Petra Morsbach erhält den Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2017
Der mit 30.000 Euro dotierte Wilhelm Raabe-Literaturpreis, gestiftet von Deutschlandfunk und der Stadt Braunschweig, geht in diesem Jahr an Petra Morsbach für ihren Roman Justizpalast (erschienen 2017 im Albrecht Knaus Verlag). Die Autorin erzählt darin von Gerechtigkeit und jenen, die sie schaffen sollen. Ihre Hauptfigur mit dem sprechendem Namen Thirza Zorniger stammt aus einer desaströsen Schauspielerehe. Sie wird Richterin im Münchner Justizpalast, doch auch hier ist die Wirklichkeit anders als in der Theorie: Eine hochdifferenzierte Gerechtigkeitsmaschine muss das ganze Spektrum des Lebens verarbeiten, wobei sie sich gelegentlich verschluckt, und auch unter den Richtern geht es bisweilen zu wie in einer chaotischen Familie.
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„Petra Morsbach erzählt in ihrem Roman Justizpalast von Verbrechen und Strafe, Delinquenz und Gesetz. Sie tut es konkret und genau, indem sie Fallgeschichten aus der richterlichen Praxis aufblättert. Sie erzählt vom prekären Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit und davon, wie sich das normative Gefüge und die Individualität der Menschen im Justizwesen zueinander verhalten. Die Welt im Justizpalast ist die ganze Welt noch einmal. Von Hass und Begierde bis zu Nachsicht und Milde“, heißt es in der Begründung der Jury.
„Der Roman ist ein episodenreicher Lobgesang auf unsere regelgeleitete Selbstorganisation. Er weiß um die Gefahren des politischen und persönlichen Missbrauchs des Gesetzes, aber er zeigt das Recht auch als ein filigranes Meisterwerk. Um dessen Schönheit zu sehen braucht es die Literatur, namentlich den Justizpalast von Petra Morsbach.“
Die Großmutter erzählte später, ein Fahrgast habe das panische Kind bei ihnen abgeliefert; sie ihrerseits brachte es zu Tante Schossi und Tante Berti, die den oberen Stock des Häuschens bewohnten. Tante Schossi und Tante Berti waren Schwestern der Großmutter. Da der Großvater gegen Kindergeräusche empfindlich war, nahmen sie Thirza in ihre Obhut.
Thirza habe mit aufgerissenen Augen auf der Couch gesessen, während sie ihr heiße Milch mit Honig einflößten – es war ein dämmriger Herbstabend. Später nahm Tante Berti sie mit in ihr schmales Bett. Thirza spürte am Rücken den warmen, weichen Leib, weinte ein bisschen und schlief darüber ein. Als sie aufwachte, schien die Sonne durch die grauen Gardinen, es duftete nach Kaffee und Orangenschalen, die Tür stand offen, in der gemeinsamen Wohnstube sprachen die Tanten mit gedämpften Stimmen. Man hatte ermittelt. Der Opa kam langsam die knarzende Stiege hinauf. „Wusstest du nicht, dass man keine fremden Leute einlässt, wenn Mama und Papa nicht da sind?“ Thirza hatte es nicht wirklich gewusst, nur geahnt; ihre Augen füllten sich mit Tränen, gleichzeitig fühlte sie eine betäubende Hitze in sich aufsteigen und sank in die Kissen. „Aber siiiehste nicht Willi, se hat Fiiieber“, das war die volle, tiefe Stimme von Tante Berti, und Opa verschwand. Unter der schweren Glocke dieses Fiebers erholte sich Thirza und lernte nebenbei ein neues Wort: Embryo. Wieder zu Hause, lernte sie ein weiteres: Simulantin.
Die Preisverleihung findet am Sonntag, den 5. November um 11:30 Uhr, im Rahmen eines Matinee-Festaktes im Kleinen Haus des Braunschweiger Staatstheaters statt, wo die Autorin am Abend vorher aus ihrem ausgezeichneten Roman lesen wird (19:00 Uhr).
Der Wilhelm Raabe-Literaturpreis wird jährlich vergeben und würdigt einen aktuellen, zeitgenössischen Roman. Zu den bisherigen Preisträgern gehören Rainald Goetz, Jochen Missfeldt, Ralf Rothmann, Wolf Haas, Katja Lange-Müller, Andreas Maier, Sibylle Lewitscharoff, Christian Kracht, Marion Poschmann, Thomas Hettche, Clemens J. Setz und Heinz Strunk.
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Der mit 30.000 Euro dotierte Wilhelm Raabe-Literaturpreis, gestiftet von Deutschlandfunk und der Stadt Braunschweig, geht in diesem Jahr an Petra Morsbach für ihren Roman Justizpalast (erschienen 2017 im Albrecht Knaus Verlag). Die Autorin erzählt darin von Gerechtigkeit und jenen, die sie schaffen sollen. Ihre Hauptfigur mit dem sprechendem Namen Thirza Zorniger stammt aus einer desaströsen Schauspielerehe. Sie wird Richterin im Münchner Justizpalast, doch auch hier ist die Wirklichkeit anders als in der Theorie: Eine hochdifferenzierte Gerechtigkeitsmaschine muss das ganze Spektrum des Lebens verarbeiten, wobei sie sich gelegentlich verschluckt, und auch unter den Richtern geht es bisweilen zu wie in einer chaotischen Familie.
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„Petra Morsbach erzählt in ihrem Roman Justizpalast von Verbrechen und Strafe, Delinquenz und Gesetz. Sie tut es konkret und genau, indem sie Fallgeschichten aus der richterlichen Praxis aufblättert. Sie erzählt vom prekären Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit und davon, wie sich das normative Gefüge und die Individualität der Menschen im Justizwesen zueinander verhalten. Die Welt im Justizpalast ist die ganze Welt noch einmal. Von Hass und Begierde bis zu Nachsicht und Milde“, heißt es in der Begründung der Jury.
„Der Roman ist ein episodenreicher Lobgesang auf unsere regelgeleitete Selbstorganisation. Er weiß um die Gefahren des politischen und persönlichen Missbrauchs des Gesetzes, aber er zeigt das Recht auch als ein filigranes Meisterwerk. Um dessen Schönheit zu sehen braucht es die Literatur, namentlich den Justizpalast von Petra Morsbach.“
Die Großmutter erzählte später, ein Fahrgast habe das panische Kind bei ihnen abgeliefert; sie ihrerseits brachte es zu Tante Schossi und Tante Berti, die den oberen Stock des Häuschens bewohnten. Tante Schossi und Tante Berti waren Schwestern der Großmutter. Da der Großvater gegen Kindergeräusche empfindlich war, nahmen sie Thirza in ihre Obhut.
Thirza habe mit aufgerissenen Augen auf der Couch gesessen, während sie ihr heiße Milch mit Honig einflößten – es war ein dämmriger Herbstabend. Später nahm Tante Berti sie mit in ihr schmales Bett. Thirza spürte am Rücken den warmen, weichen Leib, weinte ein bisschen und schlief darüber ein. Als sie aufwachte, schien die Sonne durch die grauen Gardinen, es duftete nach Kaffee und Orangenschalen, die Tür stand offen, in der gemeinsamen Wohnstube sprachen die Tanten mit gedämpften Stimmen. Man hatte ermittelt. Der Opa kam langsam die knarzende Stiege hinauf. „Wusstest du nicht, dass man keine fremden Leute einlässt, wenn Mama und Papa nicht da sind?“ Thirza hatte es nicht wirklich gewusst, nur geahnt; ihre Augen füllten sich mit Tränen, gleichzeitig fühlte sie eine betäubende Hitze in sich aufsteigen und sank in die Kissen. „Aber siiiehste nicht Willi, se hat Fiiieber“, das war die volle, tiefe Stimme von Tante Berti, und Opa verschwand. Unter der schweren Glocke dieses Fiebers erholte sich Thirza und lernte nebenbei ein neues Wort: Embryo. Wieder zu Hause, lernte sie ein weiteres: Simulantin.
Die Preisverleihung findet am Sonntag, den 5. November um 11:30 Uhr, im Rahmen eines Matinee-Festaktes im Kleinen Haus des Braunschweiger Staatstheaters statt, wo die Autorin am Abend vorher aus ihrem ausgezeichneten Roman lesen wird (19:00 Uhr).
Der Wilhelm Raabe-Literaturpreis wird jährlich vergeben und würdigt einen aktuellen, zeitgenössischen Roman. Zu den bisherigen Preisträgern gehören Rainald Goetz, Jochen Missfeldt, Ralf Rothmann, Wolf Haas, Katja Lange-Müller, Andreas Maier, Sibylle Lewitscharoff, Christian Kracht, Marion Poschmann, Thomas Hettche, Clemens J. Setz und Heinz Strunk.