Arnold Zweig am Ammersee

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Der Ammersee in der Nähe von Utting (Foto: Durchschrift. Katharina Kuhlmann)

Nach dem Ersten Weltkrieg lässt Arnold Zweig sich als freier Schriftsteller in Starnberg nieder. Neben dem Philosophen Nahum Goldmann zählen der Schriftsteller Lion Feuchtwanger und Sigmund Freud zu seinem Freundeskreis. In seinem Roman Verklungene Tage (1950) beschreibt Zweig eine besondere Begegnung mit einem fremden Herrn, die sein Alter Ego Carl Steinitz in Wildenroth am Ammersee hat:

Carl Steinitz durchblitzte der Einfall, dieser Herr müsste etwas mit dem Simplizissimus zu tun haben, der bissigsten, unabhängigsten und bestgezeichneten Wochenschrift Mitteleuropas. Vielleicht war er jener Maler, der unter dem Namen „Blix“ arbeitete. Aber er wagte nicht, seine Vermutungen laut werden zu lassen; denn jener, nachdem er sich bei der Kellnerin Resi erkundigt hatte, wann das Dampfschiff ihn zur Bahnstation und zum Zuge nach Weilheim zurückbringe (und seine Zeche gezahlt, damit er jederzeit aufbruchbereit sei), sprach ihn unvermittelt an: Was er denn für das Wichtigste halte? Junge Männer zwischen zwanzig und dreißig müssten auf solche Fragen doch vorbereitet sein, da sie ja von heut auf morgen in Uniform gesteckt werden könnten und an die Grenzen geschoben: „Was für Zeitungen lesen Sie hier?“ – „Gar keine.“ Und Carl Steinitz schüttelte lächelnd den überlegenden Kopf. „Das Wichtigste aber ist die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts“, fuhr er fort, „um mit Worten Schillers zu reden. Das Politische interessiert uns nicht, wir überlassen es gern denen, die einen Beruf daraus machen, den Reichstäglern und Herrenhäuslern. Und das sittliche Leben, die Zähmung der Bestie Mensch ist so weit fortgeschritten, dass es in ganz Europa nur noch Haustiere gibt, demokratische; Herden- und Stimmvieh  nützlich und langweilig und alles andere erregend als Besorgnis. Aber für das Ästhetische ist noch viel zu tun. Nirgendwo steht so viel Glück bereit für den, der sehen und hören will.“ Der Herr überließ unmutig seine beiden Barte nervösen Fingern, setzte sich seinen breiten Strohhut auf mit schwarzem Bande, nahm einen Stock zwischen die Knie, blieb aber sitzen, den Blick auf Steinitz' gescheitem und wachem Gesicht. „So denken die“, fragte er halblaut, „die so intelligent aussehen? Was ist da von den ändern zu erwarten? Glauben Sie nicht, dass den Arbeitern, all den Massen, mehr mangelt als bloß das Ästhetische?“ Bloß das Ästhetische, durchfuhr es Steinitz mit Unmut, nein, der Mann ist kein Künstler, er sieht nur so aus. „Die Arbeiter“, wiederholte er, „die Massen. Wenn sie nur nicht so hässlich wären. So roh und gewöhnlich. So feindselig gegen den Geist.“ Der Herr stand auf, blickte hochnäsig auf ihn hinunter – ja, hochnäsig, das war das Wort. „Junger Herr“, sagte er, indem er seinen Hut leicht lüftete, „wenn es Ihnen gelingen sollte, Geist und Sehnsucht nach Geist im Leben zu suchen und nicht in gesammelten Werken, etwa des armen Nietzsche, merken Sie vielleicht einmal, wie viel Brot und Hoffnung jemand braucht, bevor an seine Erziehung zur Schönheit gedacht werden darf. Leben Sie wohl.“ Er nickte belehrend und stelzte davon. Alsbald läutete vom Bootsweg her eine blecherne Glocke. Fahr' ab, magister germaniae, dachte Steinitz spottend. Über Arbeiter wissen Leute einigermaßen Bescheid, die auf der Schuhbrücke in Breslau den Vorzug der Geburt genossen haben und sich mit den schlesischen Volksschülern herumgeprügelt.

Es sollte einmal eine Zeit kommen, in der sich Carl Steinitz beschämt an diese Begegnung erinnern würde und wo er den Titel, den er diesem Mann ironisch beigelegt hatte, nämlich magister germaniae, mit freudigem Ernst in mehreren Erdteilen wiederholen würde. Aber damals wusste er noch nicht, dass er in Wildenroth einer Begegnung mit dem Schriftsteller Heinrich Mann teilhaftig geworden war, der sich zu dieser Zeit nach Weilheim zurückgezogen hatte, von breiteren Erfolgen bei der Leserschaft jener Jahre vorerst ausgeschlossen. (Zit. aus: Arnold Zweig: Verklungene Tage. Roman. München 1950, S. 158-168. © Aufbau Verlag, Berlin 1962)

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek

Sekundärliteratur:

Tworek, Elisabeth (2011): Literarische Sommerfrische. Künstler und Schriftsteller im Alpenvorland. Ein Lesebuch. Allitera Verlag, München, S. 130f., S. 266.