand er sich in einer nicht weniger misslichen Lage als Kidogo selbst. Vielleicht hatte er bereits seinen letzten Atemzug getan.
Kidogos Gedanken kehrten zu der Stunde zurück, in der sie sich getrennt hatten. Wie er dem Meister die Schüssel aus der Hand geschlagen hatte und davongestürmt war. Ein grausiger Abschied. Die Schmerzen in Arm und Rücken verblassten vor der Qual der Erinnerung.
Seine Zehen wurden taub. Der Meister hatte ihm einmal erzählt, dass zuerst die Zehen starben, wenn man erfror. Aber das war Jahre her gewesen, im Süden, als Kidogo noch nicht gewusst hatte, was Kälte war. Weshalb waren sie nicht im Süden geblieben? Die Nächte waren lau gewesen, der Regen warm, und die Menschen, denen sie geholfen hatten, hatten ihnen die süßesten Früchte geschenkt. Es musste an Tiratanga liegen. Seit überall die verdammten roten Banner mit den Schwertern und dem goldenen Ring aufgetaucht waren, war der Meister noch schmallippiger geworden als sonst. Hatte er versucht, dem Einfluss Ranuis zu entkommen? Welch eine Enttäuschung musste es dann für ihn gewesen sein, dass sogar hier im äußersten Norden, auf der anderen Seite des Kontinents, dieselben blutigen Fahnen wehten. Oder war doch etwas dran an seiner Behauptung, Kidogo sei ein Kind der Berge? Wollte er ihn zurückbringen zu dem Ort, an dem er ihn gefunden hatte? Kidogo malte sich aus, seine Vorfahren hätten am Fuße des Hanges gelebt, von dem die Lawine heruntergebrochen war.
Es war ein versöhnlicher Gedanke: an dem Ort zum letzten Mal einzuschlafen, an dem er womöglich zum ersten Mal die Augen geöffnet hatte.
»Hallo?«
Kidogo zuckte vor Schreck. Hatte er gerade wirklich eine Stimme gehört?
»Hallo?«, ertönte es nochmals. »Ist da jemand?«
Nicht der Meister. Eine Frau. Die Sprache fließendes Ranuk.
»Hier unten«, rief Kidogo, richtete sich auf. Mit einem Mal waren die Schmerzen im Rücken verschwunden. »In der Kluft.«
»Wo sonst.«
Die Stimme war direkt über ihm. Er legte den Kopf in den Nacken und sah, wie sich ein Gesicht über die Kante schob. Es starrte dermaßen vor Schmutz, dass die Züge kaum zu erkennen waren. Umrahmt wurde es von einer verfilzten Mähne, die ungezähmt wucherte. »Bist du verletzt?«
Er deutete mit seinem geschwollenen Handgelenk auf den gebrochenen Arm.
»Bleib, wo du bist.« Der Kopf verschwand wieder.
Kidogo blieb, wo er war. Und die Aufgabe forderte ihn mehr, als er gedacht hätte, denn es dauerte über eine halbe Stunde, bis der Kopf der Frau sich erneut über die Kante schob.
»Hier«, rief sie, und ließ ein Seil herunter.
Es kam ihm vor wie ein Traum. »Woher hast du das?«
»Woher wohl. Ich hatte es dabei. Binde dir das Ende um die Brust.«
Er tat, wie gefordert. »Aber warum warst du dann solange weg?«
»Was hältst du davon, dass wir zuerst dein Leben retten, und danach plaudern?«
Sorgfältig verknotete er das Seil unter den Achseln. Obwohl er die Zähne nutzte, brannte sein Handgelenk schlimmer denn je.
»Ich komme jetzt runter.«
»Was?«
Doch da ließ sich die Frau bereits ab. Sie hatte sich ebenfalls ein Seil um den Oberkörper gebunden. Geschickt drückte sie sich mit den Beinen von der Felswand ab und sofort spannte sich Kidogos eigenes Seil. Er brauchte einen Moment, bis ihm klar wurde, dass es sich um dasselbe handeln musste. Wie hatte sie es oben befestigt? Er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken.
»Jetzt mach schon«, erscholl es über ihm.
Mit zusammengebissenen Zähnen begann er zu klettern. Klettern war zu viel gesagt, hauptsächlich zog ihn das Seil, während er mit den Beinen nachhalf, so gut es eben ging. Eben noch hatte er auf den Kältetod gewartet, jetzt schwitzte er vor Schmerz und Anstrengung.
Doch tatsächlich, es ging voran. Nach einer Minute waren sie auf gleicher Höhe. Einen Moment lang baumelten sie nebeneinander in der Kluft. Die Fremde mochte etwa in Kidogos Alter sein, sofern die Schmutzschicht auf ihrem Gesicht überhaupt eine Vermutung zuließ. Außerdem trug sie ein prall gefülltes Bündel auf dem Rücken. Es musste etwas Wertvolles darin sein, wenn sie es sogar zum Klettern nicht abgenommen hatte.
»Danke«, keuchte Kidogo.
»Du hast es noch nicht geschafft«, keuchte die Frau zurück.
»Und du? Wie kommst du wieder hoch?«
Aber die Frau schien ihn nicht gehört zu haben, all ihre Aufmerksamkeit hatte sie in die Tiefe gerichtet, sie glitt bereits weiter nach unten.
Den Schnee hochzukommen, erwies sich als noch schwieriger als das Klettern am Felsen. Das Seil schnitt ihm in die Achseln, doch ohne es wäre er verloren gewesen. Elle um Elle zog es ihn nach oben, während er selbst gerade noch dazu fähig war, die Schneewand auf Abstand zu halten.
Irgendwann war er oben. Eine Tanne lag dort, er packte einen ihrer Äste, unterdrückte einen Schmerzensschrei und zog sich über die Kante des Grabens. Das Seil entspannte sich. Schwer atmend lag er in den Nadeln. Jetzt einschlafen.
»Lebst du noch?«, erscholl es von unten.
Seine Retterin! Wie hatte er sie nur vergessen können. Er stemmte sich auf alle viere hoch, drehte sich zur Kante zurück. »Wie kann ich dir helfen?«
»Mach das Seil an einem der Felsen fest.«
Felsen? Kidogo sah sich um. In der Tat, aus dem Weiß ragten spitze Steine. In Anbetracht dessen, wie hoch der Schnee lag, mussten sie zu gewaltigen Brocken gehören. Hinter zwei der Felsen war quer eine Tanne gelegt, um die das Seil lief. Jetzt erkannte Kidogo auch den Zweck der zweiten Tanne an der Kante des Abgrunds – sie hatte dafür gesorgt, dass das Seil nicht im Schnee versunken war. In ihrer Nähe lag außerdem ein Häuflein Trödel, es musste der Fremden gehören. Hastig verknotete er das Seil an einem der Felsen. Dann eilte er zurück zur Kante, winkte nach unten.
Die Frau machte sich an den Aufstieg. Es war ein quälend langer Kampf, den Kidogo untätig verfolgen musste, zum Zusehen verdammt. Es gab keinen Weg, wie er ihr in seinem Zustand hätte helfen können.
Sie schaffte es ohne seine Hilfe. Sobald sie oben war, streckte er ihr den Arm entgegen, zog sie über die Kante. Von Ihren Schläfen bis zum Kinn hatte der Schweiß Schlieren in den Schmutz gezogen. Wie er selbst wenige Minuten zuvor, ließ sie sich bäuchlings auf das Geäst der Tanne sinken, nach Atem ringend.
»Dein Bündel!«, rief Kidogo erschrocken. Schlaff lag es auf ihrem Rücken.
»Waren nur Steine drin«, japste sie. »Ich bin leichter als du.«
Deswegen also hatte sie ihn hochziehen können. »Wie heißt du?«
»Aki.«
»Ich bin Kidogo.« Als sie nichts mehr sagte, fragte er: »Wie hast du mich gefunden?«
»Fußspuren.«
Von Nahem sah die Fremde noch jünger aus. Auch zierlicher. Statt Fellen trug sie Stoff, viele Schichten übereinander. Es mochte einmal gute Kleidung gewesen sein, doch übrig geblieben davon waren nur noch farblose Lumpen. Das Gesicht wirkte schmal, eingefallen. Die Augen flackerten fiebrig.
»Wie lange hast du nichts mehr gegessen?«
Ihr Kopf zuckte hoch. »Hast du was?«
Kidogo stand auf, spähte in die Richtung, aus der er geflohen war. Anfangs war seine Fährte noch klar zu erkennen, doch bereits nach siebzig Schritt leuchtete die Landschaft so unberührt weiß, als habe es frisch geschneit. Nirgendwo eine Spur von seinem Ranzen.
»Ich fürchte, nicht.«
Akis ließ den Kopf zurück auf ihr Nadelbett fallen. Sie musste nichts sagen, Kidogo war bewusst, wie aussichtslos die Lage war. Der blaue Himmel und die Sonne konnten ihn nicht täuschen, spätestens in der Nacht würden sie erfrieren.
Außer es gab die heißen Quellen tatsächlich, von denen der Meister gesprochen hatte.
Finster betrachtete Kidogo den in der Ferne aufragenden Bergsattel. Blickte zurück zu Aki, die inzwischen die Augen geschlossen hatte. Sie hatte ihm das Leben gerettet. Würde er sie aus Stolz verloren geben, obwohl es noch Hoffnung gab?
Er schüttelte sie an der Schulter. »Wach auf. Wenn wir hier bleiben, sterben wir.«
Ihre Augen öffneten sich nur einen Spalt. »Hier ist es weich.«
Doch als er sie auf die Beine zog, wehrte sie sich nicht. Kidogo half ihr, das Seil aufzurollen und den Trödel zurück in ihr Bündel zu packen. Ihre Bewegungen waren behäbig, unsicher.
Er befürchtete, dass sie ihre letzten Kräfte für seine Rettung aufgewandt hatte – und in der Tat: Sie waren keine Meile gewandert, als Aki unversehens in den Schnee stürzte.
Minutenlang redete er auf sie ein, doch sie schüttelte nur lächelnd den Kopf. Schließlich nahm er ihr das Bündel vom Rücken und warf es in den Schnee. Nichts darin konnte ihnen jetzt noch helfen. Allein das Seil wickelte er sich schräg um die Brust und legte seinen gebrochenen Unterarm in die Schlinge. Dann zog er Aki hoch, ging selbst in die Knie und schwang sie sich über die Schulter. Sie war unwirklich leicht, selbst mit nur einem Arm konnte er sie halten. Das Handgelenk brannte gleichwohl, als hätte er es in siedendes Öl getaucht. Während im Westen die Sonne im Nebel versank, stapfte er los.
Es war eine sternenklare Nacht. Kidogo wanderte ohne Rast. Er wusste, wenn er einmal stehen bliebe, würde er in den Schnee fallen und nie wieder aufstehen. Im Takt seines Herzschlags schossen Feuerlanzen durch seinen gebrochenen Unterarm. So leicht Aki war, bald begann auch die Schulter zu schmerzen. Das Brennen im Handgelenk war zu einem dumpfen Pochen geworden. Kidogo stapfte weiter.
Es gab keine Zeit mehr, nur Schritte. Schwere, kleine, qualvolle Schritte, und nichts sonst.
In den frühen Morgenstunden erreichte er den Bergsattel. Dahinter öffnete sich eine Hochebene. Als es tagte, entdeckte Kidogo die Spuren des Meisters. Er folgte ihnen, und nach einer weiteren Meile sah er Nebelsäulen in den Himmel steigen. Kein Nebel – Wasserdampf.
»Aki«, flüsterte er, seine Stimme war heiser.
Die Frau auf seiner Schulter wachte nicht auf, sie hatte schon seit Stunden keinen Laut mehr von sich gegeben. Kidogo stapfte weiter.
Erreichte die Quellen. Sah den Meister. Winkte ihm, schrie. Und schlief.
Weitere Kapitel:
Berge des Zorns. Kidogo stapfte an ihren Ausläufern entlang, durch eine eisige, zerklüftete Landschaft; wie Dolche ragten Felsspitzen aus dem Weiß, zerfetzten ihm die Schneeschuhe. Die gewaltige, finstere Spalte, der er gefolgt war, war schmaler geworden, aber noch immer zu breit, um die gegenüberliegende Seite zu erreichen.
Ein Kind der Berge sei er, hatte der Meister gesagt. In Kidogos Ohren klang es wie Hohn. Nichts wollte er sehnlicher, als diese verfluchte Ödnis hinter sich zu lassen. Wie es dem Meister wohl erging? Nein, nicht Meister – Kumbuko. Der Alte hatte keine Macht mehr über ihn. Und hatte selbst dafür gesorgt, dass es so war. Hatte Kidogo vor die Wahl gestellt. Vierundzwanzig Winter hatte Kidogo mit Kumbuko verbracht. Eine Ausbildung hatte es Kumbuko genannt – doch welche Ausbildung dauerte vierundzwanzig Winter? Es gab Königreiche, die kürzer währten.
Wütend starrte Kidogo in die Ferne. Weit und breit kein Fluss zu sehen. Ohne viel zu überlegen, war er der Spalte gefolgt, statt den Bergsattel zu suchen, von dem der Meister ... Kumbuko gesprochen hatte. Vierundzwanzig Winter lang war er ihm gefolgt, und es hatte Kidogo nirgendwo hingeführt. Warum hätte er jetzt, da er mit dem Alten gebrochen hatte, auf ihn hören sollen? Wenn der Fluss ins Meer floss, würde er früher oder später auch so auf jenen stoßen.
Ein Zittern unter ihm. Kidogo stolperte, fing sich wieder. Erschrocken musterte er seine Spuren. War er auf irgendein Lebewesen getreten? Nichts zu erkennen. Aus dem Gebirge rollte ein Donnern heran. Argwöhnisch spähte er in die entsprechende Richtung. Von einem der Hänge hatte sich der Schnee gelöst, rutschte herab, bauschte sich dabei auf, stob hoch, floss über den Himmel wie ein umgestoßener Krug Kokossaft.
Mit offenem Mund betrachtete Kidogo das Spektakel, zu keiner Regung fähig. Die weiße Flut knickte Tannen um und nahm sie schäumend mit sich, ein klirrender Wind war aufgekommen. Obwohl das Unheil hunderte Schritte an Kidogo vorbeirauschte, wirbelte es genug Schnee auf, um auch ihn zu schlucken. Ein rasender grauer Nebel, der so fest an ihm zog, dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Für einige angsterfüllte Minuten konnte Kidogo nichts tun, als sich in den Sturm zu lehnen und den Kopf zwischen die Schultern zu ducken.
Irgendwann legte sich der Nebel. Aus einem wolkenlosen Himmel leuchtete die Sonne in fröhlicher, falscher Unschuld. Berge des Zorns. Langsam ahnte Kidogo, woher der Name kam. Er wollte sich nicht vorstellen, was geschehen wäre, hätte der Schneerutsch ihn direkt getroffen.
Da erzitterte der Boden erneut. Kidogo stockte der Atem. Hastig sah er sich nach dem Gebirge um. Kein Hang war nah genug, dass eine zweite Lawine ihn treffen könnte. Trotzdem, der Ort war ihm nicht geheuer. Mit der Kraft der Angst marschierte er los.
Und schlug der Länge nach hin.
Mehrere bange Herzschläge lang blieb er liegen, versuchte zu verstehen, was passiert war. Der Boden zitterte. Nein, kein Zittern mehr, ein Beben. Unter ihm knackten die Knochen eines Untiers. Voller Furcht rappelte er sich auf, sah sich um. Aus der Tiefe der Spalte drang ein unmenschliches Stöhnen. Der Boden schwankte, wieder wurde Kidogo von den Beinen gerissen. Das Poltern eines Riesen. Der Dorfälteste hatte es gesagt; der Riese sei erwacht. Kidogo sprang auf, rannte. Die Gurte seines Ranzens rutschten, er warf ihn ab, rannte weiter. Egal, wohin, er hatte kein Ziel – nur weg von hier.
Hinter ihm knirschte die Welt. Er sah sich nicht um. Seine Schneeschuhe lösten sich von den Stiefeln, er rannte weiter. Dann fiel er. Nein, nicht er, der Boden selbst senkte sich unter seinen Füßen, brach auseinander. Ohrenbetäubend laut brüllte das Land. Oben und unten vertauschten sich. Von allen Seiten regnete es Erde und Eis. Felsbrocken flogen an ihm vorbei, trafen auf anderen Stein, zerspritzten wie Tonschalen. Von allen Seiten prasselten Schläge auf Kidogos Körper ein, er drehte sich um die eigene Achse, rutschte, fiel, rutschte wieder. Blieb liegen. Lauschte atemlos.
Von oben bröselte noch Sand, doch die Erde selbst schien sich beruhigt zu haben. Benommen hob er den Kopf. Er lag am Grunde einer Kluft, doch die ursprüngliche konnte es nicht sein, vor jener war er ja geflohen. Auch ragten die Kanten nur ein halbes Dutzend Schritt über ihm auf, und befanden sich kaum einen Schritt auseinander. Weder gab es Eiszapfen, noch Vorsprünge, von denen jene hätten herabhängen können.
Langsam kam Kidogo wieder zur Besinnung. Ein Erdbeben. Kein Wunder, dass Tuark von einem Riesen gesprochen hatte. Alle Völker hatten ihre eigenen Erklärungen: Drachen, die aus tausendjährigem Schlaf erwachten; gefallene Götter, die in den Erdkern gesperrt worden waren, und an ihren Ketten zerrten; Feuerdämonen, welche die Erdmutter quälten. Aberglaube, sagte Kumbuko.
Nichtsdestoweniger spähte Kidogo furchtsam in den schmalen Streifen blau, als könnte sich dort jeden Augenblick die Stiefelsohle des vorgeblichen Riesen zeigen. Vorsichtig tastete er seine Glieder ab. Was spielte es für eine Rolle, ob es ein Gott gewesen war, der die Erde aufgerissen hatte? Sterben ließ sich auch so.
Einer seiner Arme war gebrochen, das andere Handgelenk geprellt. Die Beine waren im Geröll begraben, doch nachdem er sie davon befreit hatte, konnte er sie wieder bewegen. Es grenzte an ein Wunder, wie glimpflich der Sturz ausgegangen war.
Allerdings hielt seine Erleichterung nicht lange an. Denn die Erde selbst war zwar nur kopfhoch aufgerissen, doch über dem Graben türmte sich der Schnee in doppelter Höhe. Stöhnend richtete Kidogo sich auf. Betastete die Felswand. Sie schien guten Halt zu bieten. Mit nur einer Hand wäre sie trotzdem kaum zu erklimmen. Er hob seinen gebrochenen Arm – und schrie auf vor Schmerz. Vermaledeiter Wieselkot. Die Kluft war nicht länger als vierzig Schritt. Es dauerte nicht lang, bis er sie der Länge nach abgeschritten hatte. Eines ihrer Enden führte zu der großen Schlucht, welcher er zuvor gefolgt war. Ein machbarer Aufgang fand sich nirgends. Kidogo riss eine Spur von seinem Schal und wickelte sie um den gebrochenen Arm. Es mussten sich noch mehrere schmerzlindernde Kräuter in seinem Ranzen befinden – aber der Ranzen lag oben im Schnee.
Nachdem er den Bruch verbunden hatte, wagte er sich erneut an den Aufstieg. Der Schmerz war überwältigend. Sein geprelltes Handgelenk war inzwischen zu doppelter Größe geschwollen. Noch bevor der Fels zu Schnee überging, ließ es ihn im Stich. Er rutschte ab, schnappte vergeblich nach Halt, krachend landete er auf dem Rücken.
Ächzend versuchte er sich aufzusetzen, doch sein Körper gehorchte ihm kaum, entmutigt sank er zurück.
Würde Kumbuko ihn finden? Kaum, wenn der Alte tatsächlich den Bergsattel hinaufgegangen war. Vielleicht befand er sich in einer nicht weniger misslichen Lage als Kidogo selbst. Vielleicht hatte er bereits seinen letzten Atemzug getan.
Kidogos Gedanken kehrten zu der Stunde zurück, in der sie sich getrennt hatten. Wie er dem Meister die Schüssel aus der Hand geschlagen hatte und davongestürmt war. Ein grausiger Abschied. Die Schmerzen in Arm und Rücken verblassten vor der Qual der Erinnerung.
Seine Zehen wurden taub. Der Meister hatte ihm einmal erzählt, dass zuerst die Zehen starben, wenn man erfror. Aber das war Jahre her gewesen, im Süden, als Kidogo noch nicht gewusst hatte, was Kälte war. Weshalb waren sie nicht im Süden geblieben? Die Nächte waren lau gewesen, der Regen warm, und die Menschen, denen sie geholfen hatten, hatten ihnen die süßesten Früchte geschenkt. Es musste an Tiratanga liegen. Seit überall die verdammten roten Banner mit den Schwertern und dem goldenen Ring aufgetaucht waren, war der Meister noch schmallippiger geworden als sonst. Hatte er versucht, dem Einfluss Ranuis zu entkommen? Welch eine Enttäuschung musste es dann für ihn gewesen sein, dass sogar hier im äußersten Norden, auf der anderen Seite des Kontinents, dieselben blutigen Fahnen wehten. Oder war doch etwas dran an seiner Behauptung, Kidogo sei ein Kind der Berge? Wollte er ihn zurückbringen zu dem Ort, an dem er ihn gefunden hatte? Kidogo malte sich aus, seine Vorfahren hätten am Fuße des Hanges gelebt, von dem die Lawine heruntergebrochen war.
Es war ein versöhnlicher Gedanke: an dem Ort zum letzten Mal einzuschlafen, an dem er womöglich zum ersten Mal die Augen geöffnet hatte.
»Hallo?«
Kidogo zuckte vor Schreck. Hatte er gerade wirklich eine Stimme gehört?
»Hallo?«, ertönte es nochmals. »Ist da jemand?«
Nicht der Meister. Eine Frau. Die Sprache fließendes Ranuk.
»Hier unten«, rief Kidogo, richtete sich auf. Mit einem Mal waren die Schmerzen im Rücken verschwunden. »In der Kluft.«
»Wo sonst.«
Die Stimme war direkt über ihm. Er legte den Kopf in den Nacken und sah, wie sich ein Gesicht über die Kante schob. Es starrte dermaßen vor Schmutz, dass die Züge kaum zu erkennen waren. Umrahmt wurde es von einer verfilzten Mähne, die ungezähmt wucherte. »Bist du verletzt?«
Er deutete mit seinem geschwollenen Handgelenk auf den gebrochenen Arm.
»Bleib, wo du bist.« Der Kopf verschwand wieder.
Kidogo blieb, wo er war. Und die Aufgabe forderte ihn mehr, als er gedacht hätte, denn es dauerte über eine halbe Stunde, bis der Kopf der Frau sich erneut über die Kante schob.
»Hier«, rief sie, und ließ ein Seil herunter.
Es kam ihm vor wie ein Traum. »Woher hast du das?«
»Woher wohl. Ich hatte es dabei. Binde dir das Ende um die Brust.«
Er tat, wie gefordert. »Aber warum warst du dann solange weg?«
»Was hältst du davon, dass wir zuerst dein Leben retten, und danach plaudern?«
Sorgfältig verknotete er das Seil unter den Achseln. Obwohl er die Zähne nutzte, brannte sein Handgelenk schlimmer denn je.
»Ich komme jetzt runter.«
»Was?«
Doch da ließ sich die Frau bereits ab. Sie hatte sich ebenfalls ein Seil um den Oberkörper gebunden. Geschickt drückte sie sich mit den Beinen von der Felswand ab und sofort spannte sich Kidogos eigenes Seil. Er brauchte einen Moment, bis ihm klar wurde, dass es sich um dasselbe handeln musste. Wie hatte sie es oben befestigt? Er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken.
»Jetzt mach schon«, erscholl es über ihm.
Mit zusammengebissenen Zähnen begann er zu klettern. Klettern war zu viel gesagt, hauptsächlich zog ihn das Seil, während er mit den Beinen nachhalf, so gut es eben ging. Eben noch hatte er auf den Kältetod gewartet, jetzt schwitzte er vor Schmerz und Anstrengung.
Doch tatsächlich, es ging voran. Nach einer Minute waren sie auf gleicher Höhe. Einen Moment lang baumelten sie nebeneinander in der Kluft. Die Fremde mochte etwa in Kidogos Alter sein, sofern die Schmutzschicht auf ihrem Gesicht überhaupt eine Vermutung zuließ. Außerdem trug sie ein prall gefülltes Bündel auf dem Rücken. Es musste etwas Wertvolles darin sein, wenn sie es sogar zum Klettern nicht abgenommen hatte.
»Danke«, keuchte Kidogo.
»Du hast es noch nicht geschafft«, keuchte die Frau zurück.
»Und du? Wie kommst du wieder hoch?«
Aber die Frau schien ihn nicht gehört zu haben, all ihre Aufmerksamkeit hatte sie in die Tiefe gerichtet, sie glitt bereits weiter nach unten.
Den Schnee hochzukommen, erwies sich als noch schwieriger als das Klettern am Felsen. Das Seil schnitt ihm in die Achseln, doch ohne es wäre er verloren gewesen. Elle um Elle zog es ihn nach oben, während er selbst gerade noch dazu fähig war, die Schneewand auf Abstand zu halten.
Irgendwann war er oben. Eine Tanne lag dort, er packte einen ihrer Äste, unterdrückte einen Schmerzensschrei und zog sich über die Kante des Grabens. Das Seil entspannte sich. Schwer atmend lag er in den Nadeln. Jetzt einschlafen.
»Lebst du noch?«, erscholl es von unten.
Seine Retterin! Wie hatte er sie nur vergessen können. Er stemmte sich auf alle viere hoch, drehte sich zur Kante zurück. »Wie kann ich dir helfen?«
»Mach das Seil an einem der Felsen fest.«
Felsen? Kidogo sah sich um. In der Tat, aus dem Weiß ragten spitze Steine. In Anbetracht dessen, wie hoch der Schnee lag, mussten sie zu gewaltigen Brocken gehören. Hinter zwei der Felsen war quer eine Tanne gelegt, um die das Seil lief. Jetzt erkannte Kidogo auch den Zweck der zweiten Tanne an der Kante des Abgrunds – sie hatte dafür gesorgt, dass das Seil nicht im Schnee versunken war. In ihrer Nähe lag außerdem ein Häuflein Trödel, es musste der Fremden gehören. Hastig verknotete er das Seil an einem der Felsen. Dann eilte er zurück zur Kante, winkte nach unten.
Die Frau machte sich an den Aufstieg. Es war ein quälend langer Kampf, den Kidogo untätig verfolgen musste, zum Zusehen verdammt. Es gab keinen Weg, wie er ihr in seinem Zustand hätte helfen können.
Sie schaffte es ohne seine Hilfe. Sobald sie oben war, streckte er ihr den Arm entgegen, zog sie über die Kante. Von Ihren Schläfen bis zum Kinn hatte der Schweiß Schlieren in den Schmutz gezogen. Wie er selbst wenige Minuten zuvor, ließ sie sich bäuchlings auf das Geäst der Tanne sinken, nach Atem ringend.
»Dein Bündel!«, rief Kidogo erschrocken. Schlaff lag es auf ihrem Rücken.
»Waren nur Steine drin«, japste sie. »Ich bin leichter als du.«
Deswegen also hatte sie ihn hochziehen können. »Wie heißt du?«
»Aki.«
»Ich bin Kidogo.« Als sie nichts mehr sagte, fragte er: »Wie hast du mich gefunden?«
»Fußspuren.«
Von Nahem sah die Fremde noch jünger aus. Auch zierlicher. Statt Fellen trug sie Stoff, viele Schichten übereinander. Es mochte einmal gute Kleidung gewesen sein, doch übrig geblieben davon waren nur noch farblose Lumpen. Das Gesicht wirkte schmal, eingefallen. Die Augen flackerten fiebrig.
»Wie lange hast du nichts mehr gegessen?«
Ihr Kopf zuckte hoch. »Hast du was?«
Kidogo stand auf, spähte in die Richtung, aus der er geflohen war. Anfangs war seine Fährte noch klar zu erkennen, doch bereits nach siebzig Schritt leuchtete die Landschaft so unberührt weiß, als habe es frisch geschneit. Nirgendwo eine Spur von seinem Ranzen.
»Ich fürchte, nicht.«
Akis ließ den Kopf zurück auf ihr Nadelbett fallen. Sie musste nichts sagen, Kidogo war bewusst, wie aussichtslos die Lage war. Der blaue Himmel und die Sonne konnten ihn nicht täuschen, spätestens in der Nacht würden sie erfrieren.
Außer es gab die heißen Quellen tatsächlich, von denen der Meister gesprochen hatte.
Finster betrachtete Kidogo den in der Ferne aufragenden Bergsattel. Blickte zurück zu Aki, die inzwischen die Augen geschlossen hatte. Sie hatte ihm das Leben gerettet. Würde er sie aus Stolz verloren geben, obwohl es noch Hoffnung gab?
Er schüttelte sie an der Schulter. »Wach auf. Wenn wir hier bleiben, sterben wir.«
Ihre Augen öffneten sich nur einen Spalt. »Hier ist es weich.«
Doch als er sie auf die Beine zog, wehrte sie sich nicht. Kidogo half ihr, das Seil aufzurollen und den Trödel zurück in ihr Bündel zu packen. Ihre Bewegungen waren behäbig, unsicher.
Er befürchtete, dass sie ihre letzten Kräfte für seine Rettung aufgewandt hatte – und in der Tat: Sie waren keine Meile gewandert, als Aki unversehens in den Schnee stürzte.
Minutenlang redete er auf sie ein, doch sie schüttelte nur lächelnd den Kopf. Schließlich nahm er ihr das Bündel vom Rücken und warf es in den Schnee. Nichts darin konnte ihnen jetzt noch helfen. Allein das Seil wickelte er sich schräg um die Brust und legte seinen gebrochenen Unterarm in die Schlinge. Dann zog er Aki hoch, ging selbst in die Knie und schwang sie sich über die Schulter. Sie war unwirklich leicht, selbst mit nur einem Arm konnte er sie halten. Das Handgelenk brannte gleichwohl, als hätte er es in siedendes Öl getaucht. Während im Westen die Sonne im Nebel versank, stapfte er los.
Es war eine sternenklare Nacht. Kidogo wanderte ohne Rast. Er wusste, wenn er einmal stehen bliebe, würde er in den Schnee fallen und nie wieder aufstehen. Im Takt seines Herzschlags schossen Feuerlanzen durch seinen gebrochenen Unterarm. So leicht Aki war, bald begann auch die Schulter zu schmerzen. Das Brennen im Handgelenk war zu einem dumpfen Pochen geworden. Kidogo stapfte weiter.
Es gab keine Zeit mehr, nur Schritte. Schwere, kleine, qualvolle Schritte, und nichts sonst.
In den frühen Morgenstunden erreichte er den Bergsattel. Dahinter öffnete sich eine Hochebene. Als es tagte, entdeckte Kidogo die Spuren des Meisters. Er folgte ihnen, und nach einer weiteren Meile sah er Nebelsäulen in den Himmel steigen. Kein Nebel – Wasserdampf.
»Aki«, flüsterte er, seine Stimme war heiser.
Die Frau auf seiner Schulter wachte nicht auf, sie hatte schon seit Stunden keinen Laut mehr von sich gegeben. Kidogo stapfte weiter.
Erreichte die Quellen. Sah den Meister. Winkte ihm, schrie. Und schlief.