Norbert Niemanns Nachruf auf Günter Grass
Als Allererstes denke ich an seine bis zuletzt schier unfassbare Vitalität und Wachheit: auf der Bühne, wenn er aus seinem Werk las, in der Dachstube des Günter-Grass-Hauses im Kreis des Lübecker Autorentreffens, bei den immer auch feuchtfröhlichen Essen mit politischen Tischgesprächen. Dann, nahezu im selben Atemzug, erinnere ich mich an seine außerordentliche Kollegialität, die nicht allein darin bestand, dass er uns nachkommenden Schriftstellerinnen und Schriftstellern über die Distanz des Ruhms und des Alters hinweg stets auf Augenhöhe begegnete, als einer unter seinesgleichen. Es war ihm auch immer ums Ganze, um die Sache der Literatur zu tun, dafür Sorge zu tragen, dass es mit ihr weitergeht, weitergehen kann. Die Stipendien, die Preise, die er stiftete, machen das deutlich, auch das alljährliche Treffen in Lübeck, das vor allem den einen, am meisten verlorengegangenen oder zerstörten Aspekt aus dem Geist der Gruppe 47 in die Gegenwart herüberzuretten versucht, nämlich über Literatur und ihre Verbindung zur Zeitgenossenschaft zu reden – jenseits vom Marktdenken, unabhängig von den um sich selbst kreisenden Mechanismen eines vom literarischen Leben abgekoppelten Literaturbetriebs.
Zum letzten Mal aus einem veröffentlichten Werk lesen hörte ich Günter Grass im November 2014 beim Münchner Literaturfest, als er die von ihm neu illustrierte Ausgabe der Hundejahre vorstellte. Es war mir immer das liebste seiner Bücher: ein kühn konstruierter Künstlerroman von bis heute ungebrochener Strahlkraft und Sprachmacht. Ich meinte zu spüren, wie er auflebte, während er vortrug, sich tragen ließ, noch immer getragen wurde von den Sätzen, die er vor über fünfzig Jahren geschrieben hatte. Er war in seinem Element, noch einmal befeuert von der Lust am Text, an der Phantasie, der Formulierung. Wie staunte ich aber, als er uns drei Monate später, beim Autorentreffen Ende Februar seine gerade fertiggestellte, lange Ballade über Subhas Chandra Bose, genannt Netaji: der Führer, vorlas. Das Gedicht erzählt von den Anfängen dieses indischen Faschisten im Dunstkreis Gandhis, über seine Flucht über Kabul und Moskau ins Deutsche Reich, über seine Rückreise im U-Boot über Madagaskar nach Singapur, von wo aus er die Legion „Freies Indien“ (mit ihrem Treueeid auf Adolf Hitler) aufbaut, bis er schließlich, am Endes des Zweiten Weltkriegs und auf dem Weg nach Japan mit dem Flugzeug abstürzt. Wie Girlanden aus Stacheldraht schlingen sich diese Gedichtzeilen um den Erdball, während sie dem Lebensweg Boses folgen, zeichnen in den wirren, aberwitzigen Bezügen zwischen den Ländern und Ideologien eine Parabel auf die globalisierte Welt. Als hätte Günter Grass, so schien es mir, vom Geist der Hundejahre beflügelt, noch einmal in weiten Schwüngen, doch diesmal in der kleinen Form, den Stand der Dinge entlang einer historischen Figur und Geschichte einzufangen versucht.
Die ökonomische Globalisierung – mit ihren Krisen und Konflikten, dem beinahe zwanghaften Wiederholungscharakter von bereits überwunden geglaubten geopolitischen Mustern, der hochexplosiven Weltlage, die sie zu verantworten hat – war nach Günters Vortrag dann auch Thema in Lübeck, war schon Thema in München gewesen, beim Italiener nach der Lesung im Gasteig, wo er seinen Ausflug in den Süden der Republik sichtlich genoss. Aber auch das Hineinwirken des Marktdenkens, der ökonomistischen Ideologie in die Strukturen der literarischen Öffentlichkeit selbst hatten wir im Lübecker Kreis und in vielen Tischgesprächen immer wieder angeschnitten. Ich glaube, was unsere wechselseitige Wertschätzung ausmachte, seit wir uns 2008 bei einem russisch-deutschen Schriftstelleraustausch in St. Petersburg kennengelernt hatten, gründete nicht zuletzt auf der von uns beiden geteilten Auffassung, dass eine zeitkritische und in ihrer Entstehung und Verbreitung unabhängige Literatur wesentlich zu einer offenen und demokratischen Gesellschaft gehört, und dass diese andernfalls auf dem Weg ist, ihr reflektierendes, notwendig selbstkritisches Fundament zu verlieren.
Die Verbitterung, die Günter Grass über die „Kritik“, ja Häme empfand, die ihn seit vielen Jahren begleitete, hatte nichts damit zu tun, dass man ihm widersprach oder seine Texte kritisch auseinandernahm. Was ihn verletzte und beunruhigte, war, dass an die Stelle von Argument und Differenzierung etwas anderes getreten war, nämlich eine mutwillig auf Reize reagierende, aggressiv um sich schlagende, sich als „Schwarmintelligenz“ ausbreitende Stimmungsmache (und was „Schwarmintelligenz“ für die heutige Zeit bedeutet, wäre mit Elias Canettis Masse und Macht leicht zu bestimmen). Ich vermute auch, dass ihm zum Ende hin durchaus bewusst war, dass sein Wort vom „Primat des Sekundären“, seine Aussage, die Kritiker müssten sich endlich wieder klar darüber werden, dass wir Schriftsteller ihre Arbeitgeber seien, mittlerweile zu kurz griff, um das ganze Ausmaß der Misere zu kennzeichnen, das heute in der Umkehrung der Verhältnisse, der Dominanz des Betriebs über die Literatur mit seinen ästhetischen Vorschriften zur Vermarktbarkeit und seiner Konzentration aufs Saisongeschäft zum Ausdruck kommt.
Dies ist der Grund, warum Kritiker, anders als in der Gruppe 47, von den Lübecker Autorentreffen von Anfang an ausgeschlossen waren. Dies ist auch der Grund, warum Günter Grass sofort Nägel mit Köpfen machen wollte, als ich bei meiner ersten Teilnahme 2009 vorschlug, einen Preis ins Leben zu rufen, der vorbei am Büchermarkt „von Autoren für Autoren“ finanziert und seit 2011 alle zwei Jahre vergeben wird. Denn es war keineswegs kokett gemeint, als er einmal äußerte, mit zweiunddreißig Jahren sei der Ruhm bei ihm eingezogen, dort stehe er seither herum und sei manchmal mühsam zu umgehen. Denn vor allem anderen war es ihm stets um Zeitgenossenschaft zu tun: als Citoyen und als Schriftsteller im Rahmen einer zeitgenössischen Literatur. Bis zum Schluss blieb Günter Grass neugierig auf die Werke seiner Kollegen, darauf, wie sich in ihren Geschichten Geschichte und Gegenwart spiegeln.
Blieb er neugierig auf uns. Zu meinem vorletzten Roman hatte mir Günter einen ausführlichen Brief geschrieben, im November, beim Italiener in München, sprach er mit mir über meinen gerade erschienenen, aus dem ich auch in Lübeck mehrmals vorgelesen und dessen Lektüre er soeben beendet hatte. Der Roman handelt von der Ökonomisierung der Gesellschaft während des vergangenen Vierteljahrhunderts und ihren Auswirkungen auf die Kunst am Beispiel der Musik. „Dein Buch hat mir sogar Stockhausen ein klein wenig nähergebracht“, sagte er, und: „Wenn ich dir einen persönlichen Rat geben darf: das nächste Mal solltest du wieder ein wenig mehr Humor zulassen.“ Dann legte er seine Hand auf meinen Unterarm: „Du musst unbedingt weitermachen.“
„Ihr müsst unbedingt weitermachen, wenn ich nicht mehr bin“, sagte Günter zwei Schnäpse später und meinte damit das Autorentreffen im Günter-Grass-Haus. Als wir uns am 1. März in Lübeck nach der Preisverleihung an Irina Liebmann verabschiedeten, lud er mich ein, ihn in Behlendorf zu besuchen. Er habe das große Bedürfnis, einmal ausführlich mit mir zu sprechen. Wir verabredeten uns für Sonntag, den 19. April. Am Montag, dem 13., ich war gerade im Begriff, Hilke Ohsoling, seiner Sekretärin, zu mailen, ob denn nun alles wie vorgesehen klappe mit dem Besuch, klingelte das Telefon.
Der Schriftsteller Norbert Niemann lebt in Chieming am Chiemsee. Zuletzt erschien sein Roman Die Einzigen, der im Mai mit dem Carl-Amery-Preis ausgezeichnet wird. Er gehört seit Jahren dem Lübecker Literaturtreffen an, das 2005 von Günter Grass ins Leben gerufen wurde.
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Als Allererstes denke ich an seine bis zuletzt schier unfassbare Vitalität und Wachheit: auf der Bühne, wenn er aus seinem Werk las, in der Dachstube des Günter-Grass-Hauses im Kreis des Lübecker Autorentreffens, bei den immer auch feuchtfröhlichen Essen mit politischen Tischgesprächen. Dann, nahezu im selben Atemzug, erinnere ich mich an seine außerordentliche Kollegialität, die nicht allein darin bestand, dass er uns nachkommenden Schriftstellerinnen und Schriftstellern über die Distanz des Ruhms und des Alters hinweg stets auf Augenhöhe begegnete, als einer unter seinesgleichen. Es war ihm auch immer ums Ganze, um die Sache der Literatur zu tun, dafür Sorge zu tragen, dass es mit ihr weitergeht, weitergehen kann. Die Stipendien, die Preise, die er stiftete, machen das deutlich, auch das alljährliche Treffen in Lübeck, das vor allem den einen, am meisten verlorengegangenen oder zerstörten Aspekt aus dem Geist der Gruppe 47 in die Gegenwart herüberzuretten versucht, nämlich über Literatur und ihre Verbindung zur Zeitgenossenschaft zu reden – jenseits vom Marktdenken, unabhängig von den um sich selbst kreisenden Mechanismen eines vom literarischen Leben abgekoppelten Literaturbetriebs.
Zum letzten Mal aus einem veröffentlichten Werk lesen hörte ich Günter Grass im November 2014 beim Münchner Literaturfest, als er die von ihm neu illustrierte Ausgabe der Hundejahre vorstellte. Es war mir immer das liebste seiner Bücher: ein kühn konstruierter Künstlerroman von bis heute ungebrochener Strahlkraft und Sprachmacht. Ich meinte zu spüren, wie er auflebte, während er vortrug, sich tragen ließ, noch immer getragen wurde von den Sätzen, die er vor über fünfzig Jahren geschrieben hatte. Er war in seinem Element, noch einmal befeuert von der Lust am Text, an der Phantasie, der Formulierung. Wie staunte ich aber, als er uns drei Monate später, beim Autorentreffen Ende Februar seine gerade fertiggestellte, lange Ballade über Subhas Chandra Bose, genannt Netaji: der Führer, vorlas. Das Gedicht erzählt von den Anfängen dieses indischen Faschisten im Dunstkreis Gandhis, über seine Flucht über Kabul und Moskau ins Deutsche Reich, über seine Rückreise im U-Boot über Madagaskar nach Singapur, von wo aus er die Legion „Freies Indien“ (mit ihrem Treueeid auf Adolf Hitler) aufbaut, bis er schließlich, am Endes des Zweiten Weltkriegs und auf dem Weg nach Japan mit dem Flugzeug abstürzt. Wie Girlanden aus Stacheldraht schlingen sich diese Gedichtzeilen um den Erdball, während sie dem Lebensweg Boses folgen, zeichnen in den wirren, aberwitzigen Bezügen zwischen den Ländern und Ideologien eine Parabel auf die globalisierte Welt. Als hätte Günter Grass, so schien es mir, vom Geist der Hundejahre beflügelt, noch einmal in weiten Schwüngen, doch diesmal in der kleinen Form, den Stand der Dinge entlang einer historischen Figur und Geschichte einzufangen versucht.
Die ökonomische Globalisierung – mit ihren Krisen und Konflikten, dem beinahe zwanghaften Wiederholungscharakter von bereits überwunden geglaubten geopolitischen Mustern, der hochexplosiven Weltlage, die sie zu verantworten hat – war nach Günters Vortrag dann auch Thema in Lübeck, war schon Thema in München gewesen, beim Italiener nach der Lesung im Gasteig, wo er seinen Ausflug in den Süden der Republik sichtlich genoss. Aber auch das Hineinwirken des Marktdenkens, der ökonomistischen Ideologie in die Strukturen der literarischen Öffentlichkeit selbst hatten wir im Lübecker Kreis und in vielen Tischgesprächen immer wieder angeschnitten. Ich glaube, was unsere wechselseitige Wertschätzung ausmachte, seit wir uns 2008 bei einem russisch-deutschen Schriftstelleraustausch in St. Petersburg kennengelernt hatten, gründete nicht zuletzt auf der von uns beiden geteilten Auffassung, dass eine zeitkritische und in ihrer Entstehung und Verbreitung unabhängige Literatur wesentlich zu einer offenen und demokratischen Gesellschaft gehört, und dass diese andernfalls auf dem Weg ist, ihr reflektierendes, notwendig selbstkritisches Fundament zu verlieren.
Die Verbitterung, die Günter Grass über die „Kritik“, ja Häme empfand, die ihn seit vielen Jahren begleitete, hatte nichts damit zu tun, dass man ihm widersprach oder seine Texte kritisch auseinandernahm. Was ihn verletzte und beunruhigte, war, dass an die Stelle von Argument und Differenzierung etwas anderes getreten war, nämlich eine mutwillig auf Reize reagierende, aggressiv um sich schlagende, sich als „Schwarmintelligenz“ ausbreitende Stimmungsmache (und was „Schwarmintelligenz“ für die heutige Zeit bedeutet, wäre mit Elias Canettis Masse und Macht leicht zu bestimmen). Ich vermute auch, dass ihm zum Ende hin durchaus bewusst war, dass sein Wort vom „Primat des Sekundären“, seine Aussage, die Kritiker müssten sich endlich wieder klar darüber werden, dass wir Schriftsteller ihre Arbeitgeber seien, mittlerweile zu kurz griff, um das ganze Ausmaß der Misere zu kennzeichnen, das heute in der Umkehrung der Verhältnisse, der Dominanz des Betriebs über die Literatur mit seinen ästhetischen Vorschriften zur Vermarktbarkeit und seiner Konzentration aufs Saisongeschäft zum Ausdruck kommt.
Dies ist der Grund, warum Kritiker, anders als in der Gruppe 47, von den Lübecker Autorentreffen von Anfang an ausgeschlossen waren. Dies ist auch der Grund, warum Günter Grass sofort Nägel mit Köpfen machen wollte, als ich bei meiner ersten Teilnahme 2009 vorschlug, einen Preis ins Leben zu rufen, der vorbei am Büchermarkt „von Autoren für Autoren“ finanziert und seit 2011 alle zwei Jahre vergeben wird. Denn es war keineswegs kokett gemeint, als er einmal äußerte, mit zweiunddreißig Jahren sei der Ruhm bei ihm eingezogen, dort stehe er seither herum und sei manchmal mühsam zu umgehen. Denn vor allem anderen war es ihm stets um Zeitgenossenschaft zu tun: als Citoyen und als Schriftsteller im Rahmen einer zeitgenössischen Literatur. Bis zum Schluss blieb Günter Grass neugierig auf die Werke seiner Kollegen, darauf, wie sich in ihren Geschichten Geschichte und Gegenwart spiegeln.
Blieb er neugierig auf uns. Zu meinem vorletzten Roman hatte mir Günter einen ausführlichen Brief geschrieben, im November, beim Italiener in München, sprach er mit mir über meinen gerade erschienenen, aus dem ich auch in Lübeck mehrmals vorgelesen und dessen Lektüre er soeben beendet hatte. Der Roman handelt von der Ökonomisierung der Gesellschaft während des vergangenen Vierteljahrhunderts und ihren Auswirkungen auf die Kunst am Beispiel der Musik. „Dein Buch hat mir sogar Stockhausen ein klein wenig nähergebracht“, sagte er, und: „Wenn ich dir einen persönlichen Rat geben darf: das nächste Mal solltest du wieder ein wenig mehr Humor zulassen.“ Dann legte er seine Hand auf meinen Unterarm: „Du musst unbedingt weitermachen.“
„Ihr müsst unbedingt weitermachen, wenn ich nicht mehr bin“, sagte Günter zwei Schnäpse später und meinte damit das Autorentreffen im Günter-Grass-Haus. Als wir uns am 1. März in Lübeck nach der Preisverleihung an Irina Liebmann verabschiedeten, lud er mich ein, ihn in Behlendorf zu besuchen. Er habe das große Bedürfnis, einmal ausführlich mit mir zu sprechen. Wir verabredeten uns für Sonntag, den 19. April. Am Montag, dem 13., ich war gerade im Begriff, Hilke Ohsoling, seiner Sekretärin, zu mailen, ob denn nun alles wie vorgesehen klappe mit dem Besuch, klingelte das Telefon.
Der Schriftsteller Norbert Niemann lebt in Chieming am Chiemsee. Zuletzt erschien sein Roman Die Einzigen, der im Mai mit dem Carl-Amery-Preis ausgezeichnet wird. Er gehört seit Jahren dem Lübecker Literaturtreffen an, das 2005 von Günter Grass ins Leben gerufen wurde.