Carl Amery
Carl Amery passt in keine der gängigen Schubladen, und gerade das macht ihn zu einer markanten Persönlichkeit der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Die Palette seines Könnens ist vielfältig. Die Beschreibungen seiner Person reichen von phantasievoller Erzähler, brillanter Stilist, scharfzüngiger Essayist oder kämpferischer Intellektueller bis zu „Homo politicus“: kritischer Katholik, aufklärerischer Moralist, verschmitzter Provokateur, engagierter Radikalökologe und hellsichtiger Realutopist. Ein Citoyen im besten Sinne des Wortes. Einer, der nicht einfach nur geschehen läßt, sondern der leidenschaftlich gern wissen, ersinnen und erahnen will, „wie das alles gemeint war“. Einer, der sich einmischt und aktiv mitgestaltet, als Romancier, Hörspielautor, Essayist, Kulturkritiker und nicht zuletzt als „grüner Philosoph“.
Geboren wird Christian Mayer, wie Carl Amery eigentlich heißt, am 9. April 1922 in München im Stadtteil Au. Er wächst in den Bischofsstädten Freising und Passau auf.
Nach dem Abitur 1940 beginnt er an der Universität München ein Studium der Neueren Philologie, wird aber bereits ein Jahr später zum Militärdienst einberufen. Seine Arbeit für die Kirche und die katholische Jugend während des Krieges prädestiniert ihn dazu, die Rolle der katholischen Amtskirche in der Bundesrepublik Deutschland durch die Jahrzehnte hindurch kritisch zu begleiten. Bereits 1963 bringt er eine auflagenstarke Kampfschrift namens Die Kapitulation oder Deutscher Katholizismus heute heraus, einen Angriff auf den miefigen Mehrheits- und Milieukatholizismus der Adenauerzeit. 1972 erscheint Das Ende der Vorsehung. Die gnadenlosen Folgen des Christentums, was seine Rolle als Vorausdenker der politisch aufsässigen Christen weiter zementiert.
Carl Amerys erste literarische Versuche reichen bis in die späten 1930er Jahre zurück. Das Ende des Nationalsozialismus, die Erfahrungen des Krieges und die Gefangenschaft verarbeitet er in dramatischen Szenen, Gedichten und Texten. Mitte der 1950er Jahre lernt er den Schriftsteller Hans Werner Richter kennen, der ihn zur Gruppe 47 einlädt. 1957 liest Carl Amery dort erstmals aus der Erstfassung seines Romans Die große deutsche Tour.
In den späteren Romanen, Essays und Hörspielen denkt Carl Amery häufig die Geschichte um. Wie hätte es sonst noch sein können? Wie wäre es, wenn der Verlierer gewonnen hätte? Nicht umsonst wird er mit seinen Romanen Das Königsprojekt (1974), Der Untergang der Stadt Passau (1975) und An den Feuern der Leyermark (1979) zum originellsten deutschen Science-Fiction-Autor. In seinem letzten Geschichts- und Zukunftsroman Das Geheimnis der Krypta (1990) schildert Amery die Welt der historischen Niederlagen, der versäumten Optionen.
Sein dichterisches Hauptwerk ist der große Roman Die Wallfahrer (1986), der vier Geschichten von der Indienstnahme der Religion vom 17. Jahrhundert bis heute erzählt. Rund um den berühmten altbayerischen Wallfahrtsort Tuntenhausen verflechten sich die Epochen, geraten die Entwicklungsstränge bajuwarischer Frömmigkeit und Politik, Ideologie und Lebensart durcheinander. Mit seinen grundlegenden Schriften zu religiös-politischen und ökologischen Fragen liefert Carl Amery bahnbrechend wichtige Denkanstöße. In dem Essay Natur als Politik. Die ökologische Chance des Menschen entwickelt er 1976 den Grundriss des „ökologischen Materialismus“.
Mit seiner Zivilisationskritik, die auf immensem historischen Wissen basiert, bringt Carl Amery bittere Wahrheiten ans Licht und landet dabei immer wieder bei den drängenden Fragen der Gegenwart. Er ist ein scharfer Diagnostiker, der westliches Wohlstandsdenken genau unter die Lupe nimmt, und ein geistreicher Apokalyptiker, der auf die Einsicht der Menschen hofft.
Carl Amery findet immer wieder Zeit, sich praktischen Aufgaben zu widmen. So leitet er ab 1967 vier Jahre lang die städtischen Bibliotheken Münchens, ist Mitbegründer der Bayerischen Grünen, 1976/77 Vorsitzender des Verbandes Deutscher Schriftsteller und von 1989 bis 1991 Präsident des bundesdeutschen PEN-Zentrums.
Neben zahlreichen anderen Auszeichnungen erhält er 1991 als Erster den neu geschaffenen Literaturpreis der Stadt München. Sein literarischer Nachlass wird in der Monacensia bewahrt, bereits zu Lebzeiten hatte er dem literarischen Gedächtnis der Stadt wertvolle Dokumente seines Schaffens und Lebens anvertraut.
Sekundärliteratur:
Baron, Bernhard M. (2018): Carl Amery und Tirschenreuth. Eine familiäre Spurensuche. In: Heimat-Landkreis Tirschenreuth, Bd. 30, S. 139-145.
Glaser, Hermann (Hg.) (1980): Bundesrepublikanisches Lesebuch. Drei Jahrzehnte geistiger Auseinandersetzung. S. Fischer, Frankfurt am Main, S. 407, 411, 434 u. 512.
Kiermeier-Debre, Joseph (1996): Carl Amery – „... ahnen, wie das alles gemeint war“. Ausstellung eines Werkes (Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung der Münchner Stadtbibliothek Am Gasteig und der Monacensia Gasteig, München, 22. Februar bis 19. April 1996). Paul List Verlag, München u.a.
Moser, Dietz-Rüdiger (Hg.) (1997): Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1945. Bd. 1. München, S. 32-34.
Nöhbauer, Hans F. (Hg.) (1979): Das große bayerische Geschichtenbuch. München/Zürich, S. 381-388.
Richter, Hans Werner (Hg.) (1962/1964): Almanach der Gruppe 47. 1947-1962. Rowohlt, Reinbeck b. Hamburg, S. 248-254, 450 u. 462.
Tworek, Elisabeth (2004): Carl Amery (9.4.1922 – 24.5.2005). Streitbarer Schriftsteller mit Visionen. In: Schweiggert, Alfons; Macher, Hannes S. (Hg.): Autoren und Autorinnen in Bayern. 20. Jahrhundert. Bayerland Verlag, Dachau, S. 240-242.
Externe Links:
Literatur von Carl Amery in der BVB
Carl Amery passt in keine der gängigen Schubladen, und gerade das macht ihn zu einer markanten Persönlichkeit der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Die Palette seines Könnens ist vielfältig. Die Beschreibungen seiner Person reichen von phantasievoller Erzähler, brillanter Stilist, scharfzüngiger Essayist oder kämpferischer Intellektueller bis zu „Homo politicus“: kritischer Katholik, aufklärerischer Moralist, verschmitzter Provokateur, engagierter Radikalökologe und hellsichtiger Realutopist. Ein Citoyen im besten Sinne des Wortes. Einer, der nicht einfach nur geschehen läßt, sondern der leidenschaftlich gern wissen, ersinnen und erahnen will, „wie das alles gemeint war“. Einer, der sich einmischt und aktiv mitgestaltet, als Romancier, Hörspielautor, Essayist, Kulturkritiker und nicht zuletzt als „grüner Philosoph“.
Geboren wird Christian Mayer, wie Carl Amery eigentlich heißt, am 9. April 1922 in München im Stadtteil Au. Er wächst in den Bischofsstädten Freising und Passau auf.
Nach dem Abitur 1940 beginnt er an der Universität München ein Studium der Neueren Philologie, wird aber bereits ein Jahr später zum Militärdienst einberufen. Seine Arbeit für die Kirche und die katholische Jugend während des Krieges prädestiniert ihn dazu, die Rolle der katholischen Amtskirche in der Bundesrepublik Deutschland durch die Jahrzehnte hindurch kritisch zu begleiten. Bereits 1963 bringt er eine auflagenstarke Kampfschrift namens Die Kapitulation oder Deutscher Katholizismus heute heraus, einen Angriff auf den miefigen Mehrheits- und Milieukatholizismus der Adenauerzeit. 1972 erscheint Das Ende der Vorsehung. Die gnadenlosen Folgen des Christentums, was seine Rolle als Vorausdenker der politisch aufsässigen Christen weiter zementiert.
Carl Amerys erste literarische Versuche reichen bis in die späten 1930er Jahre zurück. Das Ende des Nationalsozialismus, die Erfahrungen des Krieges und die Gefangenschaft verarbeitet er in dramatischen Szenen, Gedichten und Texten. Mitte der 1950er Jahre lernt er den Schriftsteller Hans Werner Richter kennen, der ihn zur Gruppe 47 einlädt. 1957 liest Carl Amery dort erstmals aus der Erstfassung seines Romans Die große deutsche Tour.
In den späteren Romanen, Essays und Hörspielen denkt Carl Amery häufig die Geschichte um. Wie hätte es sonst noch sein können? Wie wäre es, wenn der Verlierer gewonnen hätte? Nicht umsonst wird er mit seinen Romanen Das Königsprojekt (1974), Der Untergang der Stadt Passau (1975) und An den Feuern der Leyermark (1979) zum originellsten deutschen Science-Fiction-Autor. In seinem letzten Geschichts- und Zukunftsroman Das Geheimnis der Krypta (1990) schildert Amery die Welt der historischen Niederlagen, der versäumten Optionen.
Sein dichterisches Hauptwerk ist der große Roman Die Wallfahrer (1986), der vier Geschichten von der Indienstnahme der Religion vom 17. Jahrhundert bis heute erzählt. Rund um den berühmten altbayerischen Wallfahrtsort Tuntenhausen verflechten sich die Epochen, geraten die Entwicklungsstränge bajuwarischer Frömmigkeit und Politik, Ideologie und Lebensart durcheinander. Mit seinen grundlegenden Schriften zu religiös-politischen und ökologischen Fragen liefert Carl Amery bahnbrechend wichtige Denkanstöße. In dem Essay Natur als Politik. Die ökologische Chance des Menschen entwickelt er 1976 den Grundriss des „ökologischen Materialismus“.
Mit seiner Zivilisationskritik, die auf immensem historischen Wissen basiert, bringt Carl Amery bittere Wahrheiten ans Licht und landet dabei immer wieder bei den drängenden Fragen der Gegenwart. Er ist ein scharfer Diagnostiker, der westliches Wohlstandsdenken genau unter die Lupe nimmt, und ein geistreicher Apokalyptiker, der auf die Einsicht der Menschen hofft.
Carl Amery findet immer wieder Zeit, sich praktischen Aufgaben zu widmen. So leitet er ab 1967 vier Jahre lang die städtischen Bibliotheken Münchens, ist Mitbegründer der Bayerischen Grünen, 1976/77 Vorsitzender des Verbandes Deutscher Schriftsteller und von 1989 bis 1991 Präsident des bundesdeutschen PEN-Zentrums.
Neben zahlreichen anderen Auszeichnungen erhält er 1991 als Erster den neu geschaffenen Literaturpreis der Stadt München. Sein literarischer Nachlass wird in der Monacensia bewahrt, bereits zu Lebzeiten hatte er dem literarischen Gedächtnis der Stadt wertvolle Dokumente seines Schaffens und Lebens anvertraut.
Baron, Bernhard M. (2018): Carl Amery und Tirschenreuth. Eine familiäre Spurensuche. In: Heimat-Landkreis Tirschenreuth, Bd. 30, S. 139-145.
Glaser, Hermann (Hg.) (1980): Bundesrepublikanisches Lesebuch. Drei Jahrzehnte geistiger Auseinandersetzung. S. Fischer, Frankfurt am Main, S. 407, 411, 434 u. 512.
Kiermeier-Debre, Joseph (1996): Carl Amery – „... ahnen, wie das alles gemeint war“. Ausstellung eines Werkes (Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung der Münchner Stadtbibliothek Am Gasteig und der Monacensia Gasteig, München, 22. Februar bis 19. April 1996). Paul List Verlag, München u.a.
Moser, Dietz-Rüdiger (Hg.) (1997): Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1945. Bd. 1. München, S. 32-34.
Nöhbauer, Hans F. (Hg.) (1979): Das große bayerische Geschichtenbuch. München/Zürich, S. 381-388.
Richter, Hans Werner (Hg.) (1962/1964): Almanach der Gruppe 47. 1947-1962. Rowohlt, Reinbeck b. Hamburg, S. 248-254, 450 u. 462.
Tworek, Elisabeth (2004): Carl Amery (9.4.1922 – 24.5.2005). Streitbarer Schriftsteller mit Visionen. In: Schweiggert, Alfons; Macher, Hannes S. (Hg.): Autoren und Autorinnen in Bayern. 20. Jahrhundert. Bayerland Verlag, Dachau, S. 240-242.