Alfred Lichtenstein
Alfred Lichtenstein wird als ältester Sohn des jüdischen Textilfabrikanten David Lichtenstein und seiner Frau Franziska, geborene Merzbach, in Wilmersdorf bei Berlin geboren. Nach der Reife am Luisenstädtischen Gymnasium 1909 studiert er Jurisprudenz in Berlin und Erlangen, wo er zuletzt im Januar 1914 mit der Dissertation Die rechtswidrige öffentliche Aufführung von Bühnenwerken promoviert wird. In München tritt er 1913 als Einjährig-Freiwilliger in das 2. bayerische Infanterieregiment Kronprinz ein, das am 8. August 1914 nach Frankreich zum Kriegseinsatz an die Front zieht.
Während seiner Studienzeit im Café des Westens verfasst Alfred Lichtenstein zunächst sentimentale Lyrik, danach von Frank Wedekind beeinflusste „Kabarettlyrik“. Durch Jakob van Hoddis' berühmtes Gedicht Weltende (1911) gelangt er zum expressionistischen „Reihungsstil“. Zu seinem Freundeskreis zählen Schriftsteller, Journalisten und Verleger, u.a. Peter Scher (Zs. Simplicissimus), Herwarth Walden (Zs. Der Sturm), Alfred Kerr (Zs. Pan), Franz Pfemfert (Zs. Die Aktion) und Kurt Pinthus (Gedichtanthologie Menschheitsdämmerung).
Sein lyrisches Werk kann grob in fünf Gruppen eingeteilt werden, von denen die ersten drei auf eine Selbstkritik Lichtensteins in der Zeitschrift Die Aktion zurückgehen (Die Verse des Alfred Lichtenstein, 1913): eine Gedichtreihe namens „Capriccio“, „Die Dämmerung“, „Die Gedichte des Kuno Kohn“, die „Soldatengedichte“ sowie die „Kriegsgedichte“. Trotz seiner literarischen Begrenztheit hat Alfred Lichtenstein über den Tod hinaus immer wieder künstlerisch anregend gewirkt, so etwa auf den Dadaismus oder auf die Kabarettlyrik der 1920er-Jahre.
Aufsehen erregt Lichtenstein vor allem mit seinem Gedicht Die Dämmerung (1911), das in Weiterführung von van Hoddis' grotesker Simultantechnik zum „poetischen Fanal“ des Expressionismus wird (vgl. die unter dem gleichen Titel erscheinende Gedichtsammlung in A. R. Meyers Lyrischen Flugblättern von 1913). Die Veröffentlichung einer Lichtenstein-Persiflage von Ernst Blass im Juli 1912 führt allerdings zum Bruch und zur öffentlich ausgetragenen Feindschaft Alfred Lichtensteins mit den Berliner Schriftstellerkollegen und führenden Mitgliedern des expressionistischen Neuen Clubs um Kurt Hiller, Ernst Blass und Jakob van Hoddis. In seinen Geschichten um die tragikomische Figur des kleinen buckligen Dichters „Kuno Kohn“ hat Lichtenstein die Querelen um seine Person poetisch verschlüsselt.
Im Prosatext Café Klößchen z.B. porträtiert er sich selbst als Kohn, „Lutz Laus“ und sein Dackel stehen für Karl Kraus und dessen Zeitschrift Die Fackel, „Dr. Bryller“ ist Kurt Hiller, „Max Mechenmal“ Jakob van Hoddis, „Spinoza Spaß“ Ernst Blass, während die Liebesgeschichte um Schulz (Georg Heym), Kohn und Lisel Liblichlein frei erfunden ist. Angesichts der Hilflosigkeit in einer Welt voller Brüche und Banalitäten gibt Kuno Kohn den entscheidenden Rat – und zugleich einen Hinweis auf Lichtensteins bevorzugte ästhetische Ausdrucksform, die (lyrische) Groteske: „Der einzige Trost ist: traurig sein. Wenn die Traurigkeit in Verzweiflung ausartet, soll man grotesk werden. Man soll spaßeshalber weiterleben. Soll versuchen, in der Erkenntnis, daß das Dasein aus lauter brutalen hundsgemeinen Scherzen besteht, Erhebung zu finden.“
Lichtenstein, dessen Ausdruckskraft, wie der Münchner Literaturwissenschaftler Klaus Kanzog schreibt, „durch das Erlebnis der Großstadt und die literarische Kommunikation der Avantgarde bestimmt wurde, gehört zu den wenigen, die in den von Patriotismus erfüllten Augusttagen 1914 die Sinnlosigkeit des Krieges erkannten.“ Seine Texte zeugen immer wieder von der menschlichen Bedrohung, von den Ahnungen einer Weltkatastrophe, die im Falle Lichtensteins mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges schließlich bittere Realität wird: Nur wenige Wochen nach Kriegsbeginn fällt der Autor an der Westfront. Sein letztes Gedicht Die Schlacht bei Saarburg schickt er von dort am 16. September 1914 ab.
Sekundärliteratur:
Heuer, Renate (Hg.) (2008): Lexikon deutsch-jüdischer Autoren (Archiv Bibliographia Judaica). Bd. 16. K. G. Saur Verlag, München, S. 32-36.
Kanzog, Klaus: Lichtenstein, Alfred. In: Neue Deutsche Biographie 14 (1985), S. 464, http://www.deutsche-biographie.de/pnd118832891.html, (21.07.2014).
Pöppel, Nicole (2009): Alfred Lichtenstein – „Das lyrische Werk“. In: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Kindlers Literatur Lexikon. 3., völlig neu bearb. Aufl. Verlag J. B. Metzler, Stuttgart und Weimar. Zit. n. Kindlers Literatur Lexikon Online - Aktualisierungsdatenbank: www.kll-online.de, (21.07.2014).
Vollmer, Hartmut (2010): Lichtenstein, Alfred. In: Verfasser-Datenbank. De Gruyter, Berlin und Boston. URL: http://www.degruyter.com/view/VDBO/vdbo.killy.3862, (21.07.2014).
Externe Links:
Literatur von Alfred Lichtenstein im BVB
Literatur über Alfred Lichtenstein im BVB
Werke bei gutenberg.spiegel.de
Die Verse des Alfred Lichtenstein
Alfred Lichtenstein wird als ältester Sohn des jüdischen Textilfabrikanten David Lichtenstein und seiner Frau Franziska, geborene Merzbach, in Wilmersdorf bei Berlin geboren. Nach der Reife am Luisenstädtischen Gymnasium 1909 studiert er Jurisprudenz in Berlin und Erlangen, wo er zuletzt im Januar 1914 mit der Dissertation Die rechtswidrige öffentliche Aufführung von Bühnenwerken promoviert wird. In München tritt er 1913 als Einjährig-Freiwilliger in das 2. bayerische Infanterieregiment Kronprinz ein, das am 8. August 1914 nach Frankreich zum Kriegseinsatz an die Front zieht.
Während seiner Studienzeit im Café des Westens verfasst Alfred Lichtenstein zunächst sentimentale Lyrik, danach von Frank Wedekind beeinflusste „Kabarettlyrik“. Durch Jakob van Hoddis' berühmtes Gedicht Weltende (1911) gelangt er zum expressionistischen „Reihungsstil“. Zu seinem Freundeskreis zählen Schriftsteller, Journalisten und Verleger, u.a. Peter Scher (Zs. Simplicissimus), Herwarth Walden (Zs. Der Sturm), Alfred Kerr (Zs. Pan), Franz Pfemfert (Zs. Die Aktion) und Kurt Pinthus (Gedichtanthologie Menschheitsdämmerung).
Sein lyrisches Werk kann grob in fünf Gruppen eingeteilt werden, von denen die ersten drei auf eine Selbstkritik Lichtensteins in der Zeitschrift Die Aktion zurückgehen (Die Verse des Alfred Lichtenstein, 1913): eine Gedichtreihe namens „Capriccio“, „Die Dämmerung“, „Die Gedichte des Kuno Kohn“, die „Soldatengedichte“ sowie die „Kriegsgedichte“. Trotz seiner literarischen Begrenztheit hat Alfred Lichtenstein über den Tod hinaus immer wieder künstlerisch anregend gewirkt, so etwa auf den Dadaismus oder auf die Kabarettlyrik der 1920er-Jahre.
Aufsehen erregt Lichtenstein vor allem mit seinem Gedicht Die Dämmerung (1911), das in Weiterführung von van Hoddis' grotesker Simultantechnik zum „poetischen Fanal“ des Expressionismus wird (vgl. die unter dem gleichen Titel erscheinende Gedichtsammlung in A. R. Meyers Lyrischen Flugblättern von 1913). Die Veröffentlichung einer Lichtenstein-Persiflage von Ernst Blass im Juli 1912 führt allerdings zum Bruch und zur öffentlich ausgetragenen Feindschaft Alfred Lichtensteins mit den Berliner Schriftstellerkollegen und führenden Mitgliedern des expressionistischen Neuen Clubs um Kurt Hiller, Ernst Blass und Jakob van Hoddis. In seinen Geschichten um die tragikomische Figur des kleinen buckligen Dichters „Kuno Kohn“ hat Lichtenstein die Querelen um seine Person poetisch verschlüsselt.
Im Prosatext Café Klößchen z.B. porträtiert er sich selbst als Kohn, „Lutz Laus“ und sein Dackel stehen für Karl Kraus und dessen Zeitschrift Die Fackel, „Dr. Bryller“ ist Kurt Hiller, „Max Mechenmal“ Jakob van Hoddis, „Spinoza Spaß“ Ernst Blass, während die Liebesgeschichte um Schulz (Georg Heym), Kohn und Lisel Liblichlein frei erfunden ist. Angesichts der Hilflosigkeit in einer Welt voller Brüche und Banalitäten gibt Kuno Kohn den entscheidenden Rat – und zugleich einen Hinweis auf Lichtensteins bevorzugte ästhetische Ausdrucksform, die (lyrische) Groteske: „Der einzige Trost ist: traurig sein. Wenn die Traurigkeit in Verzweiflung ausartet, soll man grotesk werden. Man soll spaßeshalber weiterleben. Soll versuchen, in der Erkenntnis, daß das Dasein aus lauter brutalen hundsgemeinen Scherzen besteht, Erhebung zu finden.“
Lichtenstein, dessen Ausdruckskraft, wie der Münchner Literaturwissenschaftler Klaus Kanzog schreibt, „durch das Erlebnis der Großstadt und die literarische Kommunikation der Avantgarde bestimmt wurde, gehört zu den wenigen, die in den von Patriotismus erfüllten Augusttagen 1914 die Sinnlosigkeit des Krieges erkannten.“ Seine Texte zeugen immer wieder von der menschlichen Bedrohung, von den Ahnungen einer Weltkatastrophe, die im Falle Lichtensteins mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges schließlich bittere Realität wird: Nur wenige Wochen nach Kriegsbeginn fällt der Autor an der Westfront. Sein letztes Gedicht Die Schlacht bei Saarburg schickt er von dort am 16. September 1914 ab.
Heuer, Renate (Hg.) (2008): Lexikon deutsch-jüdischer Autoren (Archiv Bibliographia Judaica). Bd. 16. K. G. Saur Verlag, München, S. 32-36.
Kanzog, Klaus: Lichtenstein, Alfred. In: Neue Deutsche Biographie 14 (1985), S. 464, http://www.deutsche-biographie.de/pnd118832891.html, (21.07.2014).
Pöppel, Nicole (2009): Alfred Lichtenstein – „Das lyrische Werk“. In: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Kindlers Literatur Lexikon. 3., völlig neu bearb. Aufl. Verlag J. B. Metzler, Stuttgart und Weimar. Zit. n. Kindlers Literatur Lexikon Online - Aktualisierungsdatenbank: www.kll-online.de, (21.07.2014).
Vollmer, Hartmut (2010): Lichtenstein, Alfred. In: Verfasser-Datenbank. De Gruyter, Berlin und Boston. URL: http://www.degruyter.com/view/VDBO/vdbo.killy.3862, (21.07.2014).