Marion Schwehr über die Zukunft des Schreibens im Datenzeitalter
Der vierte Salon für Schönheit & Kosmetik stand am 20.10.2015 ganz im Zeichen einer vermeintlichen Kollision: Was wird im Zeitalter von Big Data aus der 'klassischen' Literatur? Werden unsere Rechner in Zukunft kreativ und schreiben womöglich die besseren Romane? Vielen ist das unheimlich. Dabei eröffnet Big Data auch im Bereich des Dichtens und Denkens aufregende neue Wege und Möglichkeiten. Überlegungen wie diesen gingen im Café Lost Weekend die Münchner Autorinnen Keto von Waberer und Tanja Gronde sowie die Literaturaktivistin Marion Schwehr und Netzperformerin Gretta Louw nach. Ausgangspunkt war das Digital-Experiment Streetview Literatur, das seit diesem Herbst im Literaturportal Bayern eine neue Heimat hat. Die Initiatorin Marion Schwehr hielt dazu – als Herzstück des Abends – den folgenden kulturtheoretischen Vortrag, der von Gretta Louw performativ begleitet wurde. Keto von Waberer und Tanja Gronde lasen ihre Texte aus Streetview Literatur.
*
Literatur meets Big Data
Alles in der Welt ist dazu da, in einem Buch zu landen. Mallarmé (1842–1898)
Die Literatur nutzt die Welt, um daraus zu schöpfen. Literatur nimmt aus der Welt Begebenheiten, Erfahrungen, Eindrücke, allgemein formuliert: Ausschnitte – und schafft daraus etwas Ganzes. Das ist mehr als ein reines Abbild der Welt. Dieses Ganze ist eine Welt im Kleinen. Es ist eine faszinierende Leistung der Literatur: Sie führt uns etwas vor Augen, das wir im echten Leben, wenn wir mittendrin stecken in diesem Wirrwarr, überhaupt nicht sehen können. Sie erklärt uns die Welt, aus der sie schöpft.
Mit dem Eingangszitat beschreibt Mallarmé die Welt des 19. Jahrhunderts. Die Zeit der großen Romane und Erzählungen. Tolstoi, Dostojewski, Zola … Und Susan Sontag knüpfte an dieses Zitat an, als sie in den 70er Jahren sagte: Alles ist dazu da, auf einem Foto zu landen.
Die Rolle der Literatur als „Abbild“ der Welt und Instrument der Wahrheitssuche übernimmt im 20. Jahrhundert primär die Fotografie. Fotos sind „Schnappschüsse“, d.h. sie schnappen sich Teile der realen Welt und lösen sie als Bruchstücke heraus. Persönliche Erlebnisse, politische Geschehnisse, freudige Ereignisse, Katastrophen – alles wird auf Fotos festgehalten. Fotos halten als Fragmente die Wirklichkeit fest. Aber eben nicht als ein Gesamtbild, sondern als Aneinanderreihung von Einzelteilen. Sontag spricht von einer „Anthologie“. (Interessanterweise bedient sie sich mit dieser Bezeichnung der Buchmetaphorik.)
Fotos gelten als Mittel der Dokumentation. Sie zeigen etwas so, wie es ist. Was auf einem Foto ist, ist wahr. Natürlich wissen wir heute um die Möglichkeiten der Retusche und Bildbearbeitung, und wir wissen, dass man mit dem Wahrheitsanspruch vorsichtig sein muss. Doch Susan Sontag zeigt in ihren Essays, dass die Fotografie noch nie ein Mittel der Wahrheit war. Fotografie bemächtigt sich ihres Gegenstandes und transformiert ihn in ein ästhetisches Objekt. Durch die Fotografie findet eine Ästhetisierung statt, die der Wahrheit im Wege steht.
Daten. Räume.
Natürlich möchte ich mit einer Beschreibung des 21. Jahrhunderts daran anknüpfen: Alles ist dazu da, im Internet zu landen. Beziehungsweise: Alles, was es im „echten“ Leben gibt, landet in irgendeiner Form auch im Internet.
„Ist das Internet eigentlich irgendwann mal voll?“ Das ist eine Frage, die mir vor einigen Jahren einmal gestellt wurde. Und ich finde, das ist eine wunderbare Frage! Nicht nur weil sie lustig ist, sondern weil sie eine Denkweise offenbart, der wir alle in einer gewissen Weise anhängen. Wir sprechen vom Internet immer als einem separaten Ort: „Das hab ich aus dem Internet“. Das ist wie ein Schrank, aus dem ich etwas heraushole, und der Zugang, die Tür dazu ist der Computer, das Smartphone. Wir sind also gar nicht so weit weg von der Vorstellung hinter dieser Frage. Auch wir denken das Internet als abgeschlossenen Raum. Wir sprechen schließlich vom digitalen Raum. Mit dem Internet der Dinge wird klar, dass diese Vorstellung falsch ist. Unser Kühlschrank, unsere Heizung, unsere Sportapp – einfach unsere komplette Lebenswelt liefert Daten. Jeder Bereich unseres Lebens wird in Daten übersetzt. Digitalisierung bedeutet ja gerade die Übersetzung der Welt in Daten. Unsere Taten (alles was wir tun) werden zu Daten. Um das Digitale tatsächlich zu verstehen, sollten wir unsere Vorstellung vom „Internet“ verändern. Wir sollten also richtiger sagen: Nicht alles in der Welt ist dazu da, im Internet zu landen. Sondern: Alles, was es gibt, gibt es auch in Form von Daten.
Aber was sind eigentlich Daten? Das klingt immer so abstrakt, und wahrscheinlich können wir sie uns noch schwerer vorstellen als das Internet. Deshalb erkläre ich das gerne mit Herta Müller. Kennen Sie die „Schnipselbücher“ von Herta Müller? Sie schneidet Wörter aus Zeitungen und Zeitschriften aus und puzzelt sie neu zusammen. Sie nimmt die Wörter aus einem Kontext und macht sie zu Material. Zu Wortmaterial. Zu isolierten Bausteinen.
Genau das Gleiche macht das Digitale. Wir bekommen isolierte Daten. Einzelne Parameter werden aus Zusammenhängen genommen. Das tatsächliche Geschehen, der Fluss des Lebens, wird in Einzeldaten zerschnitten. Gutes Beispiel dafür ist der Fußball, weil er eines der wenigen Felder ist, in dem die Übersetzung eines Ereignisses in Daten öffentlich stattfindet bzw. nachvollziehbar ist. Heute wird ein Fußballspiel in eine Vielzahl von Parametern zerstückelt: Ballbesitz, Pässe, Passgenauigkeit usw. Diese Parameter sagen über das tatsächliche Spiel, den Verlauf des Spiels und über das Ergebnis wenig – ich möchte fast sagen, gar nichts aus. Um diese Behauptung zu untermauern, habe ich Ihnen ein Fußballspiel mitgebracht. Nicht irgendein Spiel, sondern das WM-Halbfinale Deutschland gegen Brasilien. Das Ergebnis dieses Spiels ist bekannt – ein klares 7:1 für Deutschland. Wer das Spiel damals gesehen hat, konnte einem unglaublichen Siegeszug der deutschen Mannschaft beiwohnen. Das Datenmaterial zu diesem Spiel erzählt dagegen eine ganz andere Geschichte. Die Daten zu Ballbesitz, Pässen, Flanken, Schüssen aufs Tor etc. zeigen durchgängig eine nahezu ausgeglichene Partie, sogar mit leichten Vorteilen für das brasilianische Team. Die Daten liefern kein Abbild vom Spiel. Sie sind lediglich aus dem Kontext genommene Parameter. Sie sind isoliertes Material.
Und das ist ein ganz wichtiger Punkt: Daten sind nicht einmal mehr Bruchstücke der Welt, wie es noch beim Foto war. Daten sind reines Material, völlig losgelöst von Zusammenhängen und vom Abbild der Welt. Das Digitale macht die Welt zu einem riesigen Steinbruch. Einer Ansammlung von Daten als Bausteinen, aus denen etwas geschaffen werden kann.
Sinnstiftung
Um überhaupt etwas mit den Daten anfangen zu können, müssen sie weiterverarbeitet werden. Sie sagen allein ja nichts aus! Und da sind wir wieder bei Herta Müller. Im Zusammenpuzzeln ihres Materials schafft sie ganz neue Kontexte, ganz neue Sinnverbindungen. Genau darum geht es in unserem digitalen Zeitalter. Es geht darum, zwischen den Daten Verbindungen und Zusammenhänge herzustellen. Es geht darum, aus dem Material Geschichten zu entwickeln. Daten, die keine Geschichten erzählen, sind wertlos. Das ist auch den Unternehmen, die Daten haben, sehr bewusst. Das Wertvolle sind nicht die Daten, sondern die Geschichten, die sich daraus entwickeln lassen.
Dieses Herausarbeiten aus den Daten und das Erzählen von Geschichten sind aktive, geradezu kreative Akte. Verbindungen und Zusammenhänge zwischen den Daten müssen aktiv kreiert werden. Die Unterscheidung „was ist real“ – „was ist fiktiv“, die mich bei Streetview noch interessiert hat, ist obsolet. So wie Fotos nicht die Wahrheit zeigen, interessiert sich das Digitale nicht für das Reale. Das Digitale interessiert sich nicht dafür, wie etwas wirklich ist. Die Geschichte, die aus Daten erzählt wird, muss plausibel sein. Sie muss glaubwürdig sein, meinetwegen sogar realistisch, aber sie muss nicht der Realität entsprechen. Geschichten, die aus Daten erzählt werden, sind fiktionalisiert.
I´m much more interesting on the Internet. Dieses Motto, das ich in einem Twitterprofil gefunden habe, gilt für uns alle. Personen in sozialen Netzwerken (die Profile) sind Fiktionen. Personen zeigen dort nicht, wie sie sind, sondern wie sie gerne wären. Das gilt natürlich auch für Unternehmen. Da ist es für uns ganz selbstverständlich, dass Darstellungen von Unternehmen mehr fiktiv denn real sind. Aber selbst bei Wikipedia können wir in der Dokumentation der Änderungsverläufe nachverfolgen, wie „Fakten“ „gemacht“ werden. Und genauso verhält es sich in den Bereichen, die für uns im Verborgenen ablaufen. Wo Unternehmen oder Geheimdienste aus unseren Daten Zusammenhänge erstellen. Das ist ein aktiver, ein kreativer Akt. Die Lücken zwischen den Daten müssen gefüllt werden. Zwischen den Daten müssen Verbindungen hergestellt werden. Zusammenhänge müssen geschaffen werden. Darauf kommt es an. Literatur und Big Data treffen hier explizit aufeinander – in Form von Methoden und Fähigkeiten, mit Material zu arbeiten, Zusammenhänge aufzubauen, Welt zu erklären und sogar zu schaffen.
Wie geht mein Leben weiter?
Zum Abschluss meiner Überlegungen möchte ich nochmal auf die beiden Streetview-Texte zurückkommen, die wir heute gehört haben. In beiden Texten geht es ums Suchen. Ich habe mich immer besonders gefreut, wenn ich Texte bekommen haben, in denen es ums Suchen ging. Zum einen ist das Suchen eine Grunderfahrung unserer Existenz, zum anderen ist es ein zentrales Motiv und Instrument im Internet. Im Netz etwas zu suchen, etwas zu googeln, ist eine digitale Grunderfahrung.
Wie geht mein Leben weiter? Diese Suchanfrage in Google bringt 2 Millionen Treffer. 2 Millionen Hinweise, wie mein Leben weitergeht. Viel Material. Viel Fiktion. Worauf ich aber eigentlich hinausmöchte, ist: Es gibt ganz offensichtlich genug Leute, die versuchen, Antworten, vielleicht sogar den Sinn für ihr Leben zu googeln. Solche Antworten kommen aber nicht von Google, sondern aus der Literatur. Sinnstiftung durch Geschichten, Zusammenhänge, Erklärungen – das ist es, was Literatur kann und leistet. Gute Literatur liefert Antworten. Und sehr gute Literatur stellt sogar Fragen, auf die man nie gekommen wäre, die man also gar nicht googeln kann.
Das ist das Potenzial der Literatur: Sinnstiftung. Dieses Potenzial ist im digitalen Steinbruch mehr als gefragt. Die Frage ist, inwieweit man die Möglichkeiten und Methoden der Literatur auch auf andere Bereiche anwenden möchte. Das ist dann keine Literatur, die primär im Buch Platz findet, sondern eine Literatur, die in der Welt stattfindet. Aber letztlich war die ganze Literatur schon immer dazu da, in der Welt zu landen.
Gastgeber Maximilian Dorner, Tanja Gronde, Gretta Louw; (c) Literaturportal Bayern
Marion Schwehr über die Zukunft des Schreibens im Datenzeitalter>
Der vierte Salon für Schönheit & Kosmetik stand am 20.10.2015 ganz im Zeichen einer vermeintlichen Kollision: Was wird im Zeitalter von Big Data aus der 'klassischen' Literatur? Werden unsere Rechner in Zukunft kreativ und schreiben womöglich die besseren Romane? Vielen ist das unheimlich. Dabei eröffnet Big Data auch im Bereich des Dichtens und Denkens aufregende neue Wege und Möglichkeiten. Überlegungen wie diesen gingen im Café Lost Weekend die Münchner Autorinnen Keto von Waberer und Tanja Gronde sowie die Literaturaktivistin Marion Schwehr und Netzperformerin Gretta Louw nach. Ausgangspunkt war das Digital-Experiment Streetview Literatur, das seit diesem Herbst im Literaturportal Bayern eine neue Heimat hat. Die Initiatorin Marion Schwehr hielt dazu – als Herzstück des Abends – den folgenden kulturtheoretischen Vortrag, der von Gretta Louw performativ begleitet wurde. Keto von Waberer und Tanja Gronde lasen ihre Texte aus Streetview Literatur.
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Literatur meets Big Data
Alles in der Welt ist dazu da, in einem Buch zu landen. Mallarmé (1842–1898)
Die Literatur nutzt die Welt, um daraus zu schöpfen. Literatur nimmt aus der Welt Begebenheiten, Erfahrungen, Eindrücke, allgemein formuliert: Ausschnitte – und schafft daraus etwas Ganzes. Das ist mehr als ein reines Abbild der Welt. Dieses Ganze ist eine Welt im Kleinen. Es ist eine faszinierende Leistung der Literatur: Sie führt uns etwas vor Augen, das wir im echten Leben, wenn wir mittendrin stecken in diesem Wirrwarr, überhaupt nicht sehen können. Sie erklärt uns die Welt, aus der sie schöpft.
Mit dem Eingangszitat beschreibt Mallarmé die Welt des 19. Jahrhunderts. Die Zeit der großen Romane und Erzählungen. Tolstoi, Dostojewski, Zola … Und Susan Sontag knüpfte an dieses Zitat an, als sie in den 70er Jahren sagte: Alles ist dazu da, auf einem Foto zu landen.
Die Rolle der Literatur als „Abbild“ der Welt und Instrument der Wahrheitssuche übernimmt im 20. Jahrhundert primär die Fotografie. Fotos sind „Schnappschüsse“, d.h. sie schnappen sich Teile der realen Welt und lösen sie als Bruchstücke heraus. Persönliche Erlebnisse, politische Geschehnisse, freudige Ereignisse, Katastrophen – alles wird auf Fotos festgehalten. Fotos halten als Fragmente die Wirklichkeit fest. Aber eben nicht als ein Gesamtbild, sondern als Aneinanderreihung von Einzelteilen. Sontag spricht von einer „Anthologie“. (Interessanterweise bedient sie sich mit dieser Bezeichnung der Buchmetaphorik.)
Fotos gelten als Mittel der Dokumentation. Sie zeigen etwas so, wie es ist. Was auf einem Foto ist, ist wahr. Natürlich wissen wir heute um die Möglichkeiten der Retusche und Bildbearbeitung, und wir wissen, dass man mit dem Wahrheitsanspruch vorsichtig sein muss. Doch Susan Sontag zeigt in ihren Essays, dass die Fotografie noch nie ein Mittel der Wahrheit war. Fotografie bemächtigt sich ihres Gegenstandes und transformiert ihn in ein ästhetisches Objekt. Durch die Fotografie findet eine Ästhetisierung statt, die der Wahrheit im Wege steht.
Daten. Räume.
Natürlich möchte ich mit einer Beschreibung des 21. Jahrhunderts daran anknüpfen: Alles ist dazu da, im Internet zu landen. Beziehungsweise: Alles, was es im „echten“ Leben gibt, landet in irgendeiner Form auch im Internet.
„Ist das Internet eigentlich irgendwann mal voll?“ Das ist eine Frage, die mir vor einigen Jahren einmal gestellt wurde. Und ich finde, das ist eine wunderbare Frage! Nicht nur weil sie lustig ist, sondern weil sie eine Denkweise offenbart, der wir alle in einer gewissen Weise anhängen. Wir sprechen vom Internet immer als einem separaten Ort: „Das hab ich aus dem Internet“. Das ist wie ein Schrank, aus dem ich etwas heraushole, und der Zugang, die Tür dazu ist der Computer, das Smartphone. Wir sind also gar nicht so weit weg von der Vorstellung hinter dieser Frage. Auch wir denken das Internet als abgeschlossenen Raum. Wir sprechen schließlich vom digitalen Raum. Mit dem Internet der Dinge wird klar, dass diese Vorstellung falsch ist. Unser Kühlschrank, unsere Heizung, unsere Sportapp – einfach unsere komplette Lebenswelt liefert Daten. Jeder Bereich unseres Lebens wird in Daten übersetzt. Digitalisierung bedeutet ja gerade die Übersetzung der Welt in Daten. Unsere Taten (alles was wir tun) werden zu Daten. Um das Digitale tatsächlich zu verstehen, sollten wir unsere Vorstellung vom „Internet“ verändern. Wir sollten also richtiger sagen: Nicht alles in der Welt ist dazu da, im Internet zu landen. Sondern: Alles, was es gibt, gibt es auch in Form von Daten.
Aber was sind eigentlich Daten? Das klingt immer so abstrakt, und wahrscheinlich können wir sie uns noch schwerer vorstellen als das Internet. Deshalb erkläre ich das gerne mit Herta Müller. Kennen Sie die „Schnipselbücher“ von Herta Müller? Sie schneidet Wörter aus Zeitungen und Zeitschriften aus und puzzelt sie neu zusammen. Sie nimmt die Wörter aus einem Kontext und macht sie zu Material. Zu Wortmaterial. Zu isolierten Bausteinen.
Genau das Gleiche macht das Digitale. Wir bekommen isolierte Daten. Einzelne Parameter werden aus Zusammenhängen genommen. Das tatsächliche Geschehen, der Fluss des Lebens, wird in Einzeldaten zerschnitten. Gutes Beispiel dafür ist der Fußball, weil er eines der wenigen Felder ist, in dem die Übersetzung eines Ereignisses in Daten öffentlich stattfindet bzw. nachvollziehbar ist. Heute wird ein Fußballspiel in eine Vielzahl von Parametern zerstückelt: Ballbesitz, Pässe, Passgenauigkeit usw. Diese Parameter sagen über das tatsächliche Spiel, den Verlauf des Spiels und über das Ergebnis wenig – ich möchte fast sagen, gar nichts aus. Um diese Behauptung zu untermauern, habe ich Ihnen ein Fußballspiel mitgebracht. Nicht irgendein Spiel, sondern das WM-Halbfinale Deutschland gegen Brasilien. Das Ergebnis dieses Spiels ist bekannt – ein klares 7:1 für Deutschland. Wer das Spiel damals gesehen hat, konnte einem unglaublichen Siegeszug der deutschen Mannschaft beiwohnen. Das Datenmaterial zu diesem Spiel erzählt dagegen eine ganz andere Geschichte. Die Daten zu Ballbesitz, Pässen, Flanken, Schüssen aufs Tor etc. zeigen durchgängig eine nahezu ausgeglichene Partie, sogar mit leichten Vorteilen für das brasilianische Team. Die Daten liefern kein Abbild vom Spiel. Sie sind lediglich aus dem Kontext genommene Parameter. Sie sind isoliertes Material.
Und das ist ein ganz wichtiger Punkt: Daten sind nicht einmal mehr Bruchstücke der Welt, wie es noch beim Foto war. Daten sind reines Material, völlig losgelöst von Zusammenhängen und vom Abbild der Welt. Das Digitale macht die Welt zu einem riesigen Steinbruch. Einer Ansammlung von Daten als Bausteinen, aus denen etwas geschaffen werden kann.
Sinnstiftung
Um überhaupt etwas mit den Daten anfangen zu können, müssen sie weiterverarbeitet werden. Sie sagen allein ja nichts aus! Und da sind wir wieder bei Herta Müller. Im Zusammenpuzzeln ihres Materials schafft sie ganz neue Kontexte, ganz neue Sinnverbindungen. Genau darum geht es in unserem digitalen Zeitalter. Es geht darum, zwischen den Daten Verbindungen und Zusammenhänge herzustellen. Es geht darum, aus dem Material Geschichten zu entwickeln. Daten, die keine Geschichten erzählen, sind wertlos. Das ist auch den Unternehmen, die Daten haben, sehr bewusst. Das Wertvolle sind nicht die Daten, sondern die Geschichten, die sich daraus entwickeln lassen.
Dieses Herausarbeiten aus den Daten und das Erzählen von Geschichten sind aktive, geradezu kreative Akte. Verbindungen und Zusammenhänge zwischen den Daten müssen aktiv kreiert werden. Die Unterscheidung „was ist real“ – „was ist fiktiv“, die mich bei Streetview noch interessiert hat, ist obsolet. So wie Fotos nicht die Wahrheit zeigen, interessiert sich das Digitale nicht für das Reale. Das Digitale interessiert sich nicht dafür, wie etwas wirklich ist. Die Geschichte, die aus Daten erzählt wird, muss plausibel sein. Sie muss glaubwürdig sein, meinetwegen sogar realistisch, aber sie muss nicht der Realität entsprechen. Geschichten, die aus Daten erzählt werden, sind fiktionalisiert.
I´m much more interesting on the Internet. Dieses Motto, das ich in einem Twitterprofil gefunden habe, gilt für uns alle. Personen in sozialen Netzwerken (die Profile) sind Fiktionen. Personen zeigen dort nicht, wie sie sind, sondern wie sie gerne wären. Das gilt natürlich auch für Unternehmen. Da ist es für uns ganz selbstverständlich, dass Darstellungen von Unternehmen mehr fiktiv denn real sind. Aber selbst bei Wikipedia können wir in der Dokumentation der Änderungsverläufe nachverfolgen, wie „Fakten“ „gemacht“ werden. Und genauso verhält es sich in den Bereichen, die für uns im Verborgenen ablaufen. Wo Unternehmen oder Geheimdienste aus unseren Daten Zusammenhänge erstellen. Das ist ein aktiver, ein kreativer Akt. Die Lücken zwischen den Daten müssen gefüllt werden. Zwischen den Daten müssen Verbindungen hergestellt werden. Zusammenhänge müssen geschaffen werden. Darauf kommt es an. Literatur und Big Data treffen hier explizit aufeinander – in Form von Methoden und Fähigkeiten, mit Material zu arbeiten, Zusammenhänge aufzubauen, Welt zu erklären und sogar zu schaffen.
Wie geht mein Leben weiter?
Zum Abschluss meiner Überlegungen möchte ich nochmal auf die beiden Streetview-Texte zurückkommen, die wir heute gehört haben. In beiden Texten geht es ums Suchen. Ich habe mich immer besonders gefreut, wenn ich Texte bekommen haben, in denen es ums Suchen ging. Zum einen ist das Suchen eine Grunderfahrung unserer Existenz, zum anderen ist es ein zentrales Motiv und Instrument im Internet. Im Netz etwas zu suchen, etwas zu googeln, ist eine digitale Grunderfahrung.
Wie geht mein Leben weiter? Diese Suchanfrage in Google bringt 2 Millionen Treffer. 2 Millionen Hinweise, wie mein Leben weitergeht. Viel Material. Viel Fiktion. Worauf ich aber eigentlich hinausmöchte, ist: Es gibt ganz offensichtlich genug Leute, die versuchen, Antworten, vielleicht sogar den Sinn für ihr Leben zu googeln. Solche Antworten kommen aber nicht von Google, sondern aus der Literatur. Sinnstiftung durch Geschichten, Zusammenhänge, Erklärungen – das ist es, was Literatur kann und leistet. Gute Literatur liefert Antworten. Und sehr gute Literatur stellt sogar Fragen, auf die man nie gekommen wäre, die man also gar nicht googeln kann.
Das ist das Potenzial der Literatur: Sinnstiftung. Dieses Potenzial ist im digitalen Steinbruch mehr als gefragt. Die Frage ist, inwieweit man die Möglichkeiten und Methoden der Literatur auch auf andere Bereiche anwenden möchte. Das ist dann keine Literatur, die primär im Buch Platz findet, sondern eine Literatur, die in der Welt stattfindet. Aber letztlich war die ganze Literatur schon immer dazu da, in der Welt zu landen.
Gastgeber Maximilian Dorner, Tanja Gronde, Gretta Louw; (c) Literaturportal Bayern