Eine Münchner Anthologie gegen Fremdenfeindlichkeit
Im Frühjahr fand eine große Lesung Münchner Autoren statt, bei der das Literaturportal Bayern als Kooperationspartner mitwirkte. Wo sind wir fremd? Wie hängen Fremdsein und Schreiben zusammen? Fragen wie diesen ging eine Reihe namhafter Autoren nach, u.a. Steven Uhly, Lena Gorelik, Daniel Jaakov Kühn, Andreas Unger, Sandra Hoffmann, Jürgen Bulla, Katja Huber, Daniel Grohn, Andrea Heuser und Dagmar Leupold. Die gesammelten Texte sind soeben im P. Kirchheim Verlag erschienen. Hierfür konnten auch noch weitere Münchner Autoren gewonnen werden, darunter Thomas Lang, Christine Auerbach, Doris Dörrie, Georg Picot und Gunna Wendt.
Hier ein Auszug aus dem Vorwort von Fridolin Schley.
*
Vorgeschichte
Die Idee zu einem Buch über Fremdheit und Literatur entstand aus einem Moment großer Befremdung heraus. Das war an einem kalten Montagabend im vergangenen Winter in München. Ich war auf dem Weg zum Dorner Max, freute mich auf die nächste Folge der US-Fernsehserie, die wir montags immer zusammen schauten, als ich eine SMS von ihm bekam: Sie stehen jetzt auch vor haidhausen. Not in my backyard. Jetzt schlagen wir zurück.
Sie, das waren Pegida, Mügida oder Bagida, so richtig blickte da keiner mehr durch. Die große Demo-und-Gegendemo fand an dem Abend eigentlich am Sendlinger Tor statt, aber wir waren schon in der Woche zuvor bei der am Opernplatz gewesen und hatten wohl, ohne es zu sagen, das leise Gefühl, unsere Schuldigkeit getan zu haben. Außerdem konnte ich mich auf eine Erkältung berufen; und natürlich wollten wir wirklich wissen, wie Homeland weiterging. Aber dann: Haidhausen, das war Max’ Viertel. Not in my backyard.
Bereits in der Woche zuvor am Opernplatz hatten wir etwas beklommen am Rand der Demonstration gegen Fremdenfeindlichkeit gestanden, über das wabernde Meer aus Köpfen, erhobenen Armen und Transparenten geblickt, über zehntausend Menschen sollen es gewesen sein, und uns irgendwann gefragt, was mit uns nicht stimmte, dass wir ständig innere Distanz dazu suchten; dass wir uns in ironische Sprüche flüchteten und uns über andere Mitdemonstranten lustig machten, anstatt einfach einzutauchen, da wir ihre Meinung doch wohl im Großen und Ganzen teilten. Wir wussten es nicht, aber es fühlte sich fremd an. Nur das bucklige Männlein, das in der Nähe von uns mit einer schon etwas verwaschenen SPD-Fahne traurig auf- und abging, schien ähnlich zu empfinden. Später spielten noch Notwist, das nimmt man dann natürlich auch noch mit. Und zu Claus Kleber ins heute-journal schaffte es München an diesem Abend auch.
Was also stimmte nicht, wo doch eigentlich alles stimmte? Dass hier viele ein bisschen zu stolz auf ihr Dabeisein waren? Dass sich alle so prima einig waren – noch dazu auf der moralisch sicheren Seite? Dass es ein Event war, bei dem – „wie geil ist das denn?!“ – auch noch Notwist spielten? Dass die skandierten Parolen zu einfach waren? Dass es unheimlich ist, in laute Massensprechchöre einzustimmen? Dass man darüber leicht vergisst, sich eine eigene Meinung zu bilden? Dass es bequem war, hier eine Stunde zu stehen, um dann mit besserem Gewissen wieder zu verdrängen, dass sich direkt vor den Toren dieser reichen Stadt menschenunwürdige Flüchtlingsdramen abspielten? Dass es für Politiker einfacher ist, auf so einer ‚gemähten Wiese‘ zu stehen und zu Gleichgesinnten zu sprechen, als wichtige Reformen im Dickicht des Asylrechts anzugehen? Oder war es korinthenkackerisch, so etwas zu denken, da es doch um die Sache ging? Wir wussten es nicht. Aber wir ahnten, dass auch wir uns aufsaßen, noch während wir all das abwogen, dass wir möglicherweise selbst die größten Heuchler waren, indem wir uns so erhoben mit unserer Distanz, mit Ironie und Kritik, und das machte alles nur noch schlimmer. Wir wollten da sein und wollten nicht da sein. Es war ein Dilemma.
Falsche Party
Doch diesmal würden wir alles besser machen. Es ging schließlich um Haidhausen, das Viertel der Ökobäckereien, Flohmarktläden und Wohlstandsgrünen, Schachturnier meets BMW meets Open Gallery. Wenn sie Haidhausen bekämen … nicht auszudenken! Das Problem war nur: Sie waren nicht da. Am Weißenburger Platz stießen wir auf einige andere Gegendemonstranten, die ihre München-ist-bunt-Plakate wie zum Ausweis hochhielten; es war schon dunkel, keiner wollte falsch zugeordnet werden. Man taxierte sich, jeder hier konnte schließlich ein Pegida-Schläfer sein. Sicherheitshalber lächelten wir alle an, und Max summte die Marseillaise.
Man schaute auf die Uhr, verständigte sich – ja, schon halb sieben durch, um halb sieben wollten sie doch aufmarschieren, so stand’s im Netz. Eine ältere Dame neben uns hatte zwei Kochtopfdeckel mitgebracht, die sie ab und zu etwas lustlos gegeneinanderschlug und an deren Innenrändern noch eingetrocknete braune Soße und ein paar Reiskörner zu erkennen waren, eine andere spielte auf einer Tuba immer wieder die gleiche Melodie. (Am nächsten Tag war sie als „Jeanne d’Arc von Haidhausen“ in der Zeitung abgebildet.) Jemand stimmte FC-Bayern-München-Gesänge an. In kleineren Gruppen trotteten wir über den Platz, irgendwo mussten sie doch sein; hinter uns nuschelte jemand: „Zefix, wo san jetzt die Bösen?“ Ein Herr mit Tirolerhut blickte von seinem Smartphone auf und sagte seufzend, na toll, am Sendlinger Tor sind schon siebentausend, und ich erinnerte mich an das schreckliche Gefühl aus meiner Jugend, wenn man freitags auf die falsche Party gegangen war.
Immer mehr Polizisten waren inzwischen erschienen und sicherten mit versteinerten oder unter Helmen verborgenen Gesichtern den Platz gegen … irgendwas. Einen jüngeren, der Max an den hübschen Agenten aus unserer Serie erinnerte, sprach er an und fragte, ob es denn nicht nervig sei, solche Schwachköpfe wie die von Pegida beschützen zu müssen, und nach einer ganzen Weile, in der der Polizist nur vollkommen reglos dastand, als liefen im Inneren seines Kampfpanzers die kompliziertesten elektromagnetischen und nanomechanischen Prozesse ab, antwortete er mit der tiefen, sonoren Stimme eines jahrhundertealten Orakels: „San auch Leut.“ Das war schon der erste Magenschwinger. Max riet ihm noch, sich gegen die Kälte mehr zu bewegen, auch mal auf der Stelle zu laufen und Kniebeugen zu machen, aber da ertönte endlich der erlösende Ruf – „Da drüben!“ Wie Herdentiere gerieten alle in Bewegung, strömten auf eine Seite des Platzes, formierten sich in einem großen Kreis um ein mickriges Grüppchen Menschen, das seinerseits von einer Hundertschaft schwarzer, bis an die Zähne gerüsteter Polizisten umgeben und von uns getrennt war.
Wir – das waren mittlerweile ein paar Hundert, die – das waren vielleicht zwanzig Häufchen Elend. Erste „Nazis-raus“-Sprechchöre hoben an, überall Gedränge, man wollte näher heran, man sah ja gar nichts, warum machten die denn auch nichts, riefen nichts, hielten nichts hoch, standen da einfach nur bedröppelt, kaum zu erkennen hinter der düsteren Wand aus Polizisten, und von hinten schob eine Frau ihren Sohn durch die Enge und sagte: „Lasst den Kleinen doch mal nach vorn!“ In der Menge traf ich den Mann mit dem Tirolerhut wieder, er hielt immer noch sein Telefon in der Hand. Ich fragte ihn, was denn jetzt noch so passiere, und er zuckte die Achseln, sagte, am Sendlinger Tor stünden wohl schon zehntausend. Immer lauter dröhnten jetzt unsere Sprechchöre und Gesänge, der Fußballgassenhauer „Ihr-könnt-nach-Hause-gehen“ gehörte noch zu der netteren Sorte. In einem Anflug von Übermut testete ich bald auch selbst weitere Fanlieder, rief ein paar Refrainzeilen ins Rund, die mir von meinen frühen Stadionbesuchen noch vertraut waren und mir jetzt von irgendwoher zuflogen. Mit jenem tiefkehligen Bass, der mir als Kind bei anderen Fans immer Angst gemacht hatte, sang ich jeweils laut die ersten Takte an, bis die Menschen um mich herum begeistert einstimmten. Es funktionierte jedes Mal, ganz gleich wie idiotisch der Text war. Plötzlich war ich der Tonangeber in unserer Ecke. Am besten kam „Nazi, wir wissen wo dein Auto steht“ an, einige beklatschten mich sogar, wenn mir eine besonders originelle Verballhornung gelang, forderten immer neue Gesänge, und das fühlte sich eine Zeitlang ziemlich gut an. Bis Max mir auf die Schulter tippte und sagte, hey, Dutschke, krieg dich mal wieder ein.
Spaziergänge
Einige der Pegida-Anhänger, die wie eingeschüchterte, in die Enge getriebene Tiere immer näher zusammenrückten, sahen tatsächlich so aus, als wären sie am liebsten einfach nach Hause gegangen, einer schaute ständig auf die Uhr, aber eingeschlossen in einem viele Meter dicken Doppelring aus Polizei und unserem wütenden Mob, der jetzt in rhythmischem Stakkato „Wir-wollen-keine-Nazi-Schweine!“ brüllte, gab es kein Entkommen. Als ein Mann, den ich inzwischen als Ober-Pegisten ausgemacht zu haben glaubte, obwohl er mit seiner Funktionsjacke und dem über die Schulter gehängten Jutebeutel eher wie ein Oberstudienrat beim Lehrerausflug wirkte, einen Zettel hervorzog, um etwas vorzulesen, ging seine Stimme augenblicklich unter in einem gewaltig aufbrandenden Lärm aus Plärrparolen, Trillerpfeifen, dumpfem Fußgetrampel und, naja, gegeneinanderschlagenden Topfdeckeln. Der Oberlehrer hielt noch zwei, drei Sätze durch, bewegte stumm seine Lippen, stieß weiße Wölkchen in die kalte Luft, dann ließ er den Zettel sinken und schaute kopfschüttelnd zu uns hoch, als wollte er sagen, das ist alles? Mehr habt Ihr nicht drauf?
Es war seltsam. Ich fühlte mich ertappt, alles schien irgendwie falsch herum zu sein, wie unter heimlich vertauschtem Vorzeichen. Die Brülldeppen, das sollten doch die anderen sein! Die Menschenmenge jubelte frenetisch, als der Oberlehrer seinen Zettel wieder säuberlich zusammenfaltete und im Jutebeutel verstaute. Auf der anderen Seite des Platzes explodierte ein Feuerwerkskörper, und für einen kurzen Moment lag da eine bestimmte Spannung in der Luft, von der ich das Gefühl hatte, dass sie auch etwas zum Bersten hätte bringen können. Ich war jetzt doch froh, dass so viele Polizisten da waren.
Als die Pegida-Leute einen schüchternen Ausfall wagten, sich langsam in Bewegung setzten und abgeschirmt von schwarzen Uniformen auf die Straße traten, um ihren Spaziergang um den Block anzutreten, wir Gegendemonstranten dicht auf ihren Fersen, war ich schon ziemlich erschöpft. Aber zum Glück ging es nur langsam voran. Wie auf einer Beerdigung so träge bewegte sich der Zug, wie auf einem unendlich schmerzhaften Kreuzweg. Vorne war noch ordentlich was los, aber hinten war es ruhiger. Weil Max Enge nicht mag, bildeten wir das Schlusslicht. Nicht allzu weit vor uns entdeckte ich das traurige bucklige Männlein von voriger Woche wieder mit seiner ausgefransten SPD-Fahne. Links und rechts von uns standen in den Häusern die Menschen bis in den fünften Stock hinauf an ihren Fenstern, viele waren auf ihren Balkon hinausgetreten und klatschten im Rhythmus der Parolen. Ein paar bunte PACE-Flaggen wurden aus den Fenstern gehalten, die gehen ja eigentlich immer. Kurz hatte ich das Gefühl, wir waren erschöpfte, vom Kampf gezeichnete, aber glückliche GIs, die in einem Triumphzug von der befreiten Bevölkerung gefeiert wurden. Fast hätte ich zu allen Seiten nach oben gewinkt.
Nach einer Viertelstunde erreichte der Zug wieder den Weißenburger Platz, dann löste sich alles schnell auf. Der Oberlehrer gähnte und grüßte zum Abschied nochmal in unsere Richtung, bevor er zur Tram-Haltestelle trottete. Nur die Tuba spielte noch irgendwo. Neben uns fragte einer enttäuscht, wie, das war’s?, und ein anderer wollte gehört haben, dass am Sendlinger Tor fünfzehntausend gewesen seien.
Das Fremde
Wir hatten gewonnen, aber es war ein schaler Erfolg. Auf dem Nachhauseweg sprachen wir zum ersten Mal darüber, uns der Sache anders zu nähern, über Texte, über das Schreiben, Lesen und Vorlesen. Nicht weil es besser wäre, als auf die Straße zu gehen. Im Gegenteil, Texte bringen nichts, zumindest weniger als ein Demo-Bericht bei Claus Kleber im heute-journal. Und natürlich war es entscheidend, auf der Straße ein nach außen sichtbares Gegenzeichen zu setzen, gerade auch, damit die Flüchtlinge, Muslime und anderen Angefeindeten sich nicht allein gelassen fühlten. Aber das reichte nicht. Die reine Konfrontation, das Sich-gegenseitig-runterschreien-oder-anschweigen, das anonyme Buhlen um die öffentliche Aufmerksamkeit – drohte das nicht, allzu leicht in die Verknöcherung zu führen? Es musste noch einen weiteren Weg geben, eine ergänzende, alternative Perspektive, eine, die sich nicht so fremd anfühlte. „Wenn das Große so kompliziert ist, muss man beim Kleinen anfangen, bei sich selbst“, sagte Max. Und Literatur sei ja immer und zuerst ein Akt der Selbstbestimmung, der Selbstvergewisserung.
So ging das los. Wir begannen, unter Freunden und Kollegen herumzufragen, und stellten fest, dass viele ähnlich ambivalente Erfahrungen gemacht hatten. Wir brachten Schriftsteller, Journalisten und Filmemacher an einen Tisch, Juden, Christen, Muslime, Atheisten und diskutierten, machten Pläne. Ein paar Wochen später lasen wir im Café Lost Weekend öffentlich unsere Texte vor, nachher stellten wir sie ins Netz.
Pegida wurde immer wieder vorgeworfen, sie seien meist nur gegen etwas. Das wollten wir nun unsererseits nicht wiederholen, indem wir einfach nur gegen Pegida waren. Es sollte ein produktiver, empathischer und persönlicher Zugang sein – zu einem so weit geöffneten Raum, dass nicht nur die hundertmal gehörten, in ihrer Abstraktheit oft starren Für- und Widerargumente darin Platz hatten, sondern auch Zwischentöne, Zweifel, Wut und Ängste, ohne dass man dabei gleich modrig aus dem Mund roch. So landeten wir beim Phänomen der Fremdheit selbst. Wo sind wir fremd? Was macht das Fremde mit uns und unserer Arbeit?
Kaum verwunderlich, dass auch dieser Weg nicht geradewegs ins Wohlgefallen führte, dass das Gefühl der Fremdheit nicht verflog. Aber das ist in Ordnung. Fremdheit ist eine schöpferische Kraft, für die Gesellschaft, aber auch in der Literatur. Sie lebt von der Ambivalenz, von Reibung und Widersprüchlichkeit. Nicht zufällig heißt einer der nachklingendsten Romane des 20. Jahrhunderts: Der Fremde.
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Im Frühjahr fand eine große Lesung Münchner Autoren statt, bei der das Literaturportal Bayern als Kooperationspartner mitwirkte. Wo sind wir fremd? Wie hängen Fremdsein und Schreiben zusammen? Fragen wie diesen ging eine Reihe namhafter Autoren nach, u.a. Steven Uhly, Lena Gorelik, Daniel Jaakov Kühn, Andreas Unger, Sandra Hoffmann, Jürgen Bulla, Katja Huber, Daniel Grohn, Andrea Heuser und Dagmar Leupold. Die gesammelten Texte sind soeben im P. Kirchheim Verlag erschienen. Hierfür konnten auch noch weitere Münchner Autoren gewonnen werden, darunter Thomas Lang, Christine Auerbach, Doris Dörrie, Georg Picot und Gunna Wendt.
Hier ein Auszug aus dem Vorwort von Fridolin Schley.
*
Vorgeschichte
Die Idee zu einem Buch über Fremdheit und Literatur entstand aus einem Moment großer Befremdung heraus. Das war an einem kalten Montagabend im vergangenen Winter in München. Ich war auf dem Weg zum Dorner Max, freute mich auf die nächste Folge der US-Fernsehserie, die wir montags immer zusammen schauten, als ich eine SMS von ihm bekam: Sie stehen jetzt auch vor haidhausen. Not in my backyard. Jetzt schlagen wir zurück.
Sie, das waren Pegida, Mügida oder Bagida, so richtig blickte da keiner mehr durch. Die große Demo-und-Gegendemo fand an dem Abend eigentlich am Sendlinger Tor statt, aber wir waren schon in der Woche zuvor bei der am Opernplatz gewesen und hatten wohl, ohne es zu sagen, das leise Gefühl, unsere Schuldigkeit getan zu haben. Außerdem konnte ich mich auf eine Erkältung berufen; und natürlich wollten wir wirklich wissen, wie Homeland weiterging. Aber dann: Haidhausen, das war Max’ Viertel. Not in my backyard.
Bereits in der Woche zuvor am Opernplatz hatten wir etwas beklommen am Rand der Demonstration gegen Fremdenfeindlichkeit gestanden, über das wabernde Meer aus Köpfen, erhobenen Armen und Transparenten geblickt, über zehntausend Menschen sollen es gewesen sein, und uns irgendwann gefragt, was mit uns nicht stimmte, dass wir ständig innere Distanz dazu suchten; dass wir uns in ironische Sprüche flüchteten und uns über andere Mitdemonstranten lustig machten, anstatt einfach einzutauchen, da wir ihre Meinung doch wohl im Großen und Ganzen teilten. Wir wussten es nicht, aber es fühlte sich fremd an. Nur das bucklige Männlein, das in der Nähe von uns mit einer schon etwas verwaschenen SPD-Fahne traurig auf- und abging, schien ähnlich zu empfinden. Später spielten noch Notwist, das nimmt man dann natürlich auch noch mit. Und zu Claus Kleber ins heute-journal schaffte es München an diesem Abend auch.
Was also stimmte nicht, wo doch eigentlich alles stimmte? Dass hier viele ein bisschen zu stolz auf ihr Dabeisein waren? Dass sich alle so prima einig waren – noch dazu auf der moralisch sicheren Seite? Dass es ein Event war, bei dem – „wie geil ist das denn?!“ – auch noch Notwist spielten? Dass die skandierten Parolen zu einfach waren? Dass es unheimlich ist, in laute Massensprechchöre einzustimmen? Dass man darüber leicht vergisst, sich eine eigene Meinung zu bilden? Dass es bequem war, hier eine Stunde zu stehen, um dann mit besserem Gewissen wieder zu verdrängen, dass sich direkt vor den Toren dieser reichen Stadt menschenunwürdige Flüchtlingsdramen abspielten? Dass es für Politiker einfacher ist, auf so einer ‚gemähten Wiese‘ zu stehen und zu Gleichgesinnten zu sprechen, als wichtige Reformen im Dickicht des Asylrechts anzugehen? Oder war es korinthenkackerisch, so etwas zu denken, da es doch um die Sache ging? Wir wussten es nicht. Aber wir ahnten, dass auch wir uns aufsaßen, noch während wir all das abwogen, dass wir möglicherweise selbst die größten Heuchler waren, indem wir uns so erhoben mit unserer Distanz, mit Ironie und Kritik, und das machte alles nur noch schlimmer. Wir wollten da sein und wollten nicht da sein. Es war ein Dilemma.
Falsche Party
Doch diesmal würden wir alles besser machen. Es ging schließlich um Haidhausen, das Viertel der Ökobäckereien, Flohmarktläden und Wohlstandsgrünen, Schachturnier meets BMW meets Open Gallery. Wenn sie Haidhausen bekämen … nicht auszudenken! Das Problem war nur: Sie waren nicht da. Am Weißenburger Platz stießen wir auf einige andere Gegendemonstranten, die ihre München-ist-bunt-Plakate wie zum Ausweis hochhielten; es war schon dunkel, keiner wollte falsch zugeordnet werden. Man taxierte sich, jeder hier konnte schließlich ein Pegida-Schläfer sein. Sicherheitshalber lächelten wir alle an, und Max summte die Marseillaise.
Man schaute auf die Uhr, verständigte sich – ja, schon halb sieben durch, um halb sieben wollten sie doch aufmarschieren, so stand’s im Netz. Eine ältere Dame neben uns hatte zwei Kochtopfdeckel mitgebracht, die sie ab und zu etwas lustlos gegeneinanderschlug und an deren Innenrändern noch eingetrocknete braune Soße und ein paar Reiskörner zu erkennen waren, eine andere spielte auf einer Tuba immer wieder die gleiche Melodie. (Am nächsten Tag war sie als „Jeanne d’Arc von Haidhausen“ in der Zeitung abgebildet.) Jemand stimmte FC-Bayern-München-Gesänge an. In kleineren Gruppen trotteten wir über den Platz, irgendwo mussten sie doch sein; hinter uns nuschelte jemand: „Zefix, wo san jetzt die Bösen?“ Ein Herr mit Tirolerhut blickte von seinem Smartphone auf und sagte seufzend, na toll, am Sendlinger Tor sind schon siebentausend, und ich erinnerte mich an das schreckliche Gefühl aus meiner Jugend, wenn man freitags auf die falsche Party gegangen war.
Immer mehr Polizisten waren inzwischen erschienen und sicherten mit versteinerten oder unter Helmen verborgenen Gesichtern den Platz gegen … irgendwas. Einen jüngeren, der Max an den hübschen Agenten aus unserer Serie erinnerte, sprach er an und fragte, ob es denn nicht nervig sei, solche Schwachköpfe wie die von Pegida beschützen zu müssen, und nach einer ganzen Weile, in der der Polizist nur vollkommen reglos dastand, als liefen im Inneren seines Kampfpanzers die kompliziertesten elektromagnetischen und nanomechanischen Prozesse ab, antwortete er mit der tiefen, sonoren Stimme eines jahrhundertealten Orakels: „San auch Leut.“ Das war schon der erste Magenschwinger. Max riet ihm noch, sich gegen die Kälte mehr zu bewegen, auch mal auf der Stelle zu laufen und Kniebeugen zu machen, aber da ertönte endlich der erlösende Ruf – „Da drüben!“ Wie Herdentiere gerieten alle in Bewegung, strömten auf eine Seite des Platzes, formierten sich in einem großen Kreis um ein mickriges Grüppchen Menschen, das seinerseits von einer Hundertschaft schwarzer, bis an die Zähne gerüsteter Polizisten umgeben und von uns getrennt war.
Wir – das waren mittlerweile ein paar Hundert, die – das waren vielleicht zwanzig Häufchen Elend. Erste „Nazis-raus“-Sprechchöre hoben an, überall Gedränge, man wollte näher heran, man sah ja gar nichts, warum machten die denn auch nichts, riefen nichts, hielten nichts hoch, standen da einfach nur bedröppelt, kaum zu erkennen hinter der düsteren Wand aus Polizisten, und von hinten schob eine Frau ihren Sohn durch die Enge und sagte: „Lasst den Kleinen doch mal nach vorn!“ In der Menge traf ich den Mann mit dem Tirolerhut wieder, er hielt immer noch sein Telefon in der Hand. Ich fragte ihn, was denn jetzt noch so passiere, und er zuckte die Achseln, sagte, am Sendlinger Tor stünden wohl schon zehntausend. Immer lauter dröhnten jetzt unsere Sprechchöre und Gesänge, der Fußballgassenhauer „Ihr-könnt-nach-Hause-gehen“ gehörte noch zu der netteren Sorte. In einem Anflug von Übermut testete ich bald auch selbst weitere Fanlieder, rief ein paar Refrainzeilen ins Rund, die mir von meinen frühen Stadionbesuchen noch vertraut waren und mir jetzt von irgendwoher zuflogen. Mit jenem tiefkehligen Bass, der mir als Kind bei anderen Fans immer Angst gemacht hatte, sang ich jeweils laut die ersten Takte an, bis die Menschen um mich herum begeistert einstimmten. Es funktionierte jedes Mal, ganz gleich wie idiotisch der Text war. Plötzlich war ich der Tonangeber in unserer Ecke. Am besten kam „Nazi, wir wissen wo dein Auto steht“ an, einige beklatschten mich sogar, wenn mir eine besonders originelle Verballhornung gelang, forderten immer neue Gesänge, und das fühlte sich eine Zeitlang ziemlich gut an. Bis Max mir auf die Schulter tippte und sagte, hey, Dutschke, krieg dich mal wieder ein.
Spaziergänge
Einige der Pegida-Anhänger, die wie eingeschüchterte, in die Enge getriebene Tiere immer näher zusammenrückten, sahen tatsächlich so aus, als wären sie am liebsten einfach nach Hause gegangen, einer schaute ständig auf die Uhr, aber eingeschlossen in einem viele Meter dicken Doppelring aus Polizei und unserem wütenden Mob, der jetzt in rhythmischem Stakkato „Wir-wollen-keine-Nazi-Schweine!“ brüllte, gab es kein Entkommen. Als ein Mann, den ich inzwischen als Ober-Pegisten ausgemacht zu haben glaubte, obwohl er mit seiner Funktionsjacke und dem über die Schulter gehängten Jutebeutel eher wie ein Oberstudienrat beim Lehrerausflug wirkte, einen Zettel hervorzog, um etwas vorzulesen, ging seine Stimme augenblicklich unter in einem gewaltig aufbrandenden Lärm aus Plärrparolen, Trillerpfeifen, dumpfem Fußgetrampel und, naja, gegeneinanderschlagenden Topfdeckeln. Der Oberlehrer hielt noch zwei, drei Sätze durch, bewegte stumm seine Lippen, stieß weiße Wölkchen in die kalte Luft, dann ließ er den Zettel sinken und schaute kopfschüttelnd zu uns hoch, als wollte er sagen, das ist alles? Mehr habt Ihr nicht drauf?
Es war seltsam. Ich fühlte mich ertappt, alles schien irgendwie falsch herum zu sein, wie unter heimlich vertauschtem Vorzeichen. Die Brülldeppen, das sollten doch die anderen sein! Die Menschenmenge jubelte frenetisch, als der Oberlehrer seinen Zettel wieder säuberlich zusammenfaltete und im Jutebeutel verstaute. Auf der anderen Seite des Platzes explodierte ein Feuerwerkskörper, und für einen kurzen Moment lag da eine bestimmte Spannung in der Luft, von der ich das Gefühl hatte, dass sie auch etwas zum Bersten hätte bringen können. Ich war jetzt doch froh, dass so viele Polizisten da waren.
Als die Pegida-Leute einen schüchternen Ausfall wagten, sich langsam in Bewegung setzten und abgeschirmt von schwarzen Uniformen auf die Straße traten, um ihren Spaziergang um den Block anzutreten, wir Gegendemonstranten dicht auf ihren Fersen, war ich schon ziemlich erschöpft. Aber zum Glück ging es nur langsam voran. Wie auf einer Beerdigung so träge bewegte sich der Zug, wie auf einem unendlich schmerzhaften Kreuzweg. Vorne war noch ordentlich was los, aber hinten war es ruhiger. Weil Max Enge nicht mag, bildeten wir das Schlusslicht. Nicht allzu weit vor uns entdeckte ich das traurige bucklige Männlein von voriger Woche wieder mit seiner ausgefransten SPD-Fahne. Links und rechts von uns standen in den Häusern die Menschen bis in den fünften Stock hinauf an ihren Fenstern, viele waren auf ihren Balkon hinausgetreten und klatschten im Rhythmus der Parolen. Ein paar bunte PACE-Flaggen wurden aus den Fenstern gehalten, die gehen ja eigentlich immer. Kurz hatte ich das Gefühl, wir waren erschöpfte, vom Kampf gezeichnete, aber glückliche GIs, die in einem Triumphzug von der befreiten Bevölkerung gefeiert wurden. Fast hätte ich zu allen Seiten nach oben gewinkt.
Nach einer Viertelstunde erreichte der Zug wieder den Weißenburger Platz, dann löste sich alles schnell auf. Der Oberlehrer gähnte und grüßte zum Abschied nochmal in unsere Richtung, bevor er zur Tram-Haltestelle trottete. Nur die Tuba spielte noch irgendwo. Neben uns fragte einer enttäuscht, wie, das war’s?, und ein anderer wollte gehört haben, dass am Sendlinger Tor fünfzehntausend gewesen seien.
Das Fremde
Wir hatten gewonnen, aber es war ein schaler Erfolg. Auf dem Nachhauseweg sprachen wir zum ersten Mal darüber, uns der Sache anders zu nähern, über Texte, über das Schreiben, Lesen und Vorlesen. Nicht weil es besser wäre, als auf die Straße zu gehen. Im Gegenteil, Texte bringen nichts, zumindest weniger als ein Demo-Bericht bei Claus Kleber im heute-journal. Und natürlich war es entscheidend, auf der Straße ein nach außen sichtbares Gegenzeichen zu setzen, gerade auch, damit die Flüchtlinge, Muslime und anderen Angefeindeten sich nicht allein gelassen fühlten. Aber das reichte nicht. Die reine Konfrontation, das Sich-gegenseitig-runterschreien-oder-anschweigen, das anonyme Buhlen um die öffentliche Aufmerksamkeit – drohte das nicht, allzu leicht in die Verknöcherung zu führen? Es musste noch einen weiteren Weg geben, eine ergänzende, alternative Perspektive, eine, die sich nicht so fremd anfühlte. „Wenn das Große so kompliziert ist, muss man beim Kleinen anfangen, bei sich selbst“, sagte Max. Und Literatur sei ja immer und zuerst ein Akt der Selbstbestimmung, der Selbstvergewisserung.
So ging das los. Wir begannen, unter Freunden und Kollegen herumzufragen, und stellten fest, dass viele ähnlich ambivalente Erfahrungen gemacht hatten. Wir brachten Schriftsteller, Journalisten und Filmemacher an einen Tisch, Juden, Christen, Muslime, Atheisten und diskutierten, machten Pläne. Ein paar Wochen später lasen wir im Café Lost Weekend öffentlich unsere Texte vor, nachher stellten wir sie ins Netz.
Pegida wurde immer wieder vorgeworfen, sie seien meist nur gegen etwas. Das wollten wir nun unsererseits nicht wiederholen, indem wir einfach nur gegen Pegida waren. Es sollte ein produktiver, empathischer und persönlicher Zugang sein – zu einem so weit geöffneten Raum, dass nicht nur die hundertmal gehörten, in ihrer Abstraktheit oft starren Für- und Widerargumente darin Platz hatten, sondern auch Zwischentöne, Zweifel, Wut und Ängste, ohne dass man dabei gleich modrig aus dem Mund roch. So landeten wir beim Phänomen der Fremdheit selbst. Wo sind wir fremd? Was macht das Fremde mit uns und unserer Arbeit?
Kaum verwunderlich, dass auch dieser Weg nicht geradewegs ins Wohlgefallen führte, dass das Gefühl der Fremdheit nicht verflog. Aber das ist in Ordnung. Fremdheit ist eine schöpferische Kraft, für die Gesellschaft, aber auch in der Literatur. Sie lebt von der Ambivalenz, von Reibung und Widersprüchlichkeit. Nicht zufällig heißt einer der nachklingendsten Romane des 20. Jahrhunderts: Der Fremde.