Kadidja Wedekind im Ammerland

Kadidja Wedekind wächst bei ihrer Mutter, der Schauspielerin Tilly Newes, in München und Ambach am Starnberger See auf. 1933 erscheint ihr Kinderroman Kalumina. Roman eines Sommers, den sie bereits im Alter von 17 Jahren verfasst hat. Darin erzählt Kadidja Wedekind von der Gründung des Kaiserreiches „Kalumina“ am Starnberger See. Während der Sommerferien liegt der Knabe Lukas Brandt auf dem Dach des Holzschuppens und blättert in seinem Briefmarkenalbum:

Lukas gehörte zu jenen Knaben, die harmlos und lieblich aussehen, wie kleine Engel, und es dabei besonders faustdick hinter den Ohren haben.

Plötzlich horchte er auf und spähte mit der Vorsicht eines altgewohnten Karl-May-Lesers durch die Zweige der Rotbuche, die neben dem Schuppen in einer Gartenecke wuchs. Hinter dem Zaun stapfte ein Bauernjunge durchs Gras.

„He, holla, Franzl!“, rief Lukas.

Franzl blieb stehen und sah um sich, woher die Stimme gekommen war.

Lukas kicherte. „Komm doch 'rauf, Franzl!“, rief er.

Franzl hob den Blick zur Rotbuche, ob Lukas vielleicht dort in den Zweigen versteckt sei. Aber dann ging ein freundliches Grinsen über sein Gesicht, denn er hatte den Jungen auf dem Dach des Schuppens entdeckt. „Ach, da oben bist du?“, sagte er.

„Ja! Komm 'rauf!“, rief Lukas noch einmal. „Du musst links um den Zaun gehen! Da steht ein Fass!“

Franzl ging links herum. Dort stieß der Zaun mit dem Holzschuppen zusammen, und zwischen Zaun und Schuppen hatte Lukas ein altes Fass aufgestellt. Franzl begriff sofort diese sinnvolle Einrichtung: Er kletterte auf das Fass, schwang sich von da auf die oberste Planke des Zaunes und konnte nun das Schuppendach erreichen.

Er klammerte sich fest, und pustend und strampelnd zog er sich hinauf.

Lukas sah ihm von oben zu und fand, dass er sich fürs erste Mal nicht ungeschickt anstellte bei dieser schwierigen Kletterei.

Als die beiden Jungen nebeneinander auf dem Dach kauerten, begannen sie sofort von dem zu sprechen, was sie zurzeit am meisten beschäftigte: vom Anfang der Ferien.

„Die Riemels sind schon gekommen!“, berichtete Franzl.

„Ja – und der Ufo Selinger wohnt auch wieder bei der Frau Muru!“, sagte Lukas.

„Deine Mutter ist wohl verreist?“, fragte Franzl.

„Ja – sie weiß noch gar nicht, wann sie wiederkommen kann“, erwiderte Lukas, und er sah ein bisschen traurig aus.

„Da bist du ganz allein während der Ferien?“, meinte Franzl bedauernd.

Jetzt schmunzelte Lukas: „Na, so ganz allein bin ich ja eigentlich nicht. Ich bekomme nämlich Besuch ...“

„So? Wer kommt denn?“, Franzl wurde neugierig.

„Ein Mädchen. Carola Lindhorst heißt sie. Weißt du, eine von den Lindhorsts, die letztes Jahr in Seeheim gewohnt haben.“

„Ach, die kenn' ich!“, sagte Franzl. „Die ist aber schon ziemlich alt.“

„Vierzehn oder fünfzehn ungefähr. Sie soll mir während der Ferien Gesellschaft leisten und auf mich aufpassen.“ Lukas lächelte vergnügt, als sei es ein besonders erheiternder Gedanke, dass diese fünfzehnjährige Carola auf ihn aufpassen sollte.

„Na, die wird schon recht streng mit dir umgehen!“, meinte Franzl bedächtig und beide Jungen mussten lachen. Dann musterte Franzl mit Kennerblick ein dunkles Wolkengebirge, das sich über Tutzing heranschob. „Ich glaube, heut gibt's noch ein Gewitter ...“

„Ach wo! Das verzieht sich wieder!“, bestritt Lukas. „Oder es geht über Tutzing nieder.“

„Es gibt bestimmt noch was!“

„Es verzieht sich bestimmt!“

„Es gibt was!“

„Es verzieht sich, du Idiot!“

Um ein Haar wären die Wetterprophezeiungen in einen Boxkampf ausgeartet. Aber plötzlich fragte Franzl unvermittelt: „Wann kommt sie denn an?“

„Mit dem Abendschiff“, sagte Lukas.

„Mhm“, brummte Franzl. Und Lukas schwieg.

Den Rest des Nachmittags vertrieben sich die Jungen mit dem Briefmarkenalbum und einer Landkarte des Starnberger Sees und seiner Umgebung, die sich zwischen den Seiten des Albums gefunden hatte. Sie zeichneten mit einem Stück Rotstift ganz neue Wege ein und erfanden höchst originelle und verzwickte Schiffsverbindungen. (Kadidja Wedekind: Kalumina. Der Roman eines Sommers. Hg. und mit einem Nachwort von Dirk Heißerer. Gauting 1996, S. 9-14. © Erbengemeinschaft Kadidja Wedekind © P. Kirchheim Verlag, München 1996)

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek

Sekundärliteratur:

Tworek, Elisabeth (2011): Literarische Sommerfrische. Künstler und Schriftsteller im Alpenvorland. Ein Lesebuch. Allitera Verlag, München, S. 203f., S. 265.