Im Literaturhaus München stellt "Meet your neighbours" die Zeitung NeuLand vor
Auf Betreiben einer Reihe von Münchner AutorInnen, JournalistInnen und LektorInnen (u.a. Lena Gorelik, Marion Hertle, Björn Bicker, Sandra Hoffmann, Katja Huber, Fridolin Schley, Kathrin Reikowski, Nora Zapf, Denijen Pauljević, Andreas Unger und Silke Kleemann) wird seit April 2016 einmal im Monat eine Münchner Buchhandlung zum Begegnungsort von Alt- und Neu-Münchnern. Die Beteiligten stellen Menschen vor, die auf der Flucht nach München gekommen sind. Dazu treffen sie sich in ihren Lieblingsbuchhandlungen und laden alle interessierten Münchnerinnen und Münchner mit und ohne Fluchterfahrung ein. Die Reihe ist unter dem Dach des Aktionsbündnisses Wir machen das entstanden, mit dem auch das Literaturportal Bayern kooperiert. Beim Meet your neighbours-Abend am 3. Mai im Münchner Literaturhaus trafen Sandra Hoffmann und Denijen Pauljevic auf AutorInnen und RedakteurInnen der Zeitung NeuLand, die seit 2015 Geflüchteten die Möglichkeit bietet, sich ungefiltert zu Wort zu melden und in den Dialog mit den bereits hier Lebenden zu treten. Von Silke Kleemann.
*
Zum ersten Mal fand in München eine Veranstaltung der Begegnungs-Reihe im Literaturhaus statt. Ursprünglich sollte der Abend räumlich und thematisch in die sehr sehenswerte Ausstellung Refugees. Eine Herausforderung für Europa von Herlinde Koelbl eingebettet sein, wegen der vielen Voranmeldungen wurde er jedoch schon vorab ins Foyer im 3. Stock verlegt. So konnten TeilnehmerInnen und ZuschauerInnen beim zehnten Mal Wir machen das in München die eindrucksvolle Kulisse aus Abendhimmel, Dächern und verhüllter Kirchenkuppel genießen. Über 100 Personen waren gekommen, um die NeuLand-Zeitung und ihre AutorInnen kennenzulernen.
Das Gemeinschaftsprojekt NeuLand geht auf das Engagement einer Einzelnen zurück. Susanne Brandl, im Brotberuf journalistische Volontärin beim SWR, schilderte für das Publikum ihre Vision, die im Sommer 2015 einer spontanen Idee und ihrer eigenen Neugier entsprungen war: Was, so fragte sie sich, geht in den Menschen vor, die durch Flucht neu nach Deutschland kommen? Es ärgerte sie, dass in den meisten Medien der Fokus der Berichterstattung hauptsächlich auf den Fluchtgeschichten lag, mehr auf die Vergangenheit gerichtet war als auf das Hier und Jetzt. Auch hält sie das Opfer-Stigma des Geflüchteten nicht für hilfreich bei der Integration – und so war die Idee geboren: Den Neuankömmlingen durch das eigene Schreiben und dessen Veröffentlichung die Möglichkeit zu geben, sich selbst aktiv in die Gesellschaft einzubringen. Inzwischen leitet Susanne Brandl das Projekt zusammen mit Raphael Müller-Hotop, unterstützt von knapp einem Dutzend RedakteurInnen, die im Tandem mit den AutorInnen an den Texten arbeiten. Vier Ausgaben der NeuLand-Zeitung sind bereits erschienen, die Startauflage von 8.000 Stück ist inzwischen auf 10.000 gestiegen. Die Zeitung liegt an vielen Stellen in München kostenlos aus, über die Internetseite von NeuLand kann man sich außerdem mit einem Klick die digitale Version herunterladen (in der aktuellen 4. Ausgabe sind die meisten der vorgestellten Texte enthalten).
(c) Hans Herbig
Einfühlsam moderiert von Sandra Hoffmann und Denijen Pauljevic lasen im Literaturhaus fünf der NeuLand-AutorInnen eigene Texte vor, was dem Publikum Einblicke in fünf verschiedene (Herkunfts-)Welten schenkte. Gleich der erste Autor, Adnan Albash aus Damaskus, nannte als Motivation für sein Schreiben die bessere Verständigung mit „den Menschen hier“. In Syrien hatte der Medizinstudent noch keinen Drang zum Schreiben, hatte auch neben Schule und Studium gar nicht die Muße dazu. Sein Text über die unterschiedliche Verwendung des Wörtchens „Nein“ in Syrien und in Deutschland sorgte für viele Lacher. Die deutschen LeserInnen werden darin ermuntert, einem Gast aus einem fremden Land auch ein zweites Mal Speis und Trank anzubieten, selbst wenn das erste Angebot mit einem "Nein, danke" ausgeschlagen wurde – vielleicht war das nur aus anderswo ganz normaler Höflichkeit. Um derartige kulturelle Fallstricke zu vermeiden, schreibt Adnan, der Anfang 2015 nach München gekommen ist, seine Texte inzwischen gleich auf Deutsch. Das sei leichter, als von einer Sprache in die andere zu übersetzen, sagte er. Gratulieren kann man ihm aktuell auch zur frisch bestandenen Deutschprüfung für die Aufnahme an der LMU – er hofft nun, dort ab Herbst sein Studium fortführen zu können.
Ebenfalls mit einer guten Prise Humor ging es weiter mit James Tugume, im November 2014 aus Uganda nach Deutschland gekommen. In seinem Text Magic is here lobt er das Wunder der deutschen Krankenkasse. Die rettete ihn gleich zu Beginn seines neuen Lebens hier, als ihm nach einem unglücklichen Zusammenprall mit einer Glastür die Schneidezähne ersetzt werden mussten. In Uganda, so berichtet er, habe man als „Krankenversicherung“ allenfalls eine Kuh, ein Motorrad oder ein kleines Grundstück, das man im Fall einer Erkrankung verkaufen könne. „Es ist aber auch gar nicht so leicht, etwas zu verkaufen, wenn man schwer krank ist oder einen Unfall hatte“, ergänzte er. James liebt alles, was mit Sport zu tun hat (was auch seine Armmuskeln zeigen!) und arbeitet inzwischen selbst als Asylberater in der Flüchtlingsberatungsstelle am Münchner Harras. Welche Schicksalsschläge er schon hinter sich hat, erzählte er ganz nebenbei: In seiner Heimat wurde er mit acht Jahren Vollwaise, lebte auf der Straße und später im Waisenhaus. Nach seinem Bachelor in Sozialarbeit, der ihm hier zum Glück größtenteils anerkannt wurde, arbeitete er später in derselben Einrichtung mit 32 Kindern.
Als nächstes kam Shirin Mirza Khalaf aus dem Irak auf die Bühne. Die erst 16-jährige, die in die 8. Klasse einer Mittelschule geht, wurde von ihrem älteren Bruder Sultan begleitet, der auch an dem Text mitgearbeitet hat. Ihre ersten Worte: „Entschuldigung, dass Sie nicht lachen werden.“ Ein bezeichnender Satz für die Erfahrungen, die Shirin in ihrem Alltag immer wieder macht: Es ist nicht leicht, über das zu sprechen, was sie, ihre Familie und andere Jesiden im Irak seit 2014 erlitten haben und noch immer erleiden. Das Grauen wird beim Zuhören schnell unerträglich. Stark bewegt und zugleich selbstbewusst trug Shirin ihren bedrückenden Text dennoch vor – „Tut mir echt leid, das ist unsere Wahrheit“, betonte sie immer wieder – und antwortete auf Sandra Hoffmanns Fragen. An dieser Stelle ließ sich übrigens ein schönes Zeichen für ihre gelungene Integration nach zwei Jahren in Bayern bemerken: Auf Sandras Hinweis, man müsse auch nicht weitersprechen, als sie sieht, wie Shirin mit den Tränen ringt, erwidert diese spontan: „Passt schon.“ Man würde es jedem jungen Mädchen wünschen, sich nicht mit solchen Themen befassen zu müssen, aber für Shirin ist die Verfolgung und Unterdrückung der Jesiden im Irak durch den IS schon jetzt ein Lebensthema geworden. Sie sprach speziell für die Frauen, die vergewaltigt und zur Sklavenarbeit gezwungen werden. Hier in Deutschland fühle sie sich nun sicher, sagte aber auch ganz klar: „Egal, wo wir einmal leben, egal, wie glücklich wir einmal sein werden: die Gefühle und die Erinnerungen an das Schreckliche bleiben in Kopf und Herz.“
(c) Hans Herbig
Asef Naderi aus Afghanistan, seit 2013 in München und aktuell Auszubildender in einem Dentallabor, stellte anschließend die Frage nach Korruption in Deutschland anhand einer Abzocke durch einen Busfahrer. Auch sonst zeigte sich der ernste junge Mann, der sich in seiner Freizeit für die kuriose Mischung aus Mathematik, Chemie und Bollywood-Filme interessiert, als kritischer Geist, in einem anderen seiner Texte geht es um gerechte Bezahlung auch für (eingewanderte) Aushilfskräfte. Sein Traum: „Irgendwann mal den Iran bereisen zu können. Auf meiner Flucht habe ich gesehen, dass es ein sehr schönes Land ist.“
Zum Schluss las die Sozialpädagogin Munkhjin Tsogt aus der Mongolei einen Motivationstext, wie es gelingen kann, seine Träume in Deutschland zu verwirklichen. Auch wenn es ihr anfangs nicht leicht gefallen ist, sich auf die neuen Lebensumstände einzustellen (wobei sie im Unterschied zu den Neuankömmlingen aus südlichen Ländern nicht über das Wetter klagt, „schließlich komme ich aus der kältesten Hauptstadt der Welt“) – nach fünf Jahren hier fühle sie sich inzwischen so heimisch, dass sie der ersten Reise in ihre alte Heimat, die sie in diesem Jahr vorhat, mit gemischten Gefühlen entgegensieht. Mit ihrem kleinen Sohn auf dem Schoß erzählte sie auch, wie sie zu NeuLand gekommen ist: „Ich habe in der Bibliothek ein Exemplar der Zeitung gesehen und sofort eine Mail geschrieben.“
Über diese Rückmeldung freute sich Raphael, denn genau so soll es gehen – ein unbürokratischer Kontakt mit niedrigen Schwellen, der möglichst viele Neuankömmlinge motivieren soll, auch die eigene Stimme, den eigenen Blick und die eigenen Erfahrungen mit anderen zu teilen. Für Pluralität und gegen die Ängste, die es auf allen Seiten gibt und die durch konventionelle Medien leider oft eher noch geschürt werden. Davon wissen auch die NeuLand-AutorInnen ein Lied zu singen: James' erster Text hieß Der Dschungel ist hier – Gedanken dazu, dass man in der Fremde meist zuerst das Gefährliche sieht –, und Adnan sagt: „Die Leute wissen nur aus den Nachrichten etwas über uns und unsere Länder, und in den Nachrichten wird nur über Schlimmes berichtet.“
NeuLand ist ein Gegenpol dazu. Durch das Erzählen wird Nähe geschaffen, das Verbindende wird stärker spürbar als das Trennende. Tatsächlich ist es eine besondere Erfahrung, beim Lesen der NeuLand-Zeitung ausschließlich Berichte aus der Eigenperspektive der Geflüchteten zu lesen, kein noch so wohlmeinendes „Über“. An diesem Abend wurde – ganz im Sinne der Meet your neighbours-Reihe von Wir machen das –, sehr deutlich, wie reich es macht, miteinander statt übereinander zu reden. Und wie essentiell es für die Integration ist, dass Mensch auf Mensch trifft und die Neuankömmlinge feste Bezugspersonen haben, wurde an dem Dank deutlich, den jeder der AutorInnen nicht nur allgemein, sondern auch persönlich an eine Lehrerin, einen Lehrer, eine ehrenamtliche Flüchtlingshelferin oder die RedakteurInnen von NeuLand richtete. In diesem Sinne galt auch für diesen Abend im Literaturhaus: Magic is here.
Die Neuland-Zeitung finanziert sich über Spenden. Auch eine Mitgliedschaft im Verein ist möglich und hilft für die kontinuierliche Fortführung der Initiative.
Die Veranstaltungen der Meet your neighbours-Reihe 2017 finden statt in Zusammenarbeit mit der Allianz Kulturstiftung und der Stiftung :do.
Im Literaturhaus München stellt "Meet your neighbours" die Zeitung NeuLand vor>
Auf Betreiben einer Reihe von Münchner AutorInnen, JournalistInnen und LektorInnen (u.a. Lena Gorelik, Marion Hertle, Björn Bicker, Sandra Hoffmann, Katja Huber, Fridolin Schley, Kathrin Reikowski, Nora Zapf, Denijen Pauljević, Andreas Unger und Silke Kleemann) wird seit April 2016 einmal im Monat eine Münchner Buchhandlung zum Begegnungsort von Alt- und Neu-Münchnern. Die Beteiligten stellen Menschen vor, die auf der Flucht nach München gekommen sind. Dazu treffen sie sich in ihren Lieblingsbuchhandlungen und laden alle interessierten Münchnerinnen und Münchner mit und ohne Fluchterfahrung ein. Die Reihe ist unter dem Dach des Aktionsbündnisses Wir machen das entstanden, mit dem auch das Literaturportal Bayern kooperiert. Beim Meet your neighbours-Abend am 3. Mai im Münchner Literaturhaus trafen Sandra Hoffmann und Denijen Pauljevic auf AutorInnen und RedakteurInnen der Zeitung NeuLand, die seit 2015 Geflüchteten die Möglichkeit bietet, sich ungefiltert zu Wort zu melden und in den Dialog mit den bereits hier Lebenden zu treten. Von Silke Kleemann.
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Zum ersten Mal fand in München eine Veranstaltung der Begegnungs-Reihe im Literaturhaus statt. Ursprünglich sollte der Abend räumlich und thematisch in die sehr sehenswerte Ausstellung Refugees. Eine Herausforderung für Europa von Herlinde Koelbl eingebettet sein, wegen der vielen Voranmeldungen wurde er jedoch schon vorab ins Foyer im 3. Stock verlegt. So konnten TeilnehmerInnen und ZuschauerInnen beim zehnten Mal Wir machen das in München die eindrucksvolle Kulisse aus Abendhimmel, Dächern und verhüllter Kirchenkuppel genießen. Über 100 Personen waren gekommen, um die NeuLand-Zeitung und ihre AutorInnen kennenzulernen.
Das Gemeinschaftsprojekt NeuLand geht auf das Engagement einer Einzelnen zurück. Susanne Brandl, im Brotberuf journalistische Volontärin beim SWR, schilderte für das Publikum ihre Vision, die im Sommer 2015 einer spontanen Idee und ihrer eigenen Neugier entsprungen war: Was, so fragte sie sich, geht in den Menschen vor, die durch Flucht neu nach Deutschland kommen? Es ärgerte sie, dass in den meisten Medien der Fokus der Berichterstattung hauptsächlich auf den Fluchtgeschichten lag, mehr auf die Vergangenheit gerichtet war als auf das Hier und Jetzt. Auch hält sie das Opfer-Stigma des Geflüchteten nicht für hilfreich bei der Integration – und so war die Idee geboren: Den Neuankömmlingen durch das eigene Schreiben und dessen Veröffentlichung die Möglichkeit zu geben, sich selbst aktiv in die Gesellschaft einzubringen. Inzwischen leitet Susanne Brandl das Projekt zusammen mit Raphael Müller-Hotop, unterstützt von knapp einem Dutzend RedakteurInnen, die im Tandem mit den AutorInnen an den Texten arbeiten. Vier Ausgaben der NeuLand-Zeitung sind bereits erschienen, die Startauflage von 8.000 Stück ist inzwischen auf 10.000 gestiegen. Die Zeitung liegt an vielen Stellen in München kostenlos aus, über die Internetseite von NeuLand kann man sich außerdem mit einem Klick die digitale Version herunterladen (in der aktuellen 4. Ausgabe sind die meisten der vorgestellten Texte enthalten).
(c) Hans Herbig
Einfühlsam moderiert von Sandra Hoffmann und Denijen Pauljevic lasen im Literaturhaus fünf der NeuLand-AutorInnen eigene Texte vor, was dem Publikum Einblicke in fünf verschiedene (Herkunfts-)Welten schenkte. Gleich der erste Autor, Adnan Albash aus Damaskus, nannte als Motivation für sein Schreiben die bessere Verständigung mit „den Menschen hier“. In Syrien hatte der Medizinstudent noch keinen Drang zum Schreiben, hatte auch neben Schule und Studium gar nicht die Muße dazu. Sein Text über die unterschiedliche Verwendung des Wörtchens „Nein“ in Syrien und in Deutschland sorgte für viele Lacher. Die deutschen LeserInnen werden darin ermuntert, einem Gast aus einem fremden Land auch ein zweites Mal Speis und Trank anzubieten, selbst wenn das erste Angebot mit einem "Nein, danke" ausgeschlagen wurde – vielleicht war das nur aus anderswo ganz normaler Höflichkeit. Um derartige kulturelle Fallstricke zu vermeiden, schreibt Adnan, der Anfang 2015 nach München gekommen ist, seine Texte inzwischen gleich auf Deutsch. Das sei leichter, als von einer Sprache in die andere zu übersetzen, sagte er. Gratulieren kann man ihm aktuell auch zur frisch bestandenen Deutschprüfung für die Aufnahme an der LMU – er hofft nun, dort ab Herbst sein Studium fortführen zu können.
Ebenfalls mit einer guten Prise Humor ging es weiter mit James Tugume, im November 2014 aus Uganda nach Deutschland gekommen. In seinem Text Magic is here lobt er das Wunder der deutschen Krankenkasse. Die rettete ihn gleich zu Beginn seines neuen Lebens hier, als ihm nach einem unglücklichen Zusammenprall mit einer Glastür die Schneidezähne ersetzt werden mussten. In Uganda, so berichtet er, habe man als „Krankenversicherung“ allenfalls eine Kuh, ein Motorrad oder ein kleines Grundstück, das man im Fall einer Erkrankung verkaufen könne. „Es ist aber auch gar nicht so leicht, etwas zu verkaufen, wenn man schwer krank ist oder einen Unfall hatte“, ergänzte er. James liebt alles, was mit Sport zu tun hat (was auch seine Armmuskeln zeigen!) und arbeitet inzwischen selbst als Asylberater in der Flüchtlingsberatungsstelle am Münchner Harras. Welche Schicksalsschläge er schon hinter sich hat, erzählte er ganz nebenbei: In seiner Heimat wurde er mit acht Jahren Vollwaise, lebte auf der Straße und später im Waisenhaus. Nach seinem Bachelor in Sozialarbeit, der ihm hier zum Glück größtenteils anerkannt wurde, arbeitete er später in derselben Einrichtung mit 32 Kindern.
Als nächstes kam Shirin Mirza Khalaf aus dem Irak auf die Bühne. Die erst 16-jährige, die in die 8. Klasse einer Mittelschule geht, wurde von ihrem älteren Bruder Sultan begleitet, der auch an dem Text mitgearbeitet hat. Ihre ersten Worte: „Entschuldigung, dass Sie nicht lachen werden.“ Ein bezeichnender Satz für die Erfahrungen, die Shirin in ihrem Alltag immer wieder macht: Es ist nicht leicht, über das zu sprechen, was sie, ihre Familie und andere Jesiden im Irak seit 2014 erlitten haben und noch immer erleiden. Das Grauen wird beim Zuhören schnell unerträglich. Stark bewegt und zugleich selbstbewusst trug Shirin ihren bedrückenden Text dennoch vor – „Tut mir echt leid, das ist unsere Wahrheit“, betonte sie immer wieder – und antwortete auf Sandra Hoffmanns Fragen. An dieser Stelle ließ sich übrigens ein schönes Zeichen für ihre gelungene Integration nach zwei Jahren in Bayern bemerken: Auf Sandras Hinweis, man müsse auch nicht weitersprechen, als sie sieht, wie Shirin mit den Tränen ringt, erwidert diese spontan: „Passt schon.“ Man würde es jedem jungen Mädchen wünschen, sich nicht mit solchen Themen befassen zu müssen, aber für Shirin ist die Verfolgung und Unterdrückung der Jesiden im Irak durch den IS schon jetzt ein Lebensthema geworden. Sie sprach speziell für die Frauen, die vergewaltigt und zur Sklavenarbeit gezwungen werden. Hier in Deutschland fühle sie sich nun sicher, sagte aber auch ganz klar: „Egal, wo wir einmal leben, egal, wie glücklich wir einmal sein werden: die Gefühle und die Erinnerungen an das Schreckliche bleiben in Kopf und Herz.“
(c) Hans Herbig
Asef Naderi aus Afghanistan, seit 2013 in München und aktuell Auszubildender in einem Dentallabor, stellte anschließend die Frage nach Korruption in Deutschland anhand einer Abzocke durch einen Busfahrer. Auch sonst zeigte sich der ernste junge Mann, der sich in seiner Freizeit für die kuriose Mischung aus Mathematik, Chemie und Bollywood-Filme interessiert, als kritischer Geist, in einem anderen seiner Texte geht es um gerechte Bezahlung auch für (eingewanderte) Aushilfskräfte. Sein Traum: „Irgendwann mal den Iran bereisen zu können. Auf meiner Flucht habe ich gesehen, dass es ein sehr schönes Land ist.“
Zum Schluss las die Sozialpädagogin Munkhjin Tsogt aus der Mongolei einen Motivationstext, wie es gelingen kann, seine Träume in Deutschland zu verwirklichen. Auch wenn es ihr anfangs nicht leicht gefallen ist, sich auf die neuen Lebensumstände einzustellen (wobei sie im Unterschied zu den Neuankömmlingen aus südlichen Ländern nicht über das Wetter klagt, „schließlich komme ich aus der kältesten Hauptstadt der Welt“) – nach fünf Jahren hier fühle sie sich inzwischen so heimisch, dass sie der ersten Reise in ihre alte Heimat, die sie in diesem Jahr vorhat, mit gemischten Gefühlen entgegensieht. Mit ihrem kleinen Sohn auf dem Schoß erzählte sie auch, wie sie zu NeuLand gekommen ist: „Ich habe in der Bibliothek ein Exemplar der Zeitung gesehen und sofort eine Mail geschrieben.“
Über diese Rückmeldung freute sich Raphael, denn genau so soll es gehen – ein unbürokratischer Kontakt mit niedrigen Schwellen, der möglichst viele Neuankömmlinge motivieren soll, auch die eigene Stimme, den eigenen Blick und die eigenen Erfahrungen mit anderen zu teilen. Für Pluralität und gegen die Ängste, die es auf allen Seiten gibt und die durch konventionelle Medien leider oft eher noch geschürt werden. Davon wissen auch die NeuLand-AutorInnen ein Lied zu singen: James' erster Text hieß Der Dschungel ist hier – Gedanken dazu, dass man in der Fremde meist zuerst das Gefährliche sieht –, und Adnan sagt: „Die Leute wissen nur aus den Nachrichten etwas über uns und unsere Länder, und in den Nachrichten wird nur über Schlimmes berichtet.“
NeuLand ist ein Gegenpol dazu. Durch das Erzählen wird Nähe geschaffen, das Verbindende wird stärker spürbar als das Trennende. Tatsächlich ist es eine besondere Erfahrung, beim Lesen der NeuLand-Zeitung ausschließlich Berichte aus der Eigenperspektive der Geflüchteten zu lesen, kein noch so wohlmeinendes „Über“. An diesem Abend wurde – ganz im Sinne der Meet your neighbours-Reihe von Wir machen das –, sehr deutlich, wie reich es macht, miteinander statt übereinander zu reden. Und wie essentiell es für die Integration ist, dass Mensch auf Mensch trifft und die Neuankömmlinge feste Bezugspersonen haben, wurde an dem Dank deutlich, den jeder der AutorInnen nicht nur allgemein, sondern auch persönlich an eine Lehrerin, einen Lehrer, eine ehrenamtliche Flüchtlingshelferin oder die RedakteurInnen von NeuLand richtete. In diesem Sinne galt auch für diesen Abend im Literaturhaus: Magic is here.
Die Neuland-Zeitung finanziert sich über Spenden. Auch eine Mitgliedschaft im Verein ist möglich und hilft für die kontinuierliche Fortführung der Initiative.
Die Veranstaltungen der Meet your neighbours-Reihe 2017 finden statt in Zusammenarbeit mit der Allianz Kulturstiftung und der Stiftung :do.