Erlanger Poetenfest 2015: Auf einen Schluck Radler mit Nora Bossong
Nora Bossong, 1982 in Bremen geboren, studierte in Berlin, Leipzig und Rom Philosophie und Komparatistik. Sie veröffentlichte die Romane Gegend (2007) und Webers Protokoll (2009). Bei Hanser erschienen zuletzt der Gedichtband Sommer vor den Mauern (2011), der mit dem Peter Huchel-Preis 2012 ausgezeichnet wurde, und der Roman Gesellschaft mit beschränkter Haftung (2012). Beim Erlanger Poetenfest 2015 stellte sie ihren beeindruckenden neuen Roman 36,9° vor. Als wir sie treffen, kommt sie gerade von einem Podiumsgespräch mit Nora Gomringer. In deren Geschichte Recherche kommt sie nämlich auch vor: als Figur.
*
Nora Bossong, Sie sind schon zum dritten Mal hier in Erlangen beim Poetenfest. Was ist denn für Sie das Besondere an diesem Festival?
Vor allem natürlich dieser wunderbare Garten, dieser Park hier hinter dem Schloss – und dass, weil es Open Air ist, so unglaublich viele Leute hier sind, die alle gierig nach Literatur sind, zumindest wenn das Wetter gut ist. Und alle hören dann auch noch so interessiert und aufmerksam zu. In dieser Dimension zu lesen, vor einem ganzen Park voller Menschen, das kenne ich sonst nicht.
Um uns herum können wir immer wieder Schilder sehen mit Zitaten von Schriftstellern, die im Exil waren oder anderweitig Flucht und Vertreibung erlebt haben. Überhaupt ist das, was in diesem Sommer auch in Deutschland passiert – das Flüchtlingsdrama, der Rassismus – allgegenwärtig hier. Wie ist das für Sie als Schriftstellerin? Sind diese aktuellen Ereignisse für Sie literarisch schon ein Thema, oder braucht man dafür größeren, auch zeitlich größeren Abstand?
Das kommt immer auf die Herangehensweise an. Natürlich interessiert mich das Thema erst einmal als politischen, als gesellschaftlich denkenden Menschen und weil auf diese drängenden Fragen einfach Antworten gefunden werden müssen. Aber die kommen eben nicht immer nur aus der Politik oder aus der Theorie, sondern sollten von möglichst vielen Menschen bedacht werden. Ich glaube schon, dass es die Aufgabe von Schriftstellern ist, sich da zu positionieren und zu probieren, Antworten zu geben. Mir zumindest sind Autoren lieb, die das wenigstens versuchen oder auch nur neue Fragen stellen, die einen dann weiterbringen.
Auch Ihr neuer Roman 36,9° behandelt politische Themen. Er spielt auf mehreren Ebenen, erzählt einerseits von dem legendären italienischen Kommunisten Antonio Gramsci, der zur Zeit Mussolinis lebt, andererseits – in unserer Gegenwart – von einem deutschen Wissenschaftler, der nach Rom fährt, um dort ein geheimes Notizbuch Gramscis zu suchen, und sich dabei auch noch in eine heillose Liebesgeschichte verstrickt. Insgesamt ein komplexer, ungewöhnlicher Stoff. Wenn ich mal so naiv fragen darf: Wie sind Sie denn auf den gekommen?
Ich kannte die reale Figur Antonio Gramsci schon länger, er war ja in den 70er Jahren eine wichtige Instanz für die bundesrepublikanische Linke. Das ist jetzt nicht mehr ganz so, sollte aber ruhig wieder so werden, finde ich. Außerdem habe ich längere Zeit in Italien studiert, und da ist Antonio Gramsci noch eine ganz namhafte Figur. Straßen und Plätze werden nach ihm benannt, Buchhandlungen stellen seine Bücher ins Schaufenster, und es gibt viele Leute, die ihn eifrig lesen. Ich habe diesen Denker und sehr klugen Theoretiker also früh kennengelernt – und mich dann auch mit seiner Biografie beschäftigt, die in vielerlei Hinsicht faszinierend ist. Schon insofern, als sie das frühe 20. Jahrhundert in so vielen Punkten berührt: Gramsci war in Moskau, hat Lenin erlebt, saß in faschistischer Haft und war in Italien tatsächlich so etwas wie Mussolinis gefährlichster Gegner, derjenige, der ihn möglicherweise noch hätte verhindern können. Da ist einfach dermaßen viel Historie um diese Figur, die aber zugleich auch viel Kurioses an sich hat: Gramsci ist ein sehr kleiner Mann, ganz verwachsen, der äußerst zurückgezogen aufwächst und studiert, unglaublich schüchtern ist und sich erst über seinen Intellekt beginnt ein wenig hinauszutrauen. Mit 31 Jahren verliebt er sich das erste Mal, und das ist dann natürlich ein Terrain, auf dem einen der Intellekt nicht unbedingt weiterbringt. Da muss man dann mit allem möglichen klarkommen, aber wenn man das 31 Jahre lang nicht gemacht hat, ist das, was wir alle erleben, wenn wir uns frisch verlieben, nochmal um einiges gesteigert.
(c) Literaturportal Bayern
Was hat es denn mit dem geheimnisvollen Titel 36,9° auf sich?
Zum einen hat es, glaube ich, jetzt gerade exakt 36,9 Grad, aber auch wenn es hier in Erlangen wieder kühler ist, ist unsere Körpertemperatur immer noch 36,9°. Es ist die Temperatur, die Antonio Gramsci im Gefängnis immer wieder misst und ganz akribisch protokolliert – und damit ist es gewissermaßen das Einzige, was noch konstant ist in seinem Leben, das Einzige, das ihm noch einen gewissen Halt gibt. Alles andere um ihn herum ist eigentlich wie im Fieberwahn. Seine Gesundheit ist völlig am Ende, ihm sind schon alle Zähne ausgefallen, nur diese Körpertemperatur ist ein Strohhalm, an den er sich klammert, das letzte Anzeichen dafür, dass da doch noch irgendetwas in seinem Leben zu funktionieren scheint.
Noch ein letzter Blick auf Ihren Schreibtisch: Historisch zu schreiben ist bekanntlich besonders schwer, weil schnell ein Eindruck von distanzierendem, leblosem Guckkasten entsteht. Ihnen sind die historischen Passagen aber besonders gelungen. Wie haben Sie das gemacht?
Ich habe mich zunächst einmal stark eingelesen, das macht mir immer besonders Spaß. Gerade bei einem Autor wie Antonio Gramsci, der sehr zeitreflektiert schreibt, historische Dinge vorausgesehen und analysiert hat, die bis heute Bestand haben und von denen man immer noch lernen kann. Es ist toll, mit so jemandem lesend in eine frühere Zeit zu reisen, weil es immer ein kluges Einlesen ist. Ich habe zudem viele Sachbücher zu der Zeit gelesen, aber auch einfach Romane von damals. Und das ist dann für mich der Punkt, an dem es literarisch wird: wenn ich versuche zu verstehen, wie die Leute damals gedacht haben, und ich aus der distanzierten historischen Ebene in diese Welt hineinkomme – oder hineinzukommen meine. Das ist besonders wichtig für mich, wenn ich über Zeiten schreibe, in denen ich nicht selbst gelebt habe.
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Nora Bossong, 1982 in Bremen geboren, studierte in Berlin, Leipzig und Rom Philosophie und Komparatistik. Sie veröffentlichte die Romane Gegend (2007) und Webers Protokoll (2009). Bei Hanser erschienen zuletzt der Gedichtband Sommer vor den Mauern (2011), der mit dem Peter Huchel-Preis 2012 ausgezeichnet wurde, und der Roman Gesellschaft mit beschränkter Haftung (2012). Beim Erlanger Poetenfest 2015 stellte sie ihren beeindruckenden neuen Roman 36,9° vor. Als wir sie treffen, kommt sie gerade von einem Podiumsgespräch mit Nora Gomringer. In deren Geschichte Recherche kommt sie nämlich auch vor: als Figur.
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Nora Bossong, Sie sind schon zum dritten Mal hier in Erlangen beim Poetenfest. Was ist denn für Sie das Besondere an diesem Festival?
Vor allem natürlich dieser wunderbare Garten, dieser Park hier hinter dem Schloss – und dass, weil es Open Air ist, so unglaublich viele Leute hier sind, die alle gierig nach Literatur sind, zumindest wenn das Wetter gut ist. Und alle hören dann auch noch so interessiert und aufmerksam zu. In dieser Dimension zu lesen, vor einem ganzen Park voller Menschen, das kenne ich sonst nicht.
Um uns herum können wir immer wieder Schilder sehen mit Zitaten von Schriftstellern, die im Exil waren oder anderweitig Flucht und Vertreibung erlebt haben. Überhaupt ist das, was in diesem Sommer auch in Deutschland passiert – das Flüchtlingsdrama, der Rassismus – allgegenwärtig hier. Wie ist das für Sie als Schriftstellerin? Sind diese aktuellen Ereignisse für Sie literarisch schon ein Thema, oder braucht man dafür größeren, auch zeitlich größeren Abstand?
Das kommt immer auf die Herangehensweise an. Natürlich interessiert mich das Thema erst einmal als politischen, als gesellschaftlich denkenden Menschen und weil auf diese drängenden Fragen einfach Antworten gefunden werden müssen. Aber die kommen eben nicht immer nur aus der Politik oder aus der Theorie, sondern sollten von möglichst vielen Menschen bedacht werden. Ich glaube schon, dass es die Aufgabe von Schriftstellern ist, sich da zu positionieren und zu probieren, Antworten zu geben. Mir zumindest sind Autoren lieb, die das wenigstens versuchen oder auch nur neue Fragen stellen, die einen dann weiterbringen.
Auch Ihr neuer Roman 36,9° behandelt politische Themen. Er spielt auf mehreren Ebenen, erzählt einerseits von dem legendären italienischen Kommunisten Antonio Gramsci, der zur Zeit Mussolinis lebt, andererseits – in unserer Gegenwart – von einem deutschen Wissenschaftler, der nach Rom fährt, um dort ein geheimes Notizbuch Gramscis zu suchen, und sich dabei auch noch in eine heillose Liebesgeschichte verstrickt. Insgesamt ein komplexer, ungewöhnlicher Stoff. Wenn ich mal so naiv fragen darf: Wie sind Sie denn auf den gekommen?
Ich kannte die reale Figur Antonio Gramsci schon länger, er war ja in den 70er Jahren eine wichtige Instanz für die bundesrepublikanische Linke. Das ist jetzt nicht mehr ganz so, sollte aber ruhig wieder so werden, finde ich. Außerdem habe ich längere Zeit in Italien studiert, und da ist Antonio Gramsci noch eine ganz namhafte Figur. Straßen und Plätze werden nach ihm benannt, Buchhandlungen stellen seine Bücher ins Schaufenster, und es gibt viele Leute, die ihn eifrig lesen. Ich habe diesen Denker und sehr klugen Theoretiker also früh kennengelernt – und mich dann auch mit seiner Biografie beschäftigt, die in vielerlei Hinsicht faszinierend ist. Schon insofern, als sie das frühe 20. Jahrhundert in so vielen Punkten berührt: Gramsci war in Moskau, hat Lenin erlebt, saß in faschistischer Haft und war in Italien tatsächlich so etwas wie Mussolinis gefährlichster Gegner, derjenige, der ihn möglicherweise noch hätte verhindern können. Da ist einfach dermaßen viel Historie um diese Figur, die aber zugleich auch viel Kurioses an sich hat: Gramsci ist ein sehr kleiner Mann, ganz verwachsen, der äußerst zurückgezogen aufwächst und studiert, unglaublich schüchtern ist und sich erst über seinen Intellekt beginnt ein wenig hinauszutrauen. Mit 31 Jahren verliebt er sich das erste Mal, und das ist dann natürlich ein Terrain, auf dem einen der Intellekt nicht unbedingt weiterbringt. Da muss man dann mit allem möglichen klarkommen, aber wenn man das 31 Jahre lang nicht gemacht hat, ist das, was wir alle erleben, wenn wir uns frisch verlieben, nochmal um einiges gesteigert.
(c) Literaturportal Bayern
Was hat es denn mit dem geheimnisvollen Titel 36,9° auf sich?
Zum einen hat es, glaube ich, jetzt gerade exakt 36,9 Grad, aber auch wenn es hier in Erlangen wieder kühler ist, ist unsere Körpertemperatur immer noch 36,9°. Es ist die Temperatur, die Antonio Gramsci im Gefängnis immer wieder misst und ganz akribisch protokolliert – und damit ist es gewissermaßen das Einzige, was noch konstant ist in seinem Leben, das Einzige, das ihm noch einen gewissen Halt gibt. Alles andere um ihn herum ist eigentlich wie im Fieberwahn. Seine Gesundheit ist völlig am Ende, ihm sind schon alle Zähne ausgefallen, nur diese Körpertemperatur ist ein Strohhalm, an den er sich klammert, das letzte Anzeichen dafür, dass da doch noch irgendetwas in seinem Leben zu funktionieren scheint.
Noch ein letzter Blick auf Ihren Schreibtisch: Historisch zu schreiben ist bekanntlich besonders schwer, weil schnell ein Eindruck von distanzierendem, leblosem Guckkasten entsteht. Ihnen sind die historischen Passagen aber besonders gelungen. Wie haben Sie das gemacht?
Ich habe mich zunächst einmal stark eingelesen, das macht mir immer besonders Spaß. Gerade bei einem Autor wie Antonio Gramsci, der sehr zeitreflektiert schreibt, historische Dinge vorausgesehen und analysiert hat, die bis heute Bestand haben und von denen man immer noch lernen kann. Es ist toll, mit so jemandem lesend in eine frühere Zeit zu reisen, weil es immer ein kluges Einlesen ist. Ich habe zudem viele Sachbücher zu der Zeit gelesen, aber auch einfach Romane von damals. Und das ist dann für mich der Punkt, an dem es literarisch wird: wenn ich versuche zu verstehen, wie die Leute damals gedacht haben, und ich aus der distanzierten historischen Ebene in diese Welt hineinkomme – oder hineinzukommen meine. Das ist besonders wichtig für mich, wenn ich über Zeiten schreibe, in denen ich nicht selbst gelebt habe.