2. Kapitel
Der Winter war schon alt, trotzdem war noch kein Zeichen des Frühlings zu entdecken. Seit dem Vormittag wollte es nicht aufhören zu regnen. Außerdem war es kalt geworden, ein eisiger Wind blies über die Steppe. Kidogo brannten die Ohren vor Kälte, und zugleich schwitzte er unter seinem Ranzen. Seinen Meister hingegen schien das missliche Wetter nicht zu stören, ohne ein Zeichen von Verdruss schritt er vorneweg. Die Hochstraße, der sie folgten, war von einem der versunkenen Völker gebaut worden, vermutlich war sie viele Jahrtausende alt. Sie musste einmal ein ehrfurchtgebietendes Kunstwerk gewesen sein – doch inzwischen ragten nur noch vereinzelte Trümmer aus dem Sumpf, in welchen der Regen den Weg verwandelt hatte.
Mit zusammengebissenen Zähnen zog Kidogo die Schulterriemen fester. Er würde sich von einem alten Mann nicht vorführen lassen. Missmutig suchte er den Horizont nach einer Siedlung ab. Die Dämmerung nahte bereits, eine weitere Nacht im Freien drohte. In der letzten Nacht hatten sie Wölfe heulen hören. Ein Blick in den Himmel half nicht, seine Stimmung zu verbessern – so leer sein Magen war, so schwer waren die Bäuche der Wolken, die über ihnen hingen. Unter ihm schmatzten seine Sandalen im Morast.
Plötzlich fiel ihm auf, dass die Landschaft sich verändert hatte; woher kamen die weißen Ablagerungen? Kalk? Aber abgesehen von den Straßentrümmern war der Boden nicht steinig. Und was noch merkwürdiger war: Der Regen wirkte auf einmal irgendwie ... fleckig. Manche der Flecken blieben grau auf seinen Armen liegen. Erschreckt wischte er sie weg, doch sofort fielen neue.
»Keine Sorge.« Der Meister war stehen geblieben, hatte sich zu ihm umgedreht. »Das ist Schnee.«
»Schnee?« Kidogo sah gebannt auf die wirbelnden Flocken. »Ich dachte, Schnee ist weiß. Und weniger ... nass.«
»Wenn wir in die Berge kommen, wirst du auch weißen Schnee sehen.«
»Es ist merkwürdig«, murmelte Kidogo, »mein ganzes Leben bin ich auf Wanderschaft, und heute sehe ich zum ersten Mal Schnee.«
Eine eigentümliche Note gelangte in den Blick des Meisters. Es schien, als wollte er etwas sagen, besinne sich dann jedoch anders.
»Was ist?«
»Du erinnerst dich wirklich nicht?«
Mit hochgezogenen Brauen zeigte er seine Verständnislosigkeit.
»Du hast bereits Schnee gesehen.«
»Sicher nicht.« Zur Bekräftigung schüttelte er den Kopf. »Das hätte ich gemerkt.«
Eine Weile musterte der Meister ihn stumm. Dann seufzte er das Seufzen, das Kidogo von ihm kannte, wenn er eine schwierige Entscheidung gefällt hatte. »Ich habe dir erzählt, wie ich dich gefunden habe ...«
Denkbar knapp. Kidogo wusste nur, dass er dem Meister von einem ranaischen Soldaten überlassen worden war, als Dank für dessen Leben. Ganz gleich, wie oft er nachgebohrt hatte, nie hatte er mehr erfahren.
»Ich habe dir nicht gesagt, wo«, sprach der Meister weiter. »Du bist ein Kind der Berge, Kidogo.«
Kidogo vergaß die Kälte, vergaß auch die vom Ranzen schmerzenden Schultern, die durchgelaufenen Sandalen. Er machte einen vorsichtigen Schritt auf den Meister zu – wie auf einen Vogel, den man nicht aufschrecken will. »Erzählst du mir endlich, wer ich bin?«
»Du bist ein Mandrêb, du hast dein Leben dem Heilen gewidmet.«
»Was du nicht sagst«, rief Kidogo zornig. »Aber wo komme ich her – wann verrätst du mir das?«
»Bald.«
»Wann?«
»Nicht heute.«
Wie ein Eimer kaltes Wasser stürzte die Enttäuschung auf ihn nieder. »Wann dann?«
»Wenn du soweit bist.«
Es war aussichtslos. Seit Jahren fragte er seinen Meister nach seiner Herkunft, und seit Jahren hielt der Meister ihn hin. Zermürbt fuhr er sich durch die Haare. »Ich bin soweit! Ich kenne die Pflanzen und Tiere so gut wie du, ich habe alle deine Prüfungen bestanden, was willst du denn noch?«
»Geduld, mein Schüler.« Der Meister wies über die Ebene.
»Geduld, immer forderst du Geduld, noch auf dem Sterbebett wirst du Geduld fordern ...«
»Sieh nach Westen.«
Halbherzig folgte Kidogo der Aufforderung. Licht, endlich. Eine Siedlung.
»Gehen wir«, befahl der Meister trocken.
»Und wenn wir dort sind, wirst du meine Fragen beantworten?«
»Nein. Aber ich werde zusehen, dass wir eine warme Suppe bekommen.«
Mit Einbruch der Dämmerung erreichten sie das Dorf. Inzwischen hatte sich der Schnee wie eine weiße Decke über die Steppe gelegt, doch Kidogo konnte sich nicht für das ungeahnte Naturschauspiel begeistern. Stets hatte er sich nach dem Willen des Meisters gerichtet – und was war der Dank? Er wehrte sich nicht gegen das Dasein als Mandrêb, es war eine Aufgabe so gut wie jede andere. Aber warum wollte der Meister ihm seine Herkunft nicht verraten? So vielen Regeln die Mandrêbanim sich unterwerfen mussten – seine Abstammung zu verleugnen, gehörte nicht dazu. Glaubte Kidogo zumindest. Es war ihm nur zu bewusst, wie wenig der Meister auch über die eigene Vergangenheit preisgab.
Ein Graben und ein Palisadenwall schützten das Dorf. »Was wollt Ihr?«, ertönte es von einem hölzernen Wachturm. Die Frage war auf Naaluk gestellt worden. Von allen Sprachen, die Kidogo hatte lernen müssen, war ihm Naaluk am leichtesten gefallen. Trotzdem konnte er sich nicht erinnern, sie je aus einem anderen Mund als dem seines Meisters gehört zu haben.
»Ich bin Kumbuko«, erwiderte der Meister, »und dies ist mein Schüler Kidogo. Wir bieten unsere Hilfe an.«
»Ihr seid Schamanen? Wartet.«
Nur wenige Augenblicke später wurde das Tor zur Seite geschoben und ein Brett über den Graben gelegt. Dahinter hatten sich mehrere Dutzend Leute versammelt, das ganze Dorf musste zugegen sein. Ein stämmiger Mann mit tellergroßen Händen und verhärmter Miene verneigte sich unbeholfen. »Es ist lang her, dass ein Schamane uns besucht hat. Ich bin Tuark. Ich leite dieses Dorf im Namen Ranuis und mit dem Segen Atua-Kores. Seid willkommen.« Mit einer weiten Handbewegung trat er zur Seite. Dies sahen die Kinder als Zeichen, johlend herbeizurennen.
»Sagtest du nicht, die Naalu verehren ihre eigenen Götter?«, flüsterte Kidogo seinem Meister zu.
»Ich war lange nicht mehr hier«, antwortete der Angesprochene ebenso leise. Dann wandte er sich an Tuark: »Danke, Freund. Sagt, habt Ihr einen Raum, wo wir die Nacht verbringen können?«
»Seid meine Gäste.«
Es gab tatsächlich Suppe, dazu ein Brot, das so hart war, dass man es erst einweichen musste, bevor man es kauen konnte. Tuarks Langhaus war das größte des Dorfes; dennoch bot der Hauptraum gerade ausreichend Platz für den Meister, Kidogo, Tuark selbst und dessen drei erwachsene Kinder. Die beiden Töchter hoben den Blick kaum von ihren Schalen. Der Sohn allerdings folgte dem Gespräch mit aufmerksamem Blick.
»Wie lange wollt Ihr bleiben?«, fragte Tuark den Meister.
»So lange, wie unsere Dienste benötigt werden.«
Auf der Stirnseite des Raumes gab es einen Kamin, in dem ein Feuer knisterte. Doch es war zu klein, als dass seine Wärme Kidogo erreicht hätte.
Tuark musste sein Zittern bemerkt haben, denn er hob einladend die Hand. Dankbar stand Kidogo von seinem Schemel auf, nahm seine Schale und trat ans Feuer.
»So sehr wir Euer Angebot zu schätzen wissen«, hörte er Tuark hinter sich sagen, »wir brauchen Eure Dienste nicht.«
»Wie Ihr meint«, entgegnete der Meister.
»Seid Ihr sicher?« Verblüfft wandte sich Kidogo vom Feuer ab, der Gruppe zu. In jedem Dorf gab es etwas zu tun – einen Alten, der nicht mehr schlucken konnte, eine Schwangere, die so sehr ermattet war, dass sie die Geburt nicht überleben würde, ein Kind, dem die Ohren schmerzten. »Sollen wir nicht zumindest Eure Zähne ansehen?«
»Wir brauchen Eure Hilfe nicht.« Es klang überraschend grob. Inzwischen hatten auch die Töchter sich von ihrer Suppe gelöst. Groß und ängstlich blickten ihre Augen in den Raum.
»Glaubt Ihr«, rief Kidogo, »Ihr könnt für alle hier sprechen?«
»Schweig«, befahl der Meister, »und sei dankbar für die Gastfreundschaft.«
Eine unangenehme Stille trat ein. Neben dem Kamin war ein Altar aufgebaut, mürrisch betrachtete Kidogo die Holzfiguren darauf. Er wusste nicht viel über die Götter des Nordens, doch der bronzene Ring, in dem sie standen, wirkte ausgesprochen fehl am Platz. Auf einem Tuch lagen mehrere Münzen mit den Zeichen Atua-Kores – das Zubehör, mit dem die Ranu den Willen ihrer Göttin zu deuten suchten; die Münzen wurden einzeln geworfen, und abhängig davon, auf welche Stelle sie fielen und in welcher Position zueinander sie liegen blieben, offenbarte sich dem geübten Auge noch das dunkelste Geheimnis. Behaupteten die Ranu. Aberglaube, sagte der Meister. Kidogo war bereits bei einigen Münzwürfen zugegen gewesen, aber nur in den Kernprovinzen des Reiches.
»Atua-Kore umfasst uns alle.« Tuark war zu ihm getreten. »Erde und Himmel, Menschen wie Götter. Wenn genug Menschen sich vor ihr verneigen, wird sie das Goldene Zeitalter über uns kommen lassen.«
Kidogo warf dem Meister einen fragenden Blick zu, doch der schüttelte unauffällig den Kopf. Tuarks gewaltige Pranke legte sich auf Kidogos Schulter, ließ ihn zusammenzucken. Gewöhnlich wagten es nur Kinder, von sich aus einen Mandrêb zu berühren. Erwachsene fürchteten, von den Schmerzen befallen zu werden, die der Mandrêb anderen genommen hatte. Ein Aberglaube, so alt, dass selbst der Meister seinen Ursprung nicht zu erklären vermocht hatte.
»Setzt Euch«, sagte Tuark, ohne die Hand von der Schulter zu nehmen, »esst.«
»Atua-Kore wird Mutter nicht retten.« Die jüngere der beiden Töchter hatte gesprochen. Ihre Geschwister erstarrten, der Vater fuhr herum. Am erschrockensten schien das Mädchen selbst.
»Du schmähst die Goldene?«, herrschte Tuark seine Tochter an. »Willst du brennen?« Die Zurechtgewiesene beugte sich tief über den Rest ihrer Suppe, kratzte hastig die Schale aus.
»Das heißt, Ihr braucht Hilfe?«, versetzte Kidogo mit Genugtuung. Im selben Moment bemerkte er den fauligen Geruch, der aus dem Nebenraum drang. Der Geruch von Krankheit. Wie hatte der ihm bisher nicht auffallen können? Er sah zu seinem Meister. Dieser hatte die bessere Nase, musste den Gestank schon lange wahrgenommen haben. Weshalb hatte er nichts gesagt?
»Wir brauchen keine Hilfe. Nicht von Euch«, knurrte Tuark. »Atua-Kore wird entscheiden.«
»Warum habt Ihr uns dann überhaupt in Euer Haus gelassen?«
»Gäste werden vom Dorfältesten beherbergt. So verlangt es unsere Tradition.«
»Tatsächlich?« Kidogo konnte es nicht glauben. »Tradition ... wie lange ist es her, dass Ihr vor Ranui das Knie gebeugt habt? Ein paar Jahre? Und das reicht Euch, um das Leben Eurer Frau einer fremden Gottheit in die Hände zu legen?« Er folgte dem Geruch, trat auf die entsprechende Tür zu.
»Zurück!«, bellte Tuark. »Schert Euch um Eure eigenen Angelegenheiten.«
»Kidogo.« Es war die Stimme des Meisters, und sie duldete keinen Widerspruch.
Die Mahlzeit wurde in Schweigen beendet.
Der Schnee hatte offenbar nur kurz vorbeigeschaut, draußen prasselte der Regen. Ruhelos wälzte Kidogo sich auf seinem Strohsack. Tuark hatte ihnen die Nachtkammer überlassen, sich mit seinen Kindern im Hauptraum schlafen gelegt. Neben Kidogo schnarchte der Meister laut genug, um den Regen zu durchdringen. Wie konnte der Alte bloß so ungerührt sein? Früher hatten die Ranu zwar mit Schwert und Feuer gewütet, aber zumindest hatte man den unterworfenen Völkern die eigene Kultur gelassen. Nun war wohl auch das vorbei.
Ein Mandrêb war zur Hilfe verpflichtet, es war nicht weniger als seine Bestimmung. Wie könnte Kidogo sich noch als Heiler bezeichnen, wenn er seelenruhig schliefe, während im Nebenraum womöglich jemand starb?
Nein, er musste etwas tun.
Leise erhob er sich von seinem Lager, tastete im Dunkeln nach seinem Kräuterbeutel, schlich aus der Kammer. Horchte in den Hauptraum hinein. Ein wenig aussichtsreiches Unterfangen, der Regen trommelte gegen das Dach des Langhauses, als wolle er es zertrümmern. Im Glimmen des niedergebrannten Kaminfeuers erkannte Kidogo die Umrisse der Gastgeber, dick wie Maden lagen sie in ihre Felle gehüllt.
Fuß um Fuß näherte er sich der Tür zur Kammer der Kranken, den Blick auf die Schlafenden gerichtet. Sie zuckten und drehten sich, zweifelsohne wurden ihre Träume von Sorge zerfressen, doch niemand erwachte. Er erreichte die Tür; mit angehaltenem Atem öffnete er sie einen Spalt, spähte hinein. Ein Talglicht brannte, beleuchtete ein Lager mit einem Berg von Fellen, unter denen eine ältere Frau begraben lag. Außerdem waren zwei Schemel und ein Tisch mit einer Waschschüssel zu erkennen, ansonsten schien die Kammer leer. Kidogo hatte von dem Brauch gehört, dass man in Ranui die Sterbenden in der entscheidenden Nacht alleine ließ – so würde Atua-Kore in ihrer Entscheidung nicht gestört, ob sie Gnade zeigen wollte. Es war haarsträubend. Wie konnte jemand an eine Gottheit glauben, die es dir verbot, Abschied von deinen Nächsten zu nehmen?
Er huschte durch den Türspalt, schloss vorsichtig die Tür hinter sich und trat an das Lager.
Nachdem er seine Hand auf die schweißige Stirn der Kranken gelegt und ihren Puls gefühlt hatte, zog er die Felle zur Seite, tastete ihren Bauch ab. Er hatte bereits eine Befürchtung, und als er die Verhärtung an ihrer Seite spürte, erlangte er Gewissheit – das Geschwür war zu groß, die Frau war nicht zu retten.
»Wird sie sterben?«
Vor Schreck setzte Kidogo das Herz aus. An der Tür stand eine dunkle Gestalt, er hatte nicht gemerkt, wie sie hereingekommen war. Einen Wimpernschlag lang dachte er, Tuark habe ihn entdeckt – doch die Gestalt war weniger stämmig, die Stimme weniger schwer. Der Sohn.
»Schließ die Tür.«
Der Bursche tat es. »Sie wird sterben, nicht wahr?« Er klang gefasst. Wahrscheinlich hatte er nur ein paar Winter weniger gesehen als Kidogo.
Was nützte es, zu lügen. »Ja.«
»Wann?«
»Wenn sie nicht schläft, ist sie dann ansprechbar?«
»Sie schreit und hat Krämpfe. Sie erkennt niemanden.«
»Wenige Tage. Vielleicht eine Woche. Es tut mir leid.«
»Eine Woche?« Die Stimme zitterte. »So lang?«
Die Reaktion überraschte Kidogo nicht. Er hatte schon häufiger miterlebt, wie Menschen daran litten, ihre Liebsten sterben zu sehen. Wie sie sich irgendwann nur noch wünschten, dass es vorbei wäre. Hilflos zuckte er mit den Schultern.
»Ihr könnt nichts tun ...?« Der Bursche zögerte, wandte den Kopf ab.
»... Dass es schneller geht?«, beendete Kidogo den Satz.
Ein Schweigen, das Antwort genug war.
»Ich kann ihr etwas geben, das ihre Schmerzen lindert.« Kidogo schluckte. »Und verkürzt.«
»Bitte.«
Ein Lichtblitz zerriss die Nacht, zeigte das schrecklich leere Gesicht eines jungen Mannes, der gerade um den Tod seiner Mutter gebeten hatte. Der Donner rollte heran. Wie passend, dachte Kidogo schaudernd. Wenn Leben und Tod sich begegneten, wühlte es sogar den Himmel auf.
Mit klammen Fingern griff er nach seinem Kräuterbeutel und machte sich an die Arbeit.
Erst als er wieder zurück in seine eigene Kammer geschlichen war und auf seinem Strohsack lag, spürte er das Zittern in seinen Händen. Niemand Weiteres war aufgewacht – trotz des Donners, es war kaum zu glauben. Tuark hätte ihm vermutlich, ohne zu zögern, die Kehle aufgeschlitzt. Und selbst wenn nicht – das letzte Mal, als er dem Meister nicht gehorsam gewesen war, hatte er einen Mond lang nur Wurzeln essen dürfen.
Er hörte das Schnarchen neben sich, und diesmal beruhigte es ihn. Noch immer konnte er nicht schlafen, doch je länger er auf den Regen lauschte und seine Gedanken schweben ließ, umso sicherer war er sich, das Richtige getan zu haben. Die Erkenntnis erfüllte ihn warm. Er war ein Mandrêb, und ja, er hatte das Richtige getan.
Eine Bewegung über ihm. Nicht mehr als ein Schatten. Kidogo riss die Arme hoch, war mit einem Schlag hellwach. Wollte aufspringen.
»Leise.« Schüchtern, schnell.
Kidogo hielt inne. Brauchte einen Augenblick, bis er die Stimme zuordnen konnte – Tuarks Sohn. Was wollte der? Sofort kam ihm die Sterbende in den Sinn. War etwas schiefgelaufen? Besorgt sah er zu seinem Meister hinüber, doch dessen Schnarchen rasselte so regelmäßig wie zuvor. Er wandte sich wieder seinem Besucher zu. Und erkannte erst jetzt, dass jener nackt war.
»Ich habe Angst, zu schlafen«, flüsterte der Bursche. »Könnt Ihr mich halten?«
»Na gut«, flüsterte Kidogo und schlug die Decke zurück. »Komm her.«
»War das nötig?«, fragte der Meister, während ihm Kidogo die Waschschüssel reichte. Dessen nächtlicher Gast war bereits vor dem Morgengrauen aus der Kammer geschlichen.
»Er brauchte jemanden, der ihn tröstet«, entgegnete Kidogo gereizt.
»Er war überfordert von seinem Schmerz. Gleich, welchen Halt er bei dir zu finden glaubte – nach dem Frühstück reisen wir ab, und er wird auf sich allein gestellt sein.«
»Wir können das Morgen nicht bewältigen, wenn wir uns dem Heute entziehen«, zitierte Kidogo einen der Lieblingssprüche des Meisters.
»Gib mir meinen Mantel.« Das war das Ende des Austauschs, stumm kleideten sie sich an.
Der Regen hatte sich gelegt, durch die Tür war Aufruhr zu hören. Als sie den Hauptraum betraten, waren sie die Einzigen dort. Ihre Gastgeber hatten sich in der Kammer der Kranken versammelt.
Der Meister wartete geduldig, und obwohl Kidogo hungrig war, sagte er nichts. Endlich wurden sie von der älteren Tochter bemerkt, die wiederum ihren Vater unterrichtete. Tuark eilte aus der Kammer, ein fiebriges Leuchten hatte sich über sein Gesicht gelegt. »Ha!«, rief er triumphierend. »Mandrêbanim, kommt und seht.« Er packte den Meister am Handgelenk und zog ihn in die Kammer. Winkte auch Kidogo, zu folgen. »Was sagt Ihr jetzt? Was kann Eure Kunst ausrichten im Vergleich zu den Wundern der Goldenen Göttin?« Grob schob er seine Kinder zur Seite, zog seinen Fang ans Krankenlager. »Sie ist wach. Sie wird leben. Seht. Atua-Kore hat sich erbarmt.«
Tatsächlich hatte die Sterbende die Augen geöffnet. Ihr Blick war erschöpft, aber wach. Tuark fasste mit beiden Pranken ihre Hand, kniete sich zu ihr, küsste ihre Finger.
Es war ein rührendes Bild. Obwohl Kidogo sich Tuark nicht sonderlich verbunden fühlte, presste es ihm die Brust zusammen, den Mann so erregt zu sehen, so hoffnungsfroh. Es war eine falsche Hoffnung – und Kidogo hatte sie ihm aufgebürdet. Sein Blick traf den des Burschen, versuchte ein aufmunterndes Nicken, aber sein Körper war taub.
»Wir danken Euch für Eure Gastfreundschaft«, sagte der Meister.
»Ihr wollt uns schon verlassen?« Tuark sprang auf. »Bleibt, esst, wir werden Euch Bier ausschenken. Heute ist ein Tag zum Feiern.«
»Danke, aber wir wollen weiter.«
»Wohin?«
»In die Berge.«
»In die Berge des Zorns?« Tuark machte große Augen. »Der Winter währt hier oben länger als im Süden. Es kann noch Wochen dauern, bis die Pässe gangbar sind.«
»Wir werden sehen.«
»Und der Riese ist erwacht. Unsere Jäger berichten, sie hätten seine Stiefeltritte gehört.«
»Der Riese kümmert uns nicht.«
Eine tiefe Furche bildete sich auf Tuarks Stirn, doch er verzichtete auf weitere Einwände. »Wie Ihr meint. Aber nehmt Brot und Früchte mit. Meine Kinder werden Euch eine Tasche packen.«
Sie hatten das Dorf bereits eine halbe Meile hinter sich gelassen, als Kidogo einer Eingebung folgte und einen letzten Blick über die Schulter warf. Vor dem noch immer geöffneten Tor stand Tuarks Sohn und sah ihnen nach.
»Folgt er uns?«, fragte der Meister.
Kidogo schüttelte den Kopf.
»Gut für ihn.«
Irgendwann werde ich einen Stein nehmen, dachte Kidogo, und dich erschlagen, Meister.
Weitere Kapitel:
Der Winter war schon alt, trotzdem war noch kein Zeichen des Frühlings zu entdecken. Seit dem Vormittag wollte es nicht aufhören zu regnen. Außerdem war es kalt geworden, ein eisiger Wind blies über die Steppe. Kidogo brannten die Ohren vor Kälte, und zugleich schwitzte er unter seinem Ranzen. Seinen Meister hingegen schien das missliche Wetter nicht zu stören, ohne ein Zeichen von Verdruss schritt er vorneweg. Die Hochstraße, der sie folgten, war von einem der versunkenen Völker gebaut worden, vermutlich war sie viele Jahrtausende alt. Sie musste einmal ein ehrfurchtgebietendes Kunstwerk gewesen sein – doch inzwischen ragten nur noch vereinzelte Trümmer aus dem Sumpf, in welchen der Regen den Weg verwandelt hatte.
Mit zusammengebissenen Zähnen zog Kidogo die Schulterriemen fester. Er würde sich von einem alten Mann nicht vorführen lassen. Missmutig suchte er den Horizont nach einer Siedlung ab. Die Dämmerung nahte bereits, eine weitere Nacht im Freien drohte. In der letzten Nacht hatten sie Wölfe heulen hören. Ein Blick in den Himmel half nicht, seine Stimmung zu verbessern – so leer sein Magen war, so schwer waren die Bäuche der Wolken, die über ihnen hingen. Unter ihm schmatzten seine Sandalen im Morast.
Plötzlich fiel ihm auf, dass die Landschaft sich verändert hatte; woher kamen die weißen Ablagerungen? Kalk? Aber abgesehen von den Straßentrümmern war der Boden nicht steinig. Und was noch merkwürdiger war: Der Regen wirkte auf einmal irgendwie ... fleckig. Manche der Flecken blieben grau auf seinen Armen liegen. Erschreckt wischte er sie weg, doch sofort fielen neue.
»Keine Sorge.« Der Meister war stehen geblieben, hatte sich zu ihm umgedreht. »Das ist Schnee.«
»Schnee?« Kidogo sah gebannt auf die wirbelnden Flocken. »Ich dachte, Schnee ist weiß. Und weniger ... nass.«
»Wenn wir in die Berge kommen, wirst du auch weißen Schnee sehen.«
»Es ist merkwürdig«, murmelte Kidogo, »mein ganzes Leben bin ich auf Wanderschaft, und heute sehe ich zum ersten Mal Schnee.«
Eine eigentümliche Note gelangte in den Blick des Meisters. Es schien, als wollte er etwas sagen, besinne sich dann jedoch anders.
»Was ist?«
»Du erinnerst dich wirklich nicht?«
Mit hochgezogenen Brauen zeigte er seine Verständnislosigkeit.
»Du hast bereits Schnee gesehen.«
»Sicher nicht.« Zur Bekräftigung schüttelte er den Kopf. »Das hätte ich gemerkt.«
Eine Weile musterte der Meister ihn stumm. Dann seufzte er das Seufzen, das Kidogo von ihm kannte, wenn er eine schwierige Entscheidung gefällt hatte. »Ich habe dir erzählt, wie ich dich gefunden habe ...«
Denkbar knapp. Kidogo wusste nur, dass er dem Meister von einem ranaischen Soldaten überlassen worden war, als Dank für dessen Leben. Ganz gleich, wie oft er nachgebohrt hatte, nie hatte er mehr erfahren.
»Ich habe dir nicht gesagt, wo«, sprach der Meister weiter. »Du bist ein Kind der Berge, Kidogo.«
Kidogo vergaß die Kälte, vergaß auch die vom Ranzen schmerzenden Schultern, die durchgelaufenen Sandalen. Er machte einen vorsichtigen Schritt auf den Meister zu – wie auf einen Vogel, den man nicht aufschrecken will. »Erzählst du mir endlich, wer ich bin?«
»Du bist ein Mandrêb, du hast dein Leben dem Heilen gewidmet.«
»Was du nicht sagst«, rief Kidogo zornig. »Aber wo komme ich her – wann verrätst du mir das?«
»Bald.«
»Wann?«
»Nicht heute.«
Wie ein Eimer kaltes Wasser stürzte die Enttäuschung auf ihn nieder. »Wann dann?«
»Wenn du soweit bist.«
Es war aussichtslos. Seit Jahren fragte er seinen Meister nach seiner Herkunft, und seit Jahren hielt der Meister ihn hin. Zermürbt fuhr er sich durch die Haare. »Ich bin soweit! Ich kenne die Pflanzen und Tiere so gut wie du, ich habe alle deine Prüfungen bestanden, was willst du denn noch?«
»Geduld, mein Schüler.« Der Meister wies über die Ebene.
»Geduld, immer forderst du Geduld, noch auf dem Sterbebett wirst du Geduld fordern ...«
»Sieh nach Westen.«
Halbherzig folgte Kidogo der Aufforderung. Licht, endlich. Eine Siedlung.
»Gehen wir«, befahl der Meister trocken.
»Und wenn wir dort sind, wirst du meine Fragen beantworten?«
»Nein. Aber ich werde zusehen, dass wir eine warme Suppe bekommen.«
Mit Einbruch der Dämmerung erreichten sie das Dorf. Inzwischen hatte sich der Schnee wie eine weiße Decke über die Steppe gelegt, doch Kidogo konnte sich nicht für das ungeahnte Naturschauspiel begeistern. Stets hatte er sich nach dem Willen des Meisters gerichtet – und was war der Dank? Er wehrte sich nicht gegen das Dasein als Mandrêb, es war eine Aufgabe so gut wie jede andere. Aber warum wollte der Meister ihm seine Herkunft nicht verraten? So vielen Regeln die Mandrêbanim sich unterwerfen mussten – seine Abstammung zu verleugnen, gehörte nicht dazu. Glaubte Kidogo zumindest. Es war ihm nur zu bewusst, wie wenig der Meister auch über die eigene Vergangenheit preisgab.
Ein Graben und ein Palisadenwall schützten das Dorf. »Was wollt Ihr?«, ertönte es von einem hölzernen Wachturm. Die Frage war auf Naaluk gestellt worden. Von allen Sprachen, die Kidogo hatte lernen müssen, war ihm Naaluk am leichtesten gefallen. Trotzdem konnte er sich nicht erinnern, sie je aus einem anderen Mund als dem seines Meisters gehört zu haben.
»Ich bin Kumbuko«, erwiderte der Meister, »und dies ist mein Schüler Kidogo. Wir bieten unsere Hilfe an.«
»Ihr seid Schamanen? Wartet.«
Nur wenige Augenblicke später wurde das Tor zur Seite geschoben und ein Brett über den Graben gelegt. Dahinter hatten sich mehrere Dutzend Leute versammelt, das ganze Dorf musste zugegen sein. Ein stämmiger Mann mit tellergroßen Händen und verhärmter Miene verneigte sich unbeholfen. »Es ist lang her, dass ein Schamane uns besucht hat. Ich bin Tuark. Ich leite dieses Dorf im Namen Ranuis und mit dem Segen Atua-Kores. Seid willkommen.« Mit einer weiten Handbewegung trat er zur Seite. Dies sahen die Kinder als Zeichen, johlend herbeizurennen.
»Sagtest du nicht, die Naalu verehren ihre eigenen Götter?«, flüsterte Kidogo seinem Meister zu.
»Ich war lange nicht mehr hier«, antwortete der Angesprochene ebenso leise. Dann wandte er sich an Tuark: »Danke, Freund. Sagt, habt Ihr einen Raum, wo wir die Nacht verbringen können?«
»Seid meine Gäste.«
Es gab tatsächlich Suppe, dazu ein Brot, das so hart war, dass man es erst einweichen musste, bevor man es kauen konnte. Tuarks Langhaus war das größte des Dorfes; dennoch bot der Hauptraum gerade ausreichend Platz für den Meister, Kidogo, Tuark selbst und dessen drei erwachsene Kinder. Die beiden Töchter hoben den Blick kaum von ihren Schalen. Der Sohn allerdings folgte dem Gespräch mit aufmerksamem Blick.
»Wie lange wollt Ihr bleiben?«, fragte Tuark den Meister.
»So lange, wie unsere Dienste benötigt werden.«
Auf der Stirnseite des Raumes gab es einen Kamin, in dem ein Feuer knisterte. Doch es war zu klein, als dass seine Wärme Kidogo erreicht hätte.
Tuark musste sein Zittern bemerkt haben, denn er hob einladend die Hand. Dankbar stand Kidogo von seinem Schemel auf, nahm seine Schale und trat ans Feuer.
»So sehr wir Euer Angebot zu schätzen wissen«, hörte er Tuark hinter sich sagen, »wir brauchen Eure Dienste nicht.«
»Wie Ihr meint«, entgegnete der Meister.
»Seid Ihr sicher?« Verblüfft wandte sich Kidogo vom Feuer ab, der Gruppe zu. In jedem Dorf gab es etwas zu tun – einen Alten, der nicht mehr schlucken konnte, eine Schwangere, die so sehr ermattet war, dass sie die Geburt nicht überleben würde, ein Kind, dem die Ohren schmerzten. »Sollen wir nicht zumindest Eure Zähne ansehen?«
»Wir brauchen Eure Hilfe nicht.« Es klang überraschend grob. Inzwischen hatten auch die Töchter sich von ihrer Suppe gelöst. Groß und ängstlich blickten ihre Augen in den Raum.
»Glaubt Ihr«, rief Kidogo, »Ihr könnt für alle hier sprechen?«
»Schweig«, befahl der Meister, »und sei dankbar für die Gastfreundschaft.«
Eine unangenehme Stille trat ein. Neben dem Kamin war ein Altar aufgebaut, mürrisch betrachtete Kidogo die Holzfiguren darauf. Er wusste nicht viel über die Götter des Nordens, doch der bronzene Ring, in dem sie standen, wirkte ausgesprochen fehl am Platz. Auf einem Tuch lagen mehrere Münzen mit den Zeichen Atua-Kores – das Zubehör, mit dem die Ranu den Willen ihrer Göttin zu deuten suchten; die Münzen wurden einzeln geworfen, und abhängig davon, auf welche Stelle sie fielen und in welcher Position zueinander sie liegen blieben, offenbarte sich dem geübten Auge noch das dunkelste Geheimnis. Behaupteten die Ranu. Aberglaube, sagte der Meister. Kidogo war bereits bei einigen Münzwürfen zugegen gewesen, aber nur in den Kernprovinzen des Reiches.
»Atua-Kore umfasst uns alle.« Tuark war zu ihm getreten. »Erde und Himmel, Menschen wie Götter. Wenn genug Menschen sich vor ihr verneigen, wird sie das Goldene Zeitalter über uns kommen lassen.«
Kidogo warf dem Meister einen fragenden Blick zu, doch der schüttelte unauffällig den Kopf. Tuarks gewaltige Pranke legte sich auf Kidogos Schulter, ließ ihn zusammenzucken. Gewöhnlich wagten es nur Kinder, von sich aus einen Mandrêb zu berühren. Erwachsene fürchteten, von den Schmerzen befallen zu werden, die der Mandrêb anderen genommen hatte. Ein Aberglaube, so alt, dass selbst der Meister seinen Ursprung nicht zu erklären vermocht hatte.
»Setzt Euch«, sagte Tuark, ohne die Hand von der Schulter zu nehmen, »esst.«
»Atua-Kore wird Mutter nicht retten.« Die jüngere der beiden Töchter hatte gesprochen. Ihre Geschwister erstarrten, der Vater fuhr herum. Am erschrockensten schien das Mädchen selbst.
»Du schmähst die Goldene?«, herrschte Tuark seine Tochter an. »Willst du brennen?« Die Zurechtgewiesene beugte sich tief über den Rest ihrer Suppe, kratzte hastig die Schale aus.
»Das heißt, Ihr braucht Hilfe?«, versetzte Kidogo mit Genugtuung. Im selben Moment bemerkte er den fauligen Geruch, der aus dem Nebenraum drang. Der Geruch von Krankheit. Wie hatte der ihm bisher nicht auffallen können? Er sah zu seinem Meister. Dieser hatte die bessere Nase, musste den Gestank schon lange wahrgenommen haben. Weshalb hatte er nichts gesagt?
»Wir brauchen keine Hilfe. Nicht von Euch«, knurrte Tuark. »Atua-Kore wird entscheiden.«
»Warum habt Ihr uns dann überhaupt in Euer Haus gelassen?«
»Gäste werden vom Dorfältesten beherbergt. So verlangt es unsere Tradition.«
»Tatsächlich?« Kidogo konnte es nicht glauben. »Tradition ... wie lange ist es her, dass Ihr vor Ranui das Knie gebeugt habt? Ein paar Jahre? Und das reicht Euch, um das Leben Eurer Frau einer fremden Gottheit in die Hände zu legen?« Er folgte dem Geruch, trat auf die entsprechende Tür zu.
»Zurück!«, bellte Tuark. »Schert Euch um Eure eigenen Angelegenheiten.«
»Kidogo.« Es war die Stimme des Meisters, und sie duldete keinen Widerspruch.
Die Mahlzeit wurde in Schweigen beendet.
Der Schnee hatte offenbar nur kurz vorbeigeschaut, draußen prasselte der Regen. Ruhelos wälzte Kidogo sich auf seinem Strohsack. Tuark hatte ihnen die Nachtkammer überlassen, sich mit seinen Kindern im Hauptraum schlafen gelegt. Neben Kidogo schnarchte der Meister laut genug, um den Regen zu durchdringen. Wie konnte der Alte bloß so ungerührt sein? Früher hatten die Ranu zwar mit Schwert und Feuer gewütet, aber zumindest hatte man den unterworfenen Völkern die eigene Kultur gelassen. Nun war wohl auch das vorbei.
Ein Mandrêb war zur Hilfe verpflichtet, es war nicht weniger als seine Bestimmung. Wie könnte Kidogo sich noch als Heiler bezeichnen, wenn er seelenruhig schliefe, während im Nebenraum womöglich jemand starb?
Nein, er musste etwas tun.
Leise erhob er sich von seinem Lager, tastete im Dunkeln nach seinem Kräuterbeutel, schlich aus der Kammer. Horchte in den Hauptraum hinein. Ein wenig aussichtsreiches Unterfangen, der Regen trommelte gegen das Dach des Langhauses, als wolle er es zertrümmern. Im Glimmen des niedergebrannten Kaminfeuers erkannte Kidogo die Umrisse der Gastgeber, dick wie Maden lagen sie in ihre Felle gehüllt.
Fuß um Fuß näherte er sich der Tür zur Kammer der Kranken, den Blick auf die Schlafenden gerichtet. Sie zuckten und drehten sich, zweifelsohne wurden ihre Träume von Sorge zerfressen, doch niemand erwachte. Er erreichte die Tür; mit angehaltenem Atem öffnete er sie einen Spalt, spähte hinein. Ein Talglicht brannte, beleuchtete ein Lager mit einem Berg von Fellen, unter denen eine ältere Frau begraben lag. Außerdem waren zwei Schemel und ein Tisch mit einer Waschschüssel zu erkennen, ansonsten schien die Kammer leer. Kidogo hatte von dem Brauch gehört, dass man in Ranui die Sterbenden in der entscheidenden Nacht alleine ließ – so würde Atua-Kore in ihrer Entscheidung nicht gestört, ob sie Gnade zeigen wollte. Es war haarsträubend. Wie konnte jemand an eine Gottheit glauben, die es dir verbot, Abschied von deinen Nächsten zu nehmen?
Er huschte durch den Türspalt, schloss vorsichtig die Tür hinter sich und trat an das Lager.
Nachdem er seine Hand auf die schweißige Stirn der Kranken gelegt und ihren Puls gefühlt hatte, zog er die Felle zur Seite, tastete ihren Bauch ab. Er hatte bereits eine Befürchtung, und als er die Verhärtung an ihrer Seite spürte, erlangte er Gewissheit – das Geschwür war zu groß, die Frau war nicht zu retten.
»Wird sie sterben?«
Vor Schreck setzte Kidogo das Herz aus. An der Tür stand eine dunkle Gestalt, er hatte nicht gemerkt, wie sie hereingekommen war. Einen Wimpernschlag lang dachte er, Tuark habe ihn entdeckt – doch die Gestalt war weniger stämmig, die Stimme weniger schwer. Der Sohn.
»Schließ die Tür.«
Der Bursche tat es. »Sie wird sterben, nicht wahr?« Er klang gefasst. Wahrscheinlich hatte er nur ein paar Winter weniger gesehen als Kidogo.
Was nützte es, zu lügen. »Ja.«
»Wann?«
»Wenn sie nicht schläft, ist sie dann ansprechbar?«
»Sie schreit und hat Krämpfe. Sie erkennt niemanden.«
»Wenige Tage. Vielleicht eine Woche. Es tut mir leid.«
»Eine Woche?« Die Stimme zitterte. »So lang?«
Die Reaktion überraschte Kidogo nicht. Er hatte schon häufiger miterlebt, wie Menschen daran litten, ihre Liebsten sterben zu sehen. Wie sie sich irgendwann nur noch wünschten, dass es vorbei wäre. Hilflos zuckte er mit den Schultern.
»Ihr könnt nichts tun ...?« Der Bursche zögerte, wandte den Kopf ab.
»... Dass es schneller geht?«, beendete Kidogo den Satz.
Ein Schweigen, das Antwort genug war.
»Ich kann ihr etwas geben, das ihre Schmerzen lindert.« Kidogo schluckte. »Und verkürzt.«
»Bitte.«
Ein Lichtblitz zerriss die Nacht, zeigte das schrecklich leere Gesicht eines jungen Mannes, der gerade um den Tod seiner Mutter gebeten hatte. Der Donner rollte heran. Wie passend, dachte Kidogo schaudernd. Wenn Leben und Tod sich begegneten, wühlte es sogar den Himmel auf.
Mit klammen Fingern griff er nach seinem Kräuterbeutel und machte sich an die Arbeit.
Erst als er wieder zurück in seine eigene Kammer geschlichen war und auf seinem Strohsack lag, spürte er das Zittern in seinen Händen. Niemand Weiteres war aufgewacht – trotz des Donners, es war kaum zu glauben. Tuark hätte ihm vermutlich, ohne zu zögern, die Kehle aufgeschlitzt. Und selbst wenn nicht – das letzte Mal, als er dem Meister nicht gehorsam gewesen war, hatte er einen Mond lang nur Wurzeln essen dürfen.
Er hörte das Schnarchen neben sich, und diesmal beruhigte es ihn. Noch immer konnte er nicht schlafen, doch je länger er auf den Regen lauschte und seine Gedanken schweben ließ, umso sicherer war er sich, das Richtige getan zu haben. Die Erkenntnis erfüllte ihn warm. Er war ein Mandrêb, und ja, er hatte das Richtige getan.
Eine Bewegung über ihm. Nicht mehr als ein Schatten. Kidogo riss die Arme hoch, war mit einem Schlag hellwach. Wollte aufspringen.
»Leise.« Schüchtern, schnell.
Kidogo hielt inne. Brauchte einen Augenblick, bis er die Stimme zuordnen konnte – Tuarks Sohn. Was wollte der? Sofort kam ihm die Sterbende in den Sinn. War etwas schiefgelaufen? Besorgt sah er zu seinem Meister hinüber, doch dessen Schnarchen rasselte so regelmäßig wie zuvor. Er wandte sich wieder seinem Besucher zu. Und erkannte erst jetzt, dass jener nackt war.
»Ich habe Angst, zu schlafen«, flüsterte der Bursche. »Könnt Ihr mich halten?«
»Na gut«, flüsterte Kidogo und schlug die Decke zurück. »Komm her.«
»War das nötig?«, fragte der Meister, während ihm Kidogo die Waschschüssel reichte. Dessen nächtlicher Gast war bereits vor dem Morgengrauen aus der Kammer geschlichen.
»Er brauchte jemanden, der ihn tröstet«, entgegnete Kidogo gereizt.
»Er war überfordert von seinem Schmerz. Gleich, welchen Halt er bei dir zu finden glaubte – nach dem Frühstück reisen wir ab, und er wird auf sich allein gestellt sein.«
»Wir können das Morgen nicht bewältigen, wenn wir uns dem Heute entziehen«, zitierte Kidogo einen der Lieblingssprüche des Meisters.
»Gib mir meinen Mantel.« Das war das Ende des Austauschs, stumm kleideten sie sich an.
Der Regen hatte sich gelegt, durch die Tür war Aufruhr zu hören. Als sie den Hauptraum betraten, waren sie die Einzigen dort. Ihre Gastgeber hatten sich in der Kammer der Kranken versammelt.
Der Meister wartete geduldig, und obwohl Kidogo hungrig war, sagte er nichts. Endlich wurden sie von der älteren Tochter bemerkt, die wiederum ihren Vater unterrichtete. Tuark eilte aus der Kammer, ein fiebriges Leuchten hatte sich über sein Gesicht gelegt. »Ha!«, rief er triumphierend. »Mandrêbanim, kommt und seht.« Er packte den Meister am Handgelenk und zog ihn in die Kammer. Winkte auch Kidogo, zu folgen. »Was sagt Ihr jetzt? Was kann Eure Kunst ausrichten im Vergleich zu den Wundern der Goldenen Göttin?« Grob schob er seine Kinder zur Seite, zog seinen Fang ans Krankenlager. »Sie ist wach. Sie wird leben. Seht. Atua-Kore hat sich erbarmt.«
Tatsächlich hatte die Sterbende die Augen geöffnet. Ihr Blick war erschöpft, aber wach. Tuark fasste mit beiden Pranken ihre Hand, kniete sich zu ihr, küsste ihre Finger.
Es war ein rührendes Bild. Obwohl Kidogo sich Tuark nicht sonderlich verbunden fühlte, presste es ihm die Brust zusammen, den Mann so erregt zu sehen, so hoffnungsfroh. Es war eine falsche Hoffnung – und Kidogo hatte sie ihm aufgebürdet. Sein Blick traf den des Burschen, versuchte ein aufmunterndes Nicken, aber sein Körper war taub.
»Wir danken Euch für Eure Gastfreundschaft«, sagte der Meister.
»Ihr wollt uns schon verlassen?« Tuark sprang auf. »Bleibt, esst, wir werden Euch Bier ausschenken. Heute ist ein Tag zum Feiern.«
»Danke, aber wir wollen weiter.«
»Wohin?«
»In die Berge.«
»In die Berge des Zorns?« Tuark machte große Augen. »Der Winter währt hier oben länger als im Süden. Es kann noch Wochen dauern, bis die Pässe gangbar sind.«
»Wir werden sehen.«
»Und der Riese ist erwacht. Unsere Jäger berichten, sie hätten seine Stiefeltritte gehört.«
»Der Riese kümmert uns nicht.«
Eine tiefe Furche bildete sich auf Tuarks Stirn, doch er verzichtete auf weitere Einwände. »Wie Ihr meint. Aber nehmt Brot und Früchte mit. Meine Kinder werden Euch eine Tasche packen.«
Sie hatten das Dorf bereits eine halbe Meile hinter sich gelassen, als Kidogo einer Eingebung folgte und einen letzten Blick über die Schulter warf. Vor dem noch immer geöffneten Tor stand Tuarks Sohn und sah ihnen nach.
»Folgt er uns?«, fragte der Meister.
Kidogo schüttelte den Kopf.
»Gut für ihn.«
Irgendwann werde ich einen Stein nehmen, dachte Kidogo, und dich erschlagen, Meister.