Michaela Dietl – ich brauch keinen Meister, ich brauch keinen Herrn

https://www.literaturportal-bayern.de/images/lpbthemes/2021/klein/dietl_500.jpg
Foto: Gunna Wendt

Akkordeon- und Melodicaistin, Stimmkünstlerin und Performerin, Textdichterin und Komponistin: Geboren in Landshut/Niederbayern. Gelernte Germanistin, Historikerin und Philosophin. Verdiente sich ihre ersten Sporen als Straßenmusikerin. Seit 1984 zahlreiche Kompositionen für Theater und Film, sowie erfolgreiche Soloprojekte. Zusammenarbeit u.a. mit Fred Frith. Aktuelles Projekt: „Von der Hand in den Mund“ – Soloprogramm von und mit Michaela Dietl.

Wann bist du zum ersten Mal mit Anarchismus in Berührung gekommen?

Einer meiner Akkordeonschüler, der achtzigjährige Benno Scharmanski, führte mich in das Thema ein. Da war ich dreißig Jahre alt. Ich war begeistert von diesem Menschen, der in seinem hohen Alter noch bereit war, ein Instrument zu lernen. Er betonte immer wieder, dass er Anarchist sei. Es musste also etwas Gutes, Kraftvollen, Hoffnung gebendes sein. Benno Scharmanskis Hauptsatz war: Anziehung statt Werbung. Und so war für mich Anarchismus die Besinnung auf die Resonanz als Hauptquelle von menschlichem Leben. Bairisch gesprochen: Mi ziagts dohi wos mi hiziagt – Mich zieht es dahin, wo es mich hinzieht...

Würdest du dich als Anarchistin bezeichnen?

Nein. Nicht mehr. Ich möchte selbst unvoreingenommen sein und mich keiner Theorie, keinem Ismus mehr unterordnen. Heute bezeichne ich Ismusdenken als Lagerdenken, das Zäune und Begrenzungen braucht, um zu existieren.

Welche Rolle hat ein Anarchist wie Benno Scharmanski für dich und deine Arbeit gespielt?

Benno Scharmanski war als Anarchist im KZ Dachau, vorher hatte er Schriften von Bakunin in seinem Garten vergraben. Die gab er mir eines Tages, vergilbt und verschmiert, zum Lesen. Das beeindruckte mich sehr, vor allem, dass diese Schriften so gefährlich waren, dass sie verboten worden sind. Ich bewunderte Benno Scharmanski, einen Münchner Tischler, für seinen Widerstand und seinen Mut. Immer wieder sagte er zu mir: „Schreiben Sie doch mal ein Lied mit dem Titel Ich brauch keinen Meister, brauch keinen Herrn!“ Und so dichtete ich weiter: „Ich will nur noch mir selbst gehörn, ich hab ein Hirn und hab zwei Händ und riechs schon selber, wenns anbrennt.“ Dieses Lied widmete ich ihm. Wir trafen uns an die acht Jahre zum Akkordeonunterricht, danach lud er mich oft auf ein Eis ein. Die Freundschaft endete, als er mit mir in eine anarchistische Kommune ziehen wollte – er wollte uns dort eine Wohnung kaufen – und ich diese Vision nicht teilte. Er bezeichnete mich als „bürgerlich“, und ich entgegnete, dass für mich ein wahrer Anarchist sei, wer die Meinung eines anderen respektiere. Ich würde ihn auch heute noch als Anarchisten bezeichnen und verdanke ihm eine sehr wertvolle gedankliche Auseinandersetzung.

Anarchismus und Bayern – wie passt das für dich zusammen?

Ich glaube noch immer sehr stark an Anziehungskräfte und liebe die bairische Direktheit und Körperlichkeit. Auch in der Sprache. Die bairische Lebensart, auch mal ungestüm, ausufernd, „krachert“! Das sind meine Wurzeln.

Verfasst von: Gunna Wendt (Interview)