Filippo Dionisio Balatri
Filippo Balatri stammt aus einer gutbürgerlichen Pisaner Familie. Nachdem bei einer Weihnachtsmotette sein schöner Knabensopran auffällt, wird er von einem Wundarzt in Lucca kastriert, wohl auf Befehl des Großherzogs der Toskana, Cosimo II. de'Medici, in dessen Diensten er fortan steht. In den 1690er-Jahren überantwortet man ihn dem russischen Fürsten Pjotr Alexejewitsch Golizyn, einem Gesandten von Zar Peter dem Großen, der den Halbwüchsigen nach Moskau mitnimmt. Im engsten Kreis des Zaren verbringt er hier einige verwirrende Jahre, unterbrochen durch eine abenteuerliche Reise zum Khan der Kalmücken an der unteren Wolga, den er ebenso wie die Moskowiter mit italienischem Belcanto verzaubert. 1701 verlässt er Russland und kehrt über Wien in seine Heimat zurück. 1713 macht er sich erneut auf den Weg und reist nach Frankreich, England und schließlich nach Deutschland. Im Oktober 1715 wird er mit großzügiger Gage in der kurfürstlichen Hofkapelle in München angestellt. 1716 debütiert er hier auf der Opernbühne, gleichzeitig wird er Musiklehrer der kurfürstlichen Familie. Abgesehen von einigen Abstechern nach Italien bleibt er in München sesshaft, bis er 1739 als Mönch in das Zisterzienserkloster Fürstenfeld eintritt, wo er 1756 stirbt.
Filippo Balatri hat vier literarische Werke in italienischer Sprache hinterlassen, die alle in München und Fürstenfeld entstanden sind und zu Lebzeiten nicht veröffentlicht wurden: Zwei Fassungen seiner Memoiren – das neunbändige Manuskript Vita e Viaggi di F.B., nativo di Pisa (Leben und Reisen von F.B., gebürtig aus Pisa), das heute in der Moskauer Staatsbibliothek liegt, und das zweibändige, gereimte Manuskript Frutti del Mondo, esperimentati da F.B., nativo dell'Alfea in Toscana (Früchte der Welt, gekostet von F.B., gebürtig aus Alfea in der Toskana) in der Bayerischen Staatsbibliothek –, außerdem die Parodie eines Testaments als burleske Lebensabrechnung (Testamento o sia ultima volontà di F.B., native Alfeo, ebenfalls in der Bayerischen Staatsbibliothek) sowie das tragikomische geistliche Schauspiel Santa Margherita da Cortona in Toscana, heute in der Biblioteca del Comune Cortona. Eine Teilausgabe von Frutti del Mondo und Testamento erschien 1924 im Druck (Palermo, Hg. Karl Vossler), eine Gesamtausgabe von Santa Margherita 1982 (Cortona, Hg. Divo Falossi und Maria Angela Mazzei), die Gesamtausgabe von Vita e Viaggi schließlich im Jahr 2020 (Alessandria, Hg. Maria Di Salvo, mit ausführlicher Einleitung und Kommentar).
Balatri ist der einzige Kastratensänger, dessen Lebenserinnerungen überliefert sind, und einer der originellsten Autobiographen des 18. Jahrhunderts. In selbstironischer und oft sehr komischer Weise schildert er die Wege und Irrwege eines Künstlers am Rande der Gesellschaft, der den Sonderbarkeiten der Welt von Astrachan bis nach Bayern unbefangen und mit freiem Blick begegnet. Die detailreichen Schilderungen seines Lebens an der Seite Peters dem Großen sind eine wichtige Quelle zur russischen Alltagsgeschichte des späten 17. Jahrhunderts. In seiner Wahlheimat München katalogisiert er mit ethnographischem Interesse viel Unangenehmes (Aberglaube, Starrsinn, Fresssucht, Bigotterie und die Tatsache, dass man Henker gerne zum Abendessen einlädt), aber: „Hier verbrachte ich die glücklichsten Jahre meines Lebens“.
Sekundärliteratur:
Di Salvo, M. (2017): Moskau und das Moskauer Reich in den Memoiren des italienischen Sängers Filippo Balatri. In: Musik am russischen Hof vor, während und nach Peter dem Großen. Hg. v. L. Erren, Berlin, S. 75-84.
Feldman, M. (2009): The Castrato's Tale. In: Italy's Eighteenth Century. Gender and Culture in the Age of the Grand Tour. Ed. by P. Findlen et al., Stanford, S. 175-202.
Sadgorski, D. (2012): Eccomi dunque in tutto fortunato. Filippo Balatri als Sänger am Hofe Max Emanuels. In: Das Musikleben am Hof von Kurfürst Max Emanuel. Hg. v. S. Hörner und S. Werr, Tutzing.
Schlafly, D. (1997): Filippo Balatri in Peter the Great's Russia. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 45, S. 181-198.
Unser, S. (2009): Der Kastrat und seine Männlichkeit. Gesangskastraten im 17. und 18. Jahrhundert. Hamburg.
Wunnicke, C. (2001): Die Nachtigall des Zaren. Das Leben des Kastraten Filippo Balatri. München.
Externe Links:
Literatur von Filippo Dionisio Balatri im BVB
Literatur über Filippo Dionisio Balatri im BVB
Autoreneintrag im Bayerischen Musikerlexikon online (BMLO)
Manuskript Frutti del Mondo in der Bayerischen Staatsbibliothek
Filippo Balatri stammt aus einer gutbürgerlichen Pisaner Familie. Nachdem bei einer Weihnachtsmotette sein schöner Knabensopran auffällt, wird er von einem Wundarzt in Lucca kastriert, wohl auf Befehl des Großherzogs der Toskana, Cosimo II. de'Medici, in dessen Diensten er fortan steht. In den 1690er-Jahren überantwortet man ihn dem russischen Fürsten Pjotr Alexejewitsch Golizyn, einem Gesandten von Zar Peter dem Großen, der den Halbwüchsigen nach Moskau mitnimmt. Im engsten Kreis des Zaren verbringt er hier einige verwirrende Jahre, unterbrochen durch eine abenteuerliche Reise zum Khan der Kalmücken an der unteren Wolga, den er ebenso wie die Moskowiter mit italienischem Belcanto verzaubert. 1701 verlässt er Russland und kehrt über Wien in seine Heimat zurück. 1713 macht er sich erneut auf den Weg und reist nach Frankreich, England und schließlich nach Deutschland. Im Oktober 1715 wird er mit großzügiger Gage in der kurfürstlichen Hofkapelle in München angestellt. 1716 debütiert er hier auf der Opernbühne, gleichzeitig wird er Musiklehrer der kurfürstlichen Familie. Abgesehen von einigen Abstechern nach Italien bleibt er in München sesshaft, bis er 1739 als Mönch in das Zisterzienserkloster Fürstenfeld eintritt, wo er 1756 stirbt.
Filippo Balatri hat vier literarische Werke in italienischer Sprache hinterlassen, die alle in München und Fürstenfeld entstanden sind und zu Lebzeiten nicht veröffentlicht wurden: Zwei Fassungen seiner Memoiren – das neunbändige Manuskript Vita e Viaggi di F.B., nativo di Pisa (Leben und Reisen von F.B., gebürtig aus Pisa), das heute in der Moskauer Staatsbibliothek liegt, und das zweibändige, gereimte Manuskript Frutti del Mondo, esperimentati da F.B., nativo dell'Alfea in Toscana (Früchte der Welt, gekostet von F.B., gebürtig aus Alfea in der Toskana) in der Bayerischen Staatsbibliothek –, außerdem die Parodie eines Testaments als burleske Lebensabrechnung (Testamento o sia ultima volontà di F.B., native Alfeo, ebenfalls in der Bayerischen Staatsbibliothek) sowie das tragikomische geistliche Schauspiel Santa Margherita da Cortona in Toscana, heute in der Biblioteca del Comune Cortona. Eine Teilausgabe von Frutti del Mondo und Testamento erschien 1924 im Druck (Palermo, Hg. Karl Vossler), eine Gesamtausgabe von Santa Margherita 1982 (Cortona, Hg. Divo Falossi und Maria Angela Mazzei), die Gesamtausgabe von Vita e Viaggi schließlich im Jahr 2020 (Alessandria, Hg. Maria Di Salvo, mit ausführlicher Einleitung und Kommentar).
Balatri ist der einzige Kastratensänger, dessen Lebenserinnerungen überliefert sind, und einer der originellsten Autobiographen des 18. Jahrhunderts. In selbstironischer und oft sehr komischer Weise schildert er die Wege und Irrwege eines Künstlers am Rande der Gesellschaft, der den Sonderbarkeiten der Welt von Astrachan bis nach Bayern unbefangen und mit freiem Blick begegnet. Die detailreichen Schilderungen seines Lebens an der Seite Peters dem Großen sind eine wichtige Quelle zur russischen Alltagsgeschichte des späten 17. Jahrhunderts. In seiner Wahlheimat München katalogisiert er mit ethnographischem Interesse viel Unangenehmes (Aberglaube, Starrsinn, Fresssucht, Bigotterie und die Tatsache, dass man Henker gerne zum Abendessen einlädt), aber: „Hier verbrachte ich die glücklichsten Jahre meines Lebens“.
Di Salvo, M. (2017): Moskau und das Moskauer Reich in den Memoiren des italienischen Sängers Filippo Balatri. In: Musik am russischen Hof vor, während und nach Peter dem Großen. Hg. v. L. Erren, Berlin, S. 75-84.
Feldman, M. (2009): The Castrato's Tale. In: Italy's Eighteenth Century. Gender and Culture in the Age of the Grand Tour. Ed. by P. Findlen et al., Stanford, S. 175-202.
Sadgorski, D. (2012): Eccomi dunque in tutto fortunato. Filippo Balatri als Sänger am Hofe Max Emanuels. In: Das Musikleben am Hof von Kurfürst Max Emanuel. Hg. v. S. Hörner und S. Werr, Tutzing.
Schlafly, D. (1997): Filippo Balatri in Peter the Great's Russia. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 45, S. 181-198.
Unser, S. (2009): Der Kastrat und seine Männlichkeit. Gesangskastraten im 17. und 18. Jahrhundert. Hamburg.
Wunnicke, C. (2001): Die Nachtigall des Zaren. Das Leben des Kastraten Filippo Balatri. München.