Lion Feuchtwanger in Oberfernbach

Der in München geborene jüdische Schriftsteller Lion Feuchtwanger zieht 1925 nach Berlin und geht 1933 ins Exil. Mit seinem Roman Erfolg von 1930 gelingt ihm ein treffsicherer Zeitroman über den aufkommenden Nationalsozialismus in Bayern und München. Darin findet sich auch ein längerer zeitkritischer Passus über das Apostelspiel im Gebirgsdorf Oberfernbach:

Jetzt also, auf Betreiben des Greiderer, tanzte der Rochus Daisenberger zur Zither. Vertauschte die Sandalen umständlich gegen feste, genagelte Schuhe. Tanzte den landesüblichen Stampftanz, schuhplattelte. Sprang, schlug sich das Gesäß, stampfte. Schlug sich die Schuhsohlen. Holte sich eines der Mädchen. Umkreiste sie, springend, stampfend, balzend, während sie den Arm überm Kopf hochhob. Seine blauen, listigen, tief liegenden Augen strahlten ungeheure Lust, sein Apostelbart flog, grotesk umwallte ihn der würdig lange, schwarze Rock, während er sich Gesäß und Schuhsohlen schlug. Er tanzte mit wilder Hingabe, schamlos. Alle hörten auf zu sprechen, schauten dem Alten zu, wie er besessen, lustig, ungeheuer eindeutig herumstampfte. Er kehrte seiner Tänzerin den Rücken. Immer tanzend, während sie zurück auf ihren Platz ging, näherte er sich einer eleganten Fremden, verneigte sich. Die Dame lächelte geniert, zauderte. Dann stand sie auf, machte die leicht zu erfassenden Drehungen, sonderbar umtanzt von dem hagern Apostel. Er schien unermüdlich; immer neue Variationen fand er. Die blasierten Fremden schauten ihm zu.

Andern Tages dann saß man in der primitiven Holzhalle, in der das Spiel vor sich ging. Das Spiel war Gestümper, steif und trocken, endlos, geschraubt, bürokratisch. Herr Pfaundler fand sich bestätigt. Hier erzielte man zwar noch ausgezeichnete Preise, während man in den Kirchen bereits froh war, wenn die Leute sich herbeiließen, gratis zu kommen. Aber er hatte schon den Riecher gehabt, als er absah von dem Passionsfilm und sich zu der Revue „Höher geht's nimmer“ entschloss. Immer lähmendere Langeweile verbreitete sich. Der Minister Flaucher, sehr gewillt, die fromme und volkstümliche Sache gut zu finden, rieb sich immer öfter zwischen Hals und Kragen, konnte, selbst er, eine wachsende Lust zu gähnen kaum bezwingen. Der Kronprinz Maximilian, gewohnt an Manöver und Disziplin, machte ungeheure Anstrengungen, die gebotene interessierte Miene festzuhalten. Er saß in guter Haltung inmitten seiner Herren; doch alle fünf Minuten musste er die Lider hochreißen, dass sie nicht herabsanken, die Schultern hochdrücken, dass sie nicht erschlafften. Hier und dort, trotz der Heiligkeit, begann man verstohlen zu essen, versuchte sich durch heimliche Turnübungen den Schlaf fernzuhalten. Eine Erholung war es, flog einmal ein Vogel, ein Schmetterling über den offenen Bühnenraum.

Nur wenn der Fuhrmann Rochus Daisenberger vorkam, horchte man auf. Die ändern hackten dressiert ihren armseligen Text herunter. Der Rochus Daisenberger blieb auch als Apostel Petrus er selber, eifernd, strahlend aus tief liegenden, blauen Augen, häufig lachend mit seinen Goldzähnen, einen großen Teil Welt für sich beanspruchend. (Zit. aus: Lion Feuchtwanger: Erfolg. Drei Jahre Geschichte einer Provinz. Berlin 2002, S. 429-431, S. 433f. © Aufbau Verlag, Berlin 1991, 2008)

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek

Sekundärliteratur:

Tworek, Elisabeth (2011): Literarische Sommerfrische. Künstler und Schriftsteller im Alpenvorland. Ein Lesebuch. Allitera Verlag, München, S. 219ff., S. 250.