Die Münchener Literatur- und Arbeitsstipendien 2015 werden vergeben
Alle zwei Jahre vergibt die Stadt München sechs mit jeweils 6.000 Euro dotierte Stipendien für vielversprechende literarische Projekte von (Nachwuchs-)Autorinnen und Autoren sowie besonders anspruchsvolle Übersetzungsprojekte. Zusätzlich wird der Leonhard und Ida-Wolf-Gedächtnispreis für Autorinnen und Autoren unter 30 Jahren in Höhe von 3.000 Euro verliehen.
Mit den diesjährigen Literaturstipendien werden folgende Autorinnen und Autoren ausgezeichnet: Pierre Jarawan für sein Romanprojekt Am Ende bleiben die Zedern, Sophia Klink für ihr Romanprojekt Kakaoschichten menschlicher Unwissenheit, Markus Ostermair für sein Romanprojekt Der Sandler, Denijen Pauljevic für sein Romanprojekt Mimicria sowie Silke Kleemann für ihr Jugendbuchprojekt Manic Road Movie. Das Stipendium für Übersetzungsprojekte erhält Richard Barth für seine Übersetzung von John Eliot Gardiners Bach: Music in the Castle of Heaven. Der Leonhard und Ida Wolf-Gedächtnispreis geht an Jan Reinhardt für sein Prosaprojekt Elias und Elathyne.
Insgesamt gingen 137 Bewerbungen für die Literaturstipendien ein, davon 18 im Bereich Kinder-/Jugendbuch und neun Übersetzungsprojekte.
Jurybegründungen (Auszüge)
Pierre Jarawan: Am Ende bleiben die Zedern: "Es ist nicht vorrangig die brennende Aktualität des Themas, dem sich der deutschjordanische Schriftsteller Jarawan mit seiner Libanon-Odyssee verschrieben hat, die sein Romanprojekt so vielversprechend macht. Vielmehr überzeugt dieser Text vor allem durch seine literarische Dynamik und die erzählerische Wahrhaftigkeit, die aus dem Situativen, Vergänglichen überaus glaubhaft universale Leitlinien von Lebens- und Denkweisen freilegt. Jarawan schickt seinen jungen Protagonisten, den bestmöglich in der Bundesrepublik integrierten Libanesen Samir, auf eine abenteuerliche, windungsreiche Spurensuche in die Heimat seiner Eltern. Was als biographische Rekonstruktion beginnt, entwickelt sich rasch zu einem berührenden Ineinanderführen der Erinnerungskulturen, zugleich aber auch zu einem bedrückenden Panorama von Repression und Identitätsverlust."
Sophia Klink: Kakaoschichten menschlicher Unwissenheit: "Sophia Klinks Prosatext erzählt von drei Abiturienten, die von zwei Leidenschaften angetrieben werden: von einer wissenschaftlichen Neugier, die sie zu ausgefallenen Forschungsprojekten treibt, und von dem dringenden Bedürfnis, andere Menschen für die Schönheit und die Zerbrechlichkeit der Natur zu sensibilisieren. Marion, Andreas und Benjamin könnten unterschiedlicher nicht sein: Benjamin, rührend gewissenhaft, der für nichts anderes Augen hat als für seine Herbarien. Andreas, viel zu ungeduldig, der große Reden schwingt, aber nichts riskiert. Und Marion, die Ich-Erzählerin, für die die Autorin eine ganz eigene Sprache findet, sinnlich und doch präzise, den Ton einer klugen jungen Frau, in dem sie mit großer Sensibilität die wachsenden Beziehungen zwischen den Protagonisten schildert. So entsteht eine ungewöhnliche und eigenständige essayistische Prosa mit dem Mut zum Ungesagten, zum Unsagbaren und zum Abstrakten. Die Motivwelt aus der Biologie wird von der Autorin außergewöhnlich kundig eingesetzt und lenkt unseren Blick auf Zusammenhänge, die in der Regel unsichtbar für uns sind."
Markus Ostermair: Der Sandler: "Markus Ostermairs Romanprojekt ist eine Spurensuche mitten unter uns: Karl Maurer lebt sein obdachloses Dasein in München, immer geprägt von der Alkoholabhängigkeit. Ostermair nimmt uns mit auf die Spur seines Protagonisten, der neben den kleinen und großen Problemen eines Obdachlosen vor allem vor einer Weichenstellung in seinem Leben davontippelt: Er hat Schuld an dem Tod eines kleinen Jungen, verließ deshalb Frau und Kind, sein ganzes früheres Leben. Dieser Verlust zieht sich durch seinen Alltag, als diffuse Hoffnung, eines Tages wieder anknüpfen zu können. Und dann sorgt wieder der Tod für eine Wendung: Als ein obdachloser Freund stirbt, muss sich Karl Maurer entscheiden, ob er der Straße entfliehen und sich seinen Lebensthemen stellen will. Markus Ostermair gelingt es in seinem hervorragend recherchierten und sprachlich überzeugend gestalteten Romanprojekt, den Obdachlosen Karl für den Leser zu entanonymisieren."
Denijen Pauljevic: Mimicria: "Vor den Häschern der Armee getürmt, kommt der junge Ich-Erzähler aus Belgrad nach München. Er findet Unterkunft in einem Asylheim, in dem auch seine Cousine Branka mit ihrer kleinen Tochter lebt. Es ist eine Gesellschaft der Gestrandeten, unter denen er auch sinistre Koalitionen eingeht, um das Bleiberecht in Deutschland zu erlangen. Diese Geschichte, die einige Parallelen zur Biographie des Autors aufweist, hätte ein dunkles Rührstück mit eingebauten politischen Empörungsreflexen werden können. Stattdessen wird mit Denijen Pauljevic ein Autor ausgezeichnet, der sein Können vom Film nutzt, um uns in jeder Szene, in jedem Dialog mit einem ungewöhnlich frischen und unsentimentalen Erzählzugriff zu überraschen. Pauljevics Blick auf Menschen und Situationen ist genau, seine Darstellung beweglich und mit schnellem Strich gezeichnet. Groteske und Humor transportieren Schweres auf leichten Bahnen, eine Kunst, die man sich für den Zeitroman nur wünschen kann."
Silke Kleemann: Manic Road Movie (Jugendbuchprojekt): "Silke Kleemann erzählt in ihrem Buchprojekt Manic Road Movie auf überzeugende Weise die Selbstfindung des vierzehnjährigen Doug. Geschickt verwebt sie die Geschichte des Jungen mit der seines manisch-depressiven Vaters. Was als Besuch bei den Großeltern beginnt, endet für Doug in einem abenteuerlichen Trip nach Schottland, zu dem der Vater seinen Sohn in einer manischen Hochphase überredet hat: im wahrsten Sinne ein „Manic Road Movie“. Der flapsige Erzählton des Ich-Erzählers passt sich dem ironisch-distanzierten Blick Jugendlicher auf Familie und Umwelt an. Die Leser hören Doug beim – wie er es selber nennt – „in-sich-Erzählen“ zu. Mit sensiblem Gespür für ihre Charaktere setzt Silke Kleemann das Thema Coming-of-Age sprachlich und dramaturgisch gekonnt um."
Richard Barth: Übersetzung des Buches Bach: Music for the Castle of Heaven von John Eliot Gardiner: "Gardiners umfangreiches musikwissenschaftliches Werk, das dem Übersetzer Sachverständnis und terminologische Präzision wie auch stilistische Flexibilität abverlangt, analysiert die wichtigsten Werke Bachs mit einem Hauptaugenmerk auf der Vokalmusik. Als aktiver Chorsänger greift Richard Barth auch selbst zur Partitur, um die Ausführungen des Autors nachzuvollziehen. Argumentiert wird auf dem aktuellen Forschungsstand, doch durchaus subjektivinterpretierend und zwischen Fach- und Umgangssprache wechselnd. Dies wie auch die metaphernreiche Sprache meistert Barth bravourös und übermittelt so einen schwungvollen und kenntnisreichen Text. Besondere Erwähnung verdient die Geschmeidigkeit der Syntax. Erst dadurch, dass in der Übersetzung wieder alles seinen Platz findet, wirkt dieser dichte und vielschichtige Text bereichernd, bereitet seine Lektüre Vergnügen."
Jan Reinhardt: Elias und Elyathyne (Leonhard und Ida Wolf-Gedächtnispreis für Literatur): "Beeindruckend souverän erzählt der Autor von dem Jungen Elias, der im Rollstuhl sitzt und genau weiß, was er will, aber eingeengt wird von der Fürsorge der Erwachsenen. Entgegenzusetzen hat Elias dem nicht viel – ein wenig wirkungslosen Protest, ein bisschen Spott für die ungeliebte Therapeutin und seine Schwärmerei für Superheldencomics. Bis er das wundersame Mädchen Elathyne trifft. Auf unaufdringliche Weise erzählt Jan Reinhardt von der einschränkenden Vormundschaft des guten Willens und dem Recht eines jungen Menschen, er selbst zu sein – und von dem Willen, sich diese Freiheit zu nehmen. Das gelingt dem jungen Autor mit großer Stilsicherheit und ohne erzählerischen Rückzug ins Pathetische oder Floskelhafte. Der Text ist ironisch und zart an den richtigen Stellen, humorvoll, aber nie klamaukig, und besticht durch seinen erzählerischen Rhythmus. Ein Text, der zwischen Roadnovel, Liebesgeschichte und Coming-of-Age-Roman von genuin Menschlichem erzählt und jüngere wie ältere Leser gleichermaßen ansprechen dürfte."
Die Preisverleihung mit öffentlicher Lesung der Stipendiatinnen und Stipendiaten findet am 21. Oktober im Literaturhaus München statt.
Arbeitsstipendien für Münchner Autorinnen und Autoren
Seit diesem Jahr vergibt die Landeshauptstadt München zudem alljährlich zwei mit je 6.000 Euro dotierte Arbeitsstipendien für Münchner Autorinnen und Autoren, die sich mit ihrem Werk bereits literarisch ausgewiesen haben und im Literaturbetrieb in Erscheinung getreten sind. Insgesamt gingen für die Arbeitsstipendien 32 Bewerbungen ein. Ausgezeichnet werden Fabienne Pakleppa für ihr Romanprojekt Rosalie will es so und Sylvia Kabus für ihr Romanprojekt Die Haut.
Der Jury gehörten in diesem Jahr an: Gisela Fichtl (Lektorin, Journalistin), Günter Keil (Literaturjournalist), Dr. Franz Klug (Buchhandlung Lentner), Katrin Schuster (Literaturjournalistin), Antje Weber (Süddeutsche Zeitung) und Dr. Florian Welle (Literaturkritiker) sowie aus dem Stadtrat Beatrix Burkhardt (CSU), Marian Offman (CSU), Kathrin Abele (SPD), Klaus Peter Rupp (SPD) und Thomas Niederbühl (Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen / Rosa Liste).
Jurybegründungen
Fabienne Pakleppa: Rosalie will es so: "Fabienne Pakleppa erzählt in ihrem Romanprojekt von Menschen, die sich nicht kleinkriegen lassen. Sie erzählt von Auf- und Abbrüchen, von kleinen und großen Momenten und Begegnungen zwischen Ein- und Auswanderern. Dabei sind es keine rein fiktiven Figuren, die in ihrem Roman den Ton angeben, sondern Pakleppas eigene Vorfahren: Großmütter, Väter, Cousinen, Geschwister. Die persönliche Verbindung ist spürbar – mit ihrem unverstellten, direkten Ton schafft Pakleppa Nähe und Authentizität. Mit feinem Witz und süffiger Sprache spürt die Autorin über zwei Jahrhunderte hinweg ihren Ahnen nach, die sich munter durch die ganze Welt bewegen, nach Indien, Neuseeland, Deutschland und Russland. Raffiniert aus unterschiedlichen Perspektiven und auf verschiedenen Zeitebenen erzählt, ergibt sich ein abwechslungsreiches Bild von „Faulenzern, Abenteurern, Sklavenhändlern, Bauern, Handwerkern, Malern, Selbstmördern (…) und sonstigen Wahnsinnigen“, wie Pakleppa in ihrem Exposé schreibt. Der bunte Mix aus Miniatur-Porträts gibt dabei anschaulich Aufschlüsse über die jeweilige Zeit – zum Beispiel über den geringen Marktwert einer Frau mit zwei unehelichen Kindern im Boston des Jahres 1878. Zusammengefasst geht es in Rosalie will es so, wie Pakleppa in ihrem Exposé samt vielversprechenden Textauszügen deutlich macht, um Menschen auf der Suche nach einem Ort, an dem es sich leben lässt; um Menschen, die selbst angesichts widriger Umstände nicht verzweifeln. Der Mut dieser Figuren hat die Autorin zu einem lebensprallen Roman inspiriert, den die Jury und viele weitere Leser demnächst hoffentlich in Gänze lesen können."
Sylvia Kabus: Die Haut: "Wie lassen sich Gewalterfahrungen literarisch darstellen? Dies ist die Frage, die Sylvia Kabus in ihrem Romanprojekt Die Haut umtreibt. Ihr Text erzählt von einer Frau namens Manon, die sich in der Nach-Wendezeit in Ostdeutschland mit ihrem Partner Ari um ein stabiles Leben bemüht – und dafür einerseits die ständige Bewegung braucht und andererseits die Ruhe der Natur: In einem alten Hanomag fährt sie durch die Gegend, beliefert Kindereinrichtungen und hält zwischendurch immer wieder an, um in die Wälder einzutauchen: „Ohne Wald kein Raum“. Ein Auto-Unfall, bei dem sie dem Schriftsteller Paul wieder begegnet, beschwört bei Manon traumatische Erinnerungen herauf. Denn durch die Nachforschungen von Paul werden Manon und Ari mit ihrem früheren Leben konfrontiert: Manon und ihre Freundinnen waren in der DDR brutaler Gewalt und Verfolgung durch Väter und Lehrer ausgesetzt, Ari wurde mehrfach von der Polizei festgenommen. Für die Auswirkungen dieser Traumatisierungen versucht Kabus eine neue Sprache zu finden, ein „anderes Erzählen“. In ihren Romanauszügen spürt man den ambitionierten Formwillen in einer aufgerauten Sprache, in der die Sätze und Absätze manchmal abbrechen, wo Leerstellen bleiben und Gegensätze aufgebaut werden, die auf das prekäre Innenleben der Figur verweisen. Exposé und Manuskript machen neugierig darauf, wie die Autorin in der endgültigen Form ihrer intensiven „Gewalt-Pastelle“ die literarischen, psychologischen und historischen Aspekte ihres vielschichtigen Projekts bändigen wird."
Die Münchener Literatur- und Arbeitsstipendien 2015 werden vergeben>
Alle zwei Jahre vergibt die Stadt München sechs mit jeweils 6.000 Euro dotierte Stipendien für vielversprechende literarische Projekte von (Nachwuchs-)Autorinnen und Autoren sowie besonders anspruchsvolle Übersetzungsprojekte. Zusätzlich wird der Leonhard und Ida-Wolf-Gedächtnispreis für Autorinnen und Autoren unter 30 Jahren in Höhe von 3.000 Euro verliehen.
Mit den diesjährigen Literaturstipendien werden folgende Autorinnen und Autoren ausgezeichnet: Pierre Jarawan für sein Romanprojekt Am Ende bleiben die Zedern, Sophia Klink für ihr Romanprojekt Kakaoschichten menschlicher Unwissenheit, Markus Ostermair für sein Romanprojekt Der Sandler, Denijen Pauljevic für sein Romanprojekt Mimicria sowie Silke Kleemann für ihr Jugendbuchprojekt Manic Road Movie. Das Stipendium für Übersetzungsprojekte erhält Richard Barth für seine Übersetzung von John Eliot Gardiners Bach: Music in the Castle of Heaven. Der Leonhard und Ida Wolf-Gedächtnispreis geht an Jan Reinhardt für sein Prosaprojekt Elias und Elathyne.
Insgesamt gingen 137 Bewerbungen für die Literaturstipendien ein, davon 18 im Bereich Kinder-/Jugendbuch und neun Übersetzungsprojekte.
Jurybegründungen (Auszüge)
Pierre Jarawan: Am Ende bleiben die Zedern: "Es ist nicht vorrangig die brennende Aktualität des Themas, dem sich der deutschjordanische Schriftsteller Jarawan mit seiner Libanon-Odyssee verschrieben hat, die sein Romanprojekt so vielversprechend macht. Vielmehr überzeugt dieser Text vor allem durch seine literarische Dynamik und die erzählerische Wahrhaftigkeit, die aus dem Situativen, Vergänglichen überaus glaubhaft universale Leitlinien von Lebens- und Denkweisen freilegt. Jarawan schickt seinen jungen Protagonisten, den bestmöglich in der Bundesrepublik integrierten Libanesen Samir, auf eine abenteuerliche, windungsreiche Spurensuche in die Heimat seiner Eltern. Was als biographische Rekonstruktion beginnt, entwickelt sich rasch zu einem berührenden Ineinanderführen der Erinnerungskulturen, zugleich aber auch zu einem bedrückenden Panorama von Repression und Identitätsverlust."
Sophia Klink: Kakaoschichten menschlicher Unwissenheit: "Sophia Klinks Prosatext erzählt von drei Abiturienten, die von zwei Leidenschaften angetrieben werden: von einer wissenschaftlichen Neugier, die sie zu ausgefallenen Forschungsprojekten treibt, und von dem dringenden Bedürfnis, andere Menschen für die Schönheit und die Zerbrechlichkeit der Natur zu sensibilisieren. Marion, Andreas und Benjamin könnten unterschiedlicher nicht sein: Benjamin, rührend gewissenhaft, der für nichts anderes Augen hat als für seine Herbarien. Andreas, viel zu ungeduldig, der große Reden schwingt, aber nichts riskiert. Und Marion, die Ich-Erzählerin, für die die Autorin eine ganz eigene Sprache findet, sinnlich und doch präzise, den Ton einer klugen jungen Frau, in dem sie mit großer Sensibilität die wachsenden Beziehungen zwischen den Protagonisten schildert. So entsteht eine ungewöhnliche und eigenständige essayistische Prosa mit dem Mut zum Ungesagten, zum Unsagbaren und zum Abstrakten. Die Motivwelt aus der Biologie wird von der Autorin außergewöhnlich kundig eingesetzt und lenkt unseren Blick auf Zusammenhänge, die in der Regel unsichtbar für uns sind."
Markus Ostermair: Der Sandler: "Markus Ostermairs Romanprojekt ist eine Spurensuche mitten unter uns: Karl Maurer lebt sein obdachloses Dasein in München, immer geprägt von der Alkoholabhängigkeit. Ostermair nimmt uns mit auf die Spur seines Protagonisten, der neben den kleinen und großen Problemen eines Obdachlosen vor allem vor einer Weichenstellung in seinem Leben davontippelt: Er hat Schuld an dem Tod eines kleinen Jungen, verließ deshalb Frau und Kind, sein ganzes früheres Leben. Dieser Verlust zieht sich durch seinen Alltag, als diffuse Hoffnung, eines Tages wieder anknüpfen zu können. Und dann sorgt wieder der Tod für eine Wendung: Als ein obdachloser Freund stirbt, muss sich Karl Maurer entscheiden, ob er der Straße entfliehen und sich seinen Lebensthemen stellen will. Markus Ostermair gelingt es in seinem hervorragend recherchierten und sprachlich überzeugend gestalteten Romanprojekt, den Obdachlosen Karl für den Leser zu entanonymisieren."
Denijen Pauljevic: Mimicria: "Vor den Häschern der Armee getürmt, kommt der junge Ich-Erzähler aus Belgrad nach München. Er findet Unterkunft in einem Asylheim, in dem auch seine Cousine Branka mit ihrer kleinen Tochter lebt. Es ist eine Gesellschaft der Gestrandeten, unter denen er auch sinistre Koalitionen eingeht, um das Bleiberecht in Deutschland zu erlangen. Diese Geschichte, die einige Parallelen zur Biographie des Autors aufweist, hätte ein dunkles Rührstück mit eingebauten politischen Empörungsreflexen werden können. Stattdessen wird mit Denijen Pauljevic ein Autor ausgezeichnet, der sein Können vom Film nutzt, um uns in jeder Szene, in jedem Dialog mit einem ungewöhnlich frischen und unsentimentalen Erzählzugriff zu überraschen. Pauljevics Blick auf Menschen und Situationen ist genau, seine Darstellung beweglich und mit schnellem Strich gezeichnet. Groteske und Humor transportieren Schweres auf leichten Bahnen, eine Kunst, die man sich für den Zeitroman nur wünschen kann."
Silke Kleemann: Manic Road Movie (Jugendbuchprojekt): "Silke Kleemann erzählt in ihrem Buchprojekt Manic Road Movie auf überzeugende Weise die Selbstfindung des vierzehnjährigen Doug. Geschickt verwebt sie die Geschichte des Jungen mit der seines manisch-depressiven Vaters. Was als Besuch bei den Großeltern beginnt, endet für Doug in einem abenteuerlichen Trip nach Schottland, zu dem der Vater seinen Sohn in einer manischen Hochphase überredet hat: im wahrsten Sinne ein „Manic Road Movie“. Der flapsige Erzählton des Ich-Erzählers passt sich dem ironisch-distanzierten Blick Jugendlicher auf Familie und Umwelt an. Die Leser hören Doug beim – wie er es selber nennt – „in-sich-Erzählen“ zu. Mit sensiblem Gespür für ihre Charaktere setzt Silke Kleemann das Thema Coming-of-Age sprachlich und dramaturgisch gekonnt um."
Richard Barth: Übersetzung des Buches Bach: Music for the Castle of Heaven von John Eliot Gardiner: "Gardiners umfangreiches musikwissenschaftliches Werk, das dem Übersetzer Sachverständnis und terminologische Präzision wie auch stilistische Flexibilität abverlangt, analysiert die wichtigsten Werke Bachs mit einem Hauptaugenmerk auf der Vokalmusik. Als aktiver Chorsänger greift Richard Barth auch selbst zur Partitur, um die Ausführungen des Autors nachzuvollziehen. Argumentiert wird auf dem aktuellen Forschungsstand, doch durchaus subjektivinterpretierend und zwischen Fach- und Umgangssprache wechselnd. Dies wie auch die metaphernreiche Sprache meistert Barth bravourös und übermittelt so einen schwungvollen und kenntnisreichen Text. Besondere Erwähnung verdient die Geschmeidigkeit der Syntax. Erst dadurch, dass in der Übersetzung wieder alles seinen Platz findet, wirkt dieser dichte und vielschichtige Text bereichernd, bereitet seine Lektüre Vergnügen."
Jan Reinhardt: Elias und Elyathyne (Leonhard und Ida Wolf-Gedächtnispreis für Literatur): "Beeindruckend souverän erzählt der Autor von dem Jungen Elias, der im Rollstuhl sitzt und genau weiß, was er will, aber eingeengt wird von der Fürsorge der Erwachsenen. Entgegenzusetzen hat Elias dem nicht viel – ein wenig wirkungslosen Protest, ein bisschen Spott für die ungeliebte Therapeutin und seine Schwärmerei für Superheldencomics. Bis er das wundersame Mädchen Elathyne trifft. Auf unaufdringliche Weise erzählt Jan Reinhardt von der einschränkenden Vormundschaft des guten Willens und dem Recht eines jungen Menschen, er selbst zu sein – und von dem Willen, sich diese Freiheit zu nehmen. Das gelingt dem jungen Autor mit großer Stilsicherheit und ohne erzählerischen Rückzug ins Pathetische oder Floskelhafte. Der Text ist ironisch und zart an den richtigen Stellen, humorvoll, aber nie klamaukig, und besticht durch seinen erzählerischen Rhythmus. Ein Text, der zwischen Roadnovel, Liebesgeschichte und Coming-of-Age-Roman von genuin Menschlichem erzählt und jüngere wie ältere Leser gleichermaßen ansprechen dürfte."
Die Preisverleihung mit öffentlicher Lesung der Stipendiatinnen und Stipendiaten findet am 21. Oktober im Literaturhaus München statt.
Arbeitsstipendien für Münchner Autorinnen und Autoren
Seit diesem Jahr vergibt die Landeshauptstadt München zudem alljährlich zwei mit je 6.000 Euro dotierte Arbeitsstipendien für Münchner Autorinnen und Autoren, die sich mit ihrem Werk bereits literarisch ausgewiesen haben und im Literaturbetrieb in Erscheinung getreten sind. Insgesamt gingen für die Arbeitsstipendien 32 Bewerbungen ein. Ausgezeichnet werden Fabienne Pakleppa für ihr Romanprojekt Rosalie will es so und Sylvia Kabus für ihr Romanprojekt Die Haut.
Der Jury gehörten in diesem Jahr an: Gisela Fichtl (Lektorin, Journalistin), Günter Keil (Literaturjournalist), Dr. Franz Klug (Buchhandlung Lentner), Katrin Schuster (Literaturjournalistin), Antje Weber (Süddeutsche Zeitung) und Dr. Florian Welle (Literaturkritiker) sowie aus dem Stadtrat Beatrix Burkhardt (CSU), Marian Offman (CSU), Kathrin Abele (SPD), Klaus Peter Rupp (SPD) und Thomas Niederbühl (Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen / Rosa Liste).
Jurybegründungen
Fabienne Pakleppa: Rosalie will es so: "Fabienne Pakleppa erzählt in ihrem Romanprojekt von Menschen, die sich nicht kleinkriegen lassen. Sie erzählt von Auf- und Abbrüchen, von kleinen und großen Momenten und Begegnungen zwischen Ein- und Auswanderern. Dabei sind es keine rein fiktiven Figuren, die in ihrem Roman den Ton angeben, sondern Pakleppas eigene Vorfahren: Großmütter, Väter, Cousinen, Geschwister. Die persönliche Verbindung ist spürbar – mit ihrem unverstellten, direkten Ton schafft Pakleppa Nähe und Authentizität. Mit feinem Witz und süffiger Sprache spürt die Autorin über zwei Jahrhunderte hinweg ihren Ahnen nach, die sich munter durch die ganze Welt bewegen, nach Indien, Neuseeland, Deutschland und Russland. Raffiniert aus unterschiedlichen Perspektiven und auf verschiedenen Zeitebenen erzählt, ergibt sich ein abwechslungsreiches Bild von „Faulenzern, Abenteurern, Sklavenhändlern, Bauern, Handwerkern, Malern, Selbstmördern (…) und sonstigen Wahnsinnigen“, wie Pakleppa in ihrem Exposé schreibt. Der bunte Mix aus Miniatur-Porträts gibt dabei anschaulich Aufschlüsse über die jeweilige Zeit – zum Beispiel über den geringen Marktwert einer Frau mit zwei unehelichen Kindern im Boston des Jahres 1878. Zusammengefasst geht es in Rosalie will es so, wie Pakleppa in ihrem Exposé samt vielversprechenden Textauszügen deutlich macht, um Menschen auf der Suche nach einem Ort, an dem es sich leben lässt; um Menschen, die selbst angesichts widriger Umstände nicht verzweifeln. Der Mut dieser Figuren hat die Autorin zu einem lebensprallen Roman inspiriert, den die Jury und viele weitere Leser demnächst hoffentlich in Gänze lesen können."
Sylvia Kabus: Die Haut: "Wie lassen sich Gewalterfahrungen literarisch darstellen? Dies ist die Frage, die Sylvia Kabus in ihrem Romanprojekt Die Haut umtreibt. Ihr Text erzählt von einer Frau namens Manon, die sich in der Nach-Wendezeit in Ostdeutschland mit ihrem Partner Ari um ein stabiles Leben bemüht – und dafür einerseits die ständige Bewegung braucht und andererseits die Ruhe der Natur: In einem alten Hanomag fährt sie durch die Gegend, beliefert Kindereinrichtungen und hält zwischendurch immer wieder an, um in die Wälder einzutauchen: „Ohne Wald kein Raum“. Ein Auto-Unfall, bei dem sie dem Schriftsteller Paul wieder begegnet, beschwört bei Manon traumatische Erinnerungen herauf. Denn durch die Nachforschungen von Paul werden Manon und Ari mit ihrem früheren Leben konfrontiert: Manon und ihre Freundinnen waren in der DDR brutaler Gewalt und Verfolgung durch Väter und Lehrer ausgesetzt, Ari wurde mehrfach von der Polizei festgenommen. Für die Auswirkungen dieser Traumatisierungen versucht Kabus eine neue Sprache zu finden, ein „anderes Erzählen“. In ihren Romanauszügen spürt man den ambitionierten Formwillen in einer aufgerauten Sprache, in der die Sätze und Absätze manchmal abbrechen, wo Leerstellen bleiben und Gegensätze aufgebaut werden, die auf das prekäre Innenleben der Figur verweisen. Exposé und Manuskript machen neugierig darauf, wie die Autorin in der endgültigen Form ihrer intensiven „Gewalt-Pastelle“ die literarischen, psychologischen und historischen Aspekte ihres vielschichtigen Projekts bändigen wird."