Mori Ogai
Mori Ôgai (im Japanischen folgt der persönliche Name dem Familiennamen) wird als Mori Rintarô am 17. Februar 1862 in Tsuwano, einer kleinen Burgstadt im Südwesten der japanischen Hauptinsel Honshû geboren. Sein Vater ist in 13. Generation erblicher Arzt des Clan Kamei, der Fürstenfamilie des kleinen Feudallehens in der altjapanischen Provinz Iwami. Er wurde deswegen nach japanischer Sitte in die Familie seiner Frau adoptiert.
Rintarôs Kindheit deckt sich mit den größten Umbrüchen der japanischen Geschichte. Die seit 1600 von Edo aus regierende Militärregierung der Tokugawa-Shogune wird beendet, der Kaiser, unterstützt von Clans aus dem Südwesten Japans, übernimmt wieder die Regierung und verlegt seine Hauptstadt vom alten Sitz Kyôto nach Edo, das in Tôkyô umbenannt wird. Die folgenden rund 40 Jahre sind von einem oft überstürzten tiefgreifenden Umbau der japanischen Gesellschaft geprägt, der von der Angst geprägt ist, dass Japan ansonsten das Schicksal der Kolonialisierung durch die europäischen Mächte drohen könnte.
Mori Rintarô, der als ältester Sohn der Familie von Geburt an für den Arztberuf ausersehen ist, erhält noch eine klassische Ausbildung. Er besucht die örtliche neo-konfuzianische Akademie, wo er u.a. klassisches Chinesisch lernt; andererseits erhält er im Privatunterricht erste Unterweisungen in der niederländischen Sprache und in den „Rangaku“ – einem Oberbegriff für europäisches Wissen, das in Japan trotz der Abschottung stets rezipiert worden ist.
Als die Fürstenstaaten Japans aufgelöst werden, zieht Rintarô 1872 mit seinem Vater wie tausende andere in die Hauptstadt Tôkyô. Hier kommt er im Haushalt eines entfernten Verwandten, des Philosophen und Staatsmannes Nishi Amane (1829-1897) unter. Dieser, einer der ersten Japaner, der in Europa studiert hat, ist zu dieser Zeit einer der führenden Intellektuellen Japans. Neben dem Niederländischen beginnt Rintarô nun auch Deutsch zu lernen. Daneben setzt er sein Studium des klassischen Chinesisch fort. Erste literarische Arbeiten entstehen, darunter chinesische und japanische Gedichte.
1874 wird der zwölfjährige Rintarô an die Medizinhochschule von Tôkyô (heute medizinische Fakultät der Universität Tôkyô) zugelassen. Das Medizinstudium, bei dem er vor allem deutsche Lehrer hat, beendet er 1881 als jüngster Absolvent Japans.
Da er nicht zu den Besten seines Jahrganges gehört, tritt er 1881 der japanischen Armee bei, um ein Stipendium zum Studium in Deutschland zu erhalten. Als Militärarzt wird er 1884-1888 nach Deutschland geschickt, um Hygiene und Heeressanitätswesen zu studieren. Die Jahre in Deutschland werden zu den prägendsten und wohl auch glücklichsten im Leben Mori Rintarôs. Neben umfangreichen Studien in Berlin bei Robert Koch, Leipzig und München bei Max von Pettenkofer absolviert er ein umfangreiches Leseprogramm in antiker, europäischer und deutscher Literatur, besucht Theater- und Musikveranstaltungen, lernt zusätzlich Englisch und Spanisch. Insbesondere Rintarôs Aufenthalt in München (1886-87), bei dem er sich der Oberaufsicht und Kontrolle der japanischen Botschaft am weitgehendsten entziehen kann, beeindruckt ihn. Er führt in diesem Jahr ein recht freies Studentenleben und kommt über seine Freundschaft zum Künstler Harada Naojiro (1863-1899) auch in Kontakt mit den Malern und Studenten der Akademie der Künste in München.
Bereits in Deutschland wird Rintarô schriftstellerisch tätig, als er Repliken auf einen abwertenden Artikel zu Japan des Geologen Edmund Naumann (1854-1927) veröffentlicht. Die auf Deutsch verfassten, selbstbewussten Texte erregen sowohl in Deutschland als auch in Japan Aufsehen.
*
Ebenfalls in Deutschland beginnt Mori Rintarô ab 1886, vor allem für literarische Texte ein Pseudonym zu verwenden, zunächst das nach chinesischer Art konstruierte Ôgai Gyoshi, was in etwa „Fischer draußen bei den Möwen“ heißt. Im Kontext sind die „Möwen“ dabei als Chiffre für Europa bzw. die europäische Kunst und Literatur zu verstehen. In einer späteren Phase ab 1910 verkürzt er diesen Künstlernamen auf Ôgai („Möwenfern“), den er wie einen Vornamen führt – Mori Ôgai.
Wohl während des zweiten Berlinaufenthalts Rintarôs fällt eine Liebesaffäre mit der Deutschen Elise Weigert, der er vermutlich die Ehe verspricht. Direkt nach seiner Rückkehr aus Deutschland 1888 folgt ihm Weigert nach Japan, wo er auf Druck der Familie und seiner Vorgesetzten die Beziehung beenden muss. Stattdessen muss Mori 1889 eine von der Familie und Nishi Amane arrangierte Ehe mit Akamatsu Toshiko (1871-1900), der Tochter eines Vizeadmirals, eingehen. Nach der Geburt des gemeinsamen Sohnes Otto (1890-1967) wird die Ehe nach nur einem Jahr wieder geschieden – ein Skandal, der zum Bruch zwischen Mori Rintarô und seinem Förderer führt.
Zu diesem Zeitpunkt erfüllt er bereits wieder seinen Dienst als Sanitätsarzt in der japanischen Armee. Er dient in unterschiedlichen Positionen im Japanisch-Chinesischen Krieg (1894-1895), danach auf der nun von Japan besetzten Insel Taiwan. 1899 wird er zum Leiter des Medizinischen Korps der Armee ernannt, allerdings gleichzeitig in die auf der südwestlichen Insel Kyûshû gelegenen Stadt Kokura (heute Stadtteil von Kita Kyûshû) verlegt, was er als Strafversetzung empfindet. Erst 1902 kehrt er nach Tôkyô zurück. Nach dem Russisch-Japanischen Krieg (1904-1905) wird er 1907 als Generalarzt höchster Mediziner der japanischen Armee.
Parallel zu dieser militärischen Karriere entfaltet Mori Rintarô eine kaum fassbare literarisch-intellektuelle Karriere. Er gibt literarische Zeitschriften heraus, leitet literarische Zirkel und veröffentlicht neben zahlreichen Übersetzungen Gedichte und Geschichten. Insbesondere seine frühen drei „deutschen“ Erzählungen, die auf eigenen Erfahrungen in Berlin (Maihime, dt. Das Ballettmädchen, 1890, eine verfremdete Verarbeitung seiner Beziehung zu Elise Weigert), Leipzig (Fumizukai, dt. Der Bote, 1891) und München (Utakata no ki, dt. Wellenschaum, 1890) beruhen, machen ihn in Japan bekannt. Es sind die ersten literarischen Werke eines japanischen Autors, die in Ich-Form gehalten sind und auf Erfahrungen und Gefühlen des Autors basieren. Auch die sprachliche Form, die alle Möglichkeiten der Vermischung der verschiedenen japanischen Alphabete ausnützt und virtuos mit Lehnwörtern aus europäischen Sprachen spielt, ist für das damalige Japan neu.
Die Münchner Erzählung Wellenschaum ist darüber hinaus wohl die früheste literarische Verarbeitung des Todes König Ludwig II. von Bayern. So etabliert sich Mori Rintarô in den 1890er-Jahren zu einem der führenden Schriftsteller Japans. Ab ca. 1894 kommt es allerdings immer wieder zu Konflikten zwischen den beiden Seiten seiner Persönlichkeit: einerseits Mori Rintarô, dem hochrangigen Militärarzt, andererseits Mori Ôgai, dem Autor. Der Druck durch seine offiziellen Aufgaben führt bis ca. 1908 zeitweise zu einem Erliegen nahezu aller literarischen Arbeiten.
**
1902 heiratet Mori Rintarô ein weiteres Mal, diesmal gegen den Willen der Familie die Richterstochter Araki Shige (1880-1936). Diesem Bund entspringen die Kinder Marie (1903-1987), Anne (1909-1998) und Louis (1911-1991). Ein weiterer Sohn, Fritz, stirbt 1907 bereits nach wenigen Monaten.
Ab 1908 wird er wieder vermehrt als Schriftsteller und Übersetzer tätig, wobei er sich auch vor Konflikten mit seinen staatlichen Arbeitgebern nicht scheut. Exemplarisch zeigt sich dieser Konflikt in der Erzählung Vita Sexualis von 1909. Die für heutige Verhältnisse kaum erotisch anmutende Erzählung, die wie so oft bei Rintarô stark autobiographische Züge zeigt, ist einerseits als Parodie auf den Realismus bekannter japanischer Autoren wie Natsume Sôseki (1867-1916) gedacht, andererseits gezielt als Herausforderung der damals immer strenger werdenden Zensur Japans konstruiert. Obwohl im Text alles Geschlechtliche nur angedeutet ist, wird der Text umgehend als Pornographie verboten, Rintarô selbst wird zurechtgewiesen. Erst Jahrzehnte nach seinem Tod findet der Text Aufnahme in die Gesamtausgabe seiner Werke. Den Höhepunkt seines Prosaschaffens bildet jedoch der Kurzroman Gan (Die Wildgans, 1911-1913), in dem es um eine typische unerfüllte Liebe geht.
Wie viele intellektuelle Japaner ist auch Mori Rintarô tief getroffen, als anlässlich der Beerdigung des Meiji-Kaisers 1912 der japanische General Nogi Maresuke (1849-1912) – Kriegsheld des Russisch-Japanischen Krieges – mit seiner Frau den traditionellen Selbstmord begeht. Dieser Akt, der dem japanischem Verständnis der alten Shogunatszeit entspringt, wird als Fanal verstanden, sich nicht zu sehr verwestlichen zu lassen. Rintarô verarbeitet den Selbstmord des Generals auf seine Weise, in dem er zum einen seine Übersetzertätigkeit moderner europäischer Literatur noch einmal verstärkt, zum anderen vermehrt Ereignisse der japanischen Geschichte literarisch verarbeitet. Zu den im Westen bekannten Beispielen gehört etwa die Erzählung Abe Ichizoku (Der Untergang des Hauses Abe, 1913). Da sich Rintarô als Autor und Erzähler zurücknimmt, bleibt die Intention dieser Werke auf den ersten Blick unklar; sie lassen sich sowohl nationalistisch als auch kritisch interpretieren.
Mori Rintarôs lange gehegter Wunsch, sich seinen Pflichten als Teil der japanischen Militärelite entziehen zu können, erfüllt sich nicht. Seinem 1915 eingereichten Abschied von der Armee wird zwar 1916 stattgegeben; 1917 wird er aber gegen seinen Willen zum Generaldirektor der kaiserlichen Museen und Bibliothek (Zushoryo) ernannt. Von 1919 an amtiert er als Direktor der japanischen Akademie der Künste. Literarisch prägen neben Übersetzungen vor allem historische Biografien sein Schaffen dieser Jahre. In ihnen bricht sich nicht nur eine für das damalige Japan unerhörte Postmodernität Bahn, da der Autor teilweise auf lineares Erzählen verzichtet und den Prozess der Reflexion direkt literarisch in die Texte einbaut – wegen ihrer Komplexität entziehen sie sich auch weitgehend allen Übersetzungsversuchen.
Mori Rintarô, der erst im letzten Lebensjahr selbst einen Arzt aufsucht, stirbt am 9. Juli 1922 an Nierenschrumpfung und Tuberkulose. In seinem Testament untersagt er alle Ehrungen durch Staat und Militär, um nun endlich keinen Anspruch mehr auf ihn erheben lassen zu können. Aber auch die Identität als Ôgai (seit 1913 benutzt er selbst diesen Namen nicht mehr) gibt er auf. Auch wenn er seit 1872 nie wieder dort gewesen ist, will er als „Mori Rintarô aus Iwami“ sterben. Sein tatsächliches Grab findet er 1933 im Tempel Zenrin-ji in Mitaka, westlich von Tôkyô.
In Japan erinnern an Mori Rintarô drei Gedenkstätten in Tôkyô (an der Stelle seines im Zweiten Weltkrieg endgültig untergegangenen Wohnhauses), Kitakyûshû (Nachbau des ehemaligen Wohnhauses in Kokura) sowie in Tsuwano (noch erhaltenes Geburtshaus, mit symbolischer Grabstätte). Sein Nachlass („Ôgai Bunko“) wird in der Bibliothek der Universität Tôkyô aufbewahrt. Von besonderer Bedeutung ist seine erhalten gebliebene Privatbibliothek mit über 18.000 Bänden einschließlich Anmerkungen und Glossen.
In Deutschland pflegt vor allem die 1984 noch in der DDR gegründete Mori-Ôgai-Gedenkstätte in dessen Berliner Wohnung die Erinnerung an den Dichter. In den sächsischen Orten Leipzig (Auerbachs Keller), Machern, Mutzschen sowie im Garten des zerstörten Schlosses Döben in Grimma erinnern Denkmäler und Tafeln an ihn. In Bayern und München findet man dagegen nichts mehr, was auf Mori Rintarô alias Mori Ôgai hinweisen würde.
***
Ôgais Bedeutung für die moderne japanische Literatur ist kaum zu bemessen, obwohl sich in der Folgezeit nur wenige japanische Autoren auf ihn berufen: Hier sind vor allem der im Westen bekannte Autor Mishima Yukio (1925-1970) sowie Matsumoto Seichô (1909-1992) zu nennen. Sein Einfluss erstreckt sich dabei auf drei Bereiche:
- Als (Mit-)Herausgeber zahlreicher Literaturzeitschriften und Gastgeber von literarischen Zirkeln entdeckt und fördert Ôgai Lyriker und Schriftsteller nahezu aller damaligen Stilrichtungen, so etwa im Bereich moderner japanischer wie auch traditioneller sino-japanischer Lyrik. Neben Autoren, die im Westen weitgehend unbekannt sind, gehört dazu etwa Yosano Akiko (1878-1942), eine der wichtigsten japanischen Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts.
- Im Verlauf seines Lebens überträgt er mehr als 100 Werke der europäischen Literatur aus dem Deutschen in die japanische Sprache, darunter Theaterstücke, Gedichte und Prosawerke, u.a. von Pedro Calderón de la Barca, Carl von Clausewitz, Paul Heyse, Gerhart Hauptmann, E.T.A. Hoffmann, Gotthold Ephraim Lessing, Henrik Ibsen, Friedrich von Schiller, Arthur Schnitzler, William Shakespeare, August Strindberg, Frank Wedekind oder Jakob Wassermann. Er ermöglicht damit den jungen Intellektuellen seiner Generation einen Zugang zur aktuellen Literatur und Lyrik des Westens. Insbesondere seine Übertragungen von Hans Christian Andersens Improvisatoren (1902) und beider Teile von Johann Wolfgang von Goethes Faust (1913) gelten in Japan bis heute als eigenständige literarische Meisterleistungen. Durch seine Übersetzungen hat er zudem die japanische Schriftsprache seiner Zeit nachhaltig beeinflusst und um Neuschöpfungen, wie Umwidmungen japanischer Ausdrücke, erweitert.
- Ôgais eigene Werke umfassen neben heute weitgehend überholten medizinischen Abhandlungen (darunter auch eine über den Nährgehalt von Bier) Essays, Tagebücher, traditionelle und moderne japanische Lyrik sowie zahlreiche Kurzgeschichten und Novellen. Aufgrund seiner zahlreichen traditionellen chinesischen Gedichte gilt Ôgai auch als einer der letzten japanischen Meister dieses Genres.
Sekundärliteratur:
Fujii, Masato (21990): Adlerflug. Der junge Ôgai in Deutschland. Privatdruck bei Ikubundo Tôkyô.
Ivanova, Galina Dimitrievna (2014): Mori Ôgai. Aus dem Russischen übersetzt von Peter Raff (OAG Taschenbuch, 99). Iudicium-Verlag, München.
Kracht, Klaus (Hg) (2014): „Ôgai“ – Mori Rintarô. Begegnungen mit dem japanischen homme de lettres. Harrassowitz Verlag, Wiesbaden.
Rimer, J. Thomas (1975): Mori Ôgai. Twayne Publishers, Boston.
Schamoni, Wolfgang (1987): Mori Ôgai. Vom Münchener Medizinstudenten zum klassischen Autor der modernen japanischen Literatur. Ausstellung 28. Oktober bis 5. Dezember 1987. (Ausstellungskataloge der Bayerischen Staatsbibliothek, 41). Selbstverlag der Bayerischen Staatsbibliothek, München.
Externe Links:
Literatur von Mori Ôgai im BVB
Literatur über Mori Ôgai im BVB
Ôgai Bunko – Nachlass in der Bibliothek der Universität Tôkyô (jap., mit Digitalisaten)
Mori Ôgai (im Japanischen folgt der persönliche Name dem Familiennamen) wird als Mori Rintarô am 17. Februar 1862 in Tsuwano, einer kleinen Burgstadt im Südwesten der japanischen Hauptinsel Honshû geboren. Sein Vater ist in 13. Generation erblicher Arzt des Clan Kamei, der Fürstenfamilie des kleinen Feudallehens in der altjapanischen Provinz Iwami. Er wurde deswegen nach japanischer Sitte in die Familie seiner Frau adoptiert.
Rintarôs Kindheit deckt sich mit den größten Umbrüchen der japanischen Geschichte. Die seit 1600 von Edo aus regierende Militärregierung der Tokugawa-Shogune wird beendet, der Kaiser, unterstützt von Clans aus dem Südwesten Japans, übernimmt wieder die Regierung und verlegt seine Hauptstadt vom alten Sitz Kyôto nach Edo, das in Tôkyô umbenannt wird. Die folgenden rund 40 Jahre sind von einem oft überstürzten tiefgreifenden Umbau der japanischen Gesellschaft geprägt, der von der Angst geprägt ist, dass Japan ansonsten das Schicksal der Kolonialisierung durch die europäischen Mächte drohen könnte.
Mori Rintarô, der als ältester Sohn der Familie von Geburt an für den Arztberuf ausersehen ist, erhält noch eine klassische Ausbildung. Er besucht die örtliche neo-konfuzianische Akademie, wo er u.a. klassisches Chinesisch lernt; andererseits erhält er im Privatunterricht erste Unterweisungen in der niederländischen Sprache und in den „Rangaku“ – einem Oberbegriff für europäisches Wissen, das in Japan trotz der Abschottung stets rezipiert worden ist.
Als die Fürstenstaaten Japans aufgelöst werden, zieht Rintarô 1872 mit seinem Vater wie tausende andere in die Hauptstadt Tôkyô. Hier kommt er im Haushalt eines entfernten Verwandten, des Philosophen und Staatsmannes Nishi Amane (1829-1897) unter. Dieser, einer der ersten Japaner, der in Europa studiert hat, ist zu dieser Zeit einer der führenden Intellektuellen Japans. Neben dem Niederländischen beginnt Rintarô nun auch Deutsch zu lernen. Daneben setzt er sein Studium des klassischen Chinesisch fort. Erste literarische Arbeiten entstehen, darunter chinesische und japanische Gedichte.
1874 wird der zwölfjährige Rintarô an die Medizinhochschule von Tôkyô (heute medizinische Fakultät der Universität Tôkyô) zugelassen. Das Medizinstudium, bei dem er vor allem deutsche Lehrer hat, beendet er 1881 als jüngster Absolvent Japans.
Da er nicht zu den Besten seines Jahrganges gehört, tritt er 1881 der japanischen Armee bei, um ein Stipendium zum Studium in Deutschland zu erhalten. Als Militärarzt wird er 1884-1888 nach Deutschland geschickt, um Hygiene und Heeressanitätswesen zu studieren. Die Jahre in Deutschland werden zu den prägendsten und wohl auch glücklichsten im Leben Mori Rintarôs. Neben umfangreichen Studien in Berlin bei Robert Koch, Leipzig und München bei Max von Pettenkofer absolviert er ein umfangreiches Leseprogramm in antiker, europäischer und deutscher Literatur, besucht Theater- und Musikveranstaltungen, lernt zusätzlich Englisch und Spanisch. Insbesondere Rintarôs Aufenthalt in München (1886-87), bei dem er sich der Oberaufsicht und Kontrolle der japanischen Botschaft am weitgehendsten entziehen kann, beeindruckt ihn. Er führt in diesem Jahr ein recht freies Studentenleben und kommt über seine Freundschaft zum Künstler Harada Naojiro (1863-1899) auch in Kontakt mit den Malern und Studenten der Akademie der Künste in München.
Bereits in Deutschland wird Rintarô schriftstellerisch tätig, als er Repliken auf einen abwertenden Artikel zu Japan des Geologen Edmund Naumann (1854-1927) veröffentlicht. Die auf Deutsch verfassten, selbstbewussten Texte erregen sowohl in Deutschland als auch in Japan Aufsehen.
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Ebenfalls in Deutschland beginnt Mori Rintarô ab 1886, vor allem für literarische Texte ein Pseudonym zu verwenden, zunächst das nach chinesischer Art konstruierte Ôgai Gyoshi, was in etwa „Fischer draußen bei den Möwen“ heißt. Im Kontext sind die „Möwen“ dabei als Chiffre für Europa bzw. die europäische Kunst und Literatur zu verstehen. In einer späteren Phase ab 1910 verkürzt er diesen Künstlernamen auf Ôgai („Möwenfern“), den er wie einen Vornamen führt – Mori Ôgai.
Wohl während des zweiten Berlinaufenthalts Rintarôs fällt eine Liebesaffäre mit der Deutschen Elise Weigert, der er vermutlich die Ehe verspricht. Direkt nach seiner Rückkehr aus Deutschland 1888 folgt ihm Weigert nach Japan, wo er auf Druck der Familie und seiner Vorgesetzten die Beziehung beenden muss. Stattdessen muss Mori 1889 eine von der Familie und Nishi Amane arrangierte Ehe mit Akamatsu Toshiko (1871-1900), der Tochter eines Vizeadmirals, eingehen. Nach der Geburt des gemeinsamen Sohnes Otto (1890-1967) wird die Ehe nach nur einem Jahr wieder geschieden – ein Skandal, der zum Bruch zwischen Mori Rintarô und seinem Förderer führt.
Zu diesem Zeitpunkt erfüllt er bereits wieder seinen Dienst als Sanitätsarzt in der japanischen Armee. Er dient in unterschiedlichen Positionen im Japanisch-Chinesischen Krieg (1894-1895), danach auf der nun von Japan besetzten Insel Taiwan. 1899 wird er zum Leiter des Medizinischen Korps der Armee ernannt, allerdings gleichzeitig in die auf der südwestlichen Insel Kyûshû gelegenen Stadt Kokura (heute Stadtteil von Kita Kyûshû) verlegt, was er als Strafversetzung empfindet. Erst 1902 kehrt er nach Tôkyô zurück. Nach dem Russisch-Japanischen Krieg (1904-1905) wird er 1907 als Generalarzt höchster Mediziner der japanischen Armee.
Parallel zu dieser militärischen Karriere entfaltet Mori Rintarô eine kaum fassbare literarisch-intellektuelle Karriere. Er gibt literarische Zeitschriften heraus, leitet literarische Zirkel und veröffentlicht neben zahlreichen Übersetzungen Gedichte und Geschichten. Insbesondere seine frühen drei „deutschen“ Erzählungen, die auf eigenen Erfahrungen in Berlin (Maihime, dt. Das Ballettmädchen, 1890, eine verfremdete Verarbeitung seiner Beziehung zu Elise Weigert), Leipzig (Fumizukai, dt. Der Bote, 1891) und München (Utakata no ki, dt. Wellenschaum, 1890) beruhen, machen ihn in Japan bekannt. Es sind die ersten literarischen Werke eines japanischen Autors, die in Ich-Form gehalten sind und auf Erfahrungen und Gefühlen des Autors basieren. Auch die sprachliche Form, die alle Möglichkeiten der Vermischung der verschiedenen japanischen Alphabete ausnützt und virtuos mit Lehnwörtern aus europäischen Sprachen spielt, ist für das damalige Japan neu.
Die Münchner Erzählung Wellenschaum ist darüber hinaus wohl die früheste literarische Verarbeitung des Todes König Ludwig II. von Bayern. So etabliert sich Mori Rintarô in den 1890er-Jahren zu einem der führenden Schriftsteller Japans. Ab ca. 1894 kommt es allerdings immer wieder zu Konflikten zwischen den beiden Seiten seiner Persönlichkeit: einerseits Mori Rintarô, dem hochrangigen Militärarzt, andererseits Mori Ôgai, dem Autor. Der Druck durch seine offiziellen Aufgaben führt bis ca. 1908 zeitweise zu einem Erliegen nahezu aller literarischen Arbeiten.
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1902 heiratet Mori Rintarô ein weiteres Mal, diesmal gegen den Willen der Familie die Richterstochter Araki Shige (1880-1936). Diesem Bund entspringen die Kinder Marie (1903-1987), Anne (1909-1998) und Louis (1911-1991). Ein weiterer Sohn, Fritz, stirbt 1907 bereits nach wenigen Monaten.
Ab 1908 wird er wieder vermehrt als Schriftsteller und Übersetzer tätig, wobei er sich auch vor Konflikten mit seinen staatlichen Arbeitgebern nicht scheut. Exemplarisch zeigt sich dieser Konflikt in der Erzählung Vita Sexualis von 1909. Die für heutige Verhältnisse kaum erotisch anmutende Erzählung, die wie so oft bei Rintarô stark autobiographische Züge zeigt, ist einerseits als Parodie auf den Realismus bekannter japanischer Autoren wie Natsume Sôseki (1867-1916) gedacht, andererseits gezielt als Herausforderung der damals immer strenger werdenden Zensur Japans konstruiert. Obwohl im Text alles Geschlechtliche nur angedeutet ist, wird der Text umgehend als Pornographie verboten, Rintarô selbst wird zurechtgewiesen. Erst Jahrzehnte nach seinem Tod findet der Text Aufnahme in die Gesamtausgabe seiner Werke. Den Höhepunkt seines Prosaschaffens bildet jedoch der Kurzroman Gan (Die Wildgans, 1911-1913), in dem es um eine typische unerfüllte Liebe geht.
Wie viele intellektuelle Japaner ist auch Mori Rintarô tief getroffen, als anlässlich der Beerdigung des Meiji-Kaisers 1912 der japanische General Nogi Maresuke (1849-1912) – Kriegsheld des Russisch-Japanischen Krieges – mit seiner Frau den traditionellen Selbstmord begeht. Dieser Akt, der dem japanischem Verständnis der alten Shogunatszeit entspringt, wird als Fanal verstanden, sich nicht zu sehr verwestlichen zu lassen. Rintarô verarbeitet den Selbstmord des Generals auf seine Weise, in dem er zum einen seine Übersetzertätigkeit moderner europäischer Literatur noch einmal verstärkt, zum anderen vermehrt Ereignisse der japanischen Geschichte literarisch verarbeitet. Zu den im Westen bekannten Beispielen gehört etwa die Erzählung Abe Ichizoku (Der Untergang des Hauses Abe, 1913). Da sich Rintarô als Autor und Erzähler zurücknimmt, bleibt die Intention dieser Werke auf den ersten Blick unklar; sie lassen sich sowohl nationalistisch als auch kritisch interpretieren.
Mori Rintarôs lange gehegter Wunsch, sich seinen Pflichten als Teil der japanischen Militärelite entziehen zu können, erfüllt sich nicht. Seinem 1915 eingereichten Abschied von der Armee wird zwar 1916 stattgegeben; 1917 wird er aber gegen seinen Willen zum Generaldirektor der kaiserlichen Museen und Bibliothek (Zushoryo) ernannt. Von 1919 an amtiert er als Direktor der japanischen Akademie der Künste. Literarisch prägen neben Übersetzungen vor allem historische Biografien sein Schaffen dieser Jahre. In ihnen bricht sich nicht nur eine für das damalige Japan unerhörte Postmodernität Bahn, da der Autor teilweise auf lineares Erzählen verzichtet und den Prozess der Reflexion direkt literarisch in die Texte einbaut – wegen ihrer Komplexität entziehen sie sich auch weitgehend allen Übersetzungsversuchen.
Mori Rintarô, der erst im letzten Lebensjahr selbst einen Arzt aufsucht, stirbt am 9. Juli 1922 an Nierenschrumpfung und Tuberkulose. In seinem Testament untersagt er alle Ehrungen durch Staat und Militär, um nun endlich keinen Anspruch mehr auf ihn erheben lassen zu können. Aber auch die Identität als Ôgai (seit 1913 benutzt er selbst diesen Namen nicht mehr) gibt er auf. Auch wenn er seit 1872 nie wieder dort gewesen ist, will er als „Mori Rintarô aus Iwami“ sterben. Sein tatsächliches Grab findet er 1933 im Tempel Zenrin-ji in Mitaka, westlich von Tôkyô.
In Japan erinnern an Mori Rintarô drei Gedenkstätten in Tôkyô (an der Stelle seines im Zweiten Weltkrieg endgültig untergegangenen Wohnhauses), Kitakyûshû (Nachbau des ehemaligen Wohnhauses in Kokura) sowie in Tsuwano (noch erhaltenes Geburtshaus, mit symbolischer Grabstätte). Sein Nachlass („Ôgai Bunko“) wird in der Bibliothek der Universität Tôkyô aufbewahrt. Von besonderer Bedeutung ist seine erhalten gebliebene Privatbibliothek mit über 18.000 Bänden einschließlich Anmerkungen und Glossen.
In Deutschland pflegt vor allem die 1984 noch in der DDR gegründete Mori-Ôgai-Gedenkstätte in dessen Berliner Wohnung die Erinnerung an den Dichter. In den sächsischen Orten Leipzig (Auerbachs Keller), Machern, Mutzschen sowie im Garten des zerstörten Schlosses Döben in Grimma erinnern Denkmäler und Tafeln an ihn. In Bayern und München findet man dagegen nichts mehr, was auf Mori Rintarô alias Mori Ôgai hinweisen würde.
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Ôgais Bedeutung für die moderne japanische Literatur ist kaum zu bemessen, obwohl sich in der Folgezeit nur wenige japanische Autoren auf ihn berufen: Hier sind vor allem der im Westen bekannte Autor Mishima Yukio (1925-1970) sowie Matsumoto Seichô (1909-1992) zu nennen. Sein Einfluss erstreckt sich dabei auf drei Bereiche:
- Als (Mit-)Herausgeber zahlreicher Literaturzeitschriften und Gastgeber von literarischen Zirkeln entdeckt und fördert Ôgai Lyriker und Schriftsteller nahezu aller damaligen Stilrichtungen, so etwa im Bereich moderner japanischer wie auch traditioneller sino-japanischer Lyrik. Neben Autoren, die im Westen weitgehend unbekannt sind, gehört dazu etwa Yosano Akiko (1878-1942), eine der wichtigsten japanischen Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts.
- Im Verlauf seines Lebens überträgt er mehr als 100 Werke der europäischen Literatur aus dem Deutschen in die japanische Sprache, darunter Theaterstücke, Gedichte und Prosawerke, u.a. von Pedro Calderón de la Barca, Carl von Clausewitz, Paul Heyse, Gerhart Hauptmann, E.T.A. Hoffmann, Gotthold Ephraim Lessing, Henrik Ibsen, Friedrich von Schiller, Arthur Schnitzler, William Shakespeare, August Strindberg, Frank Wedekind oder Jakob Wassermann. Er ermöglicht damit den jungen Intellektuellen seiner Generation einen Zugang zur aktuellen Literatur und Lyrik des Westens. Insbesondere seine Übertragungen von Hans Christian Andersens Improvisatoren (1902) und beider Teile von Johann Wolfgang von Goethes Faust (1913) gelten in Japan bis heute als eigenständige literarische Meisterleistungen. Durch seine Übersetzungen hat er zudem die japanische Schriftsprache seiner Zeit nachhaltig beeinflusst und um Neuschöpfungen, wie Umwidmungen japanischer Ausdrücke, erweitert.
- Ôgais eigene Werke umfassen neben heute weitgehend überholten medizinischen Abhandlungen (darunter auch eine über den Nährgehalt von Bier) Essays, Tagebücher, traditionelle und moderne japanische Lyrik sowie zahlreiche Kurzgeschichten und Novellen. Aufgrund seiner zahlreichen traditionellen chinesischen Gedichte gilt Ôgai auch als einer der letzten japanischen Meister dieses Genres.
Fujii, Masato (21990): Adlerflug. Der junge Ôgai in Deutschland. Privatdruck bei Ikubundo Tôkyô.
Ivanova, Galina Dimitrievna (2014): Mori Ôgai. Aus dem Russischen übersetzt von Peter Raff (OAG Taschenbuch, 99). Iudicium-Verlag, München.
Kracht, Klaus (Hg) (2014): „Ôgai“ – Mori Rintarô. Begegnungen mit dem japanischen homme de lettres. Harrassowitz Verlag, Wiesbaden.
Rimer, J. Thomas (1975): Mori Ôgai. Twayne Publishers, Boston.
Schamoni, Wolfgang (1987): Mori Ôgai. Vom Münchener Medizinstudenten zum klassischen Autor der modernen japanischen Literatur. Ausstellung 28. Oktober bis 5. Dezember 1987. (Ausstellungskataloge der Bayerischen Staatsbibliothek, 41). Selbstverlag der Bayerischen Staatsbibliothek, München.