Der tote Monat
Zur Reihe: In Aufs Jahr geschaut widmet sich jeweils eine Autorin oder ein Autor des Literaturportals Bayern auf literarisch-künstlerische Weise einer Jahreszeit und gewinnt dieser im Format eines monatlichen Beitrags poetische, politische, alltagssensibel-lyrische oder bildhafte Reflektionen ab, welche die Leserschaft einmal ganz anders „aufs Jahr schauen“ lässt. In den Monaten Juli, August und September „blickt“ für uns auf den Sommer, so wie sie ihn sieht, die Autorin Anna Job.
*
„Falls du dich auch über das Geräusch wunderst: die Raben fressen eine Maus aus der Dachrinne“, sage ich morgens um fünf zu meinem Mann, als er aus dem Kinderzimmer zurück in unser Bett kommt. Die Krallen der Raben hört man immer mal wieder, wenn sie auf dem Schornsteinmetall oder der Gaube landen und umherlaufen. Ein Geräusch wie Kreide, die in einem unangenehmen Winkel über eine Tafel schrappt. Aber im August, wenn man unterm Dach mit offenen Fenstern schläft, hört man sie noch lauter. Und heute ist es besonders intensiv, so ein stetiges metallisches Klopfen, das mich weckt, irritiert und nicht wieder einschlafen lässt. Beim Südfenster finde ich sie dann, wie sie zu dritt aus der Dachrinne picken.
Früher wunderten wir uns über Brezenstücke auf der Garage, aber dann sahen wir Raben mit Beute aus dem Kompost davonfliegen und sie unterwegs verlieren. Heute sehen die Raben jedoch aus, wie Adler am Felsvorsprung, die ein erlegtes Kaninchen verspeisen wollen. Als sie mich am Fenster erblicken, fliegen sie weg und ich denke: oh nein! Die Maus müsst ihr schon auffressen, wenn ihr die da liegen lasst, fängt sie noch an zu stinken.
Ich ziehe mich zurück, damit die Raben wiederkommen. Ich glaube nicht, dass sie die Maus selbst gefangen haben, sondern dass es eine von den Mäusen ist, die unsere Kater liegen lassen. Auch da denke ich: Fresst sie doch auf! Aber sie ignorieren meine Gedanken. Singvögel fressen sie manchmal auf, dabei sehe ich sie, aber Mäuse und Ratten lassen sie liegen und an manchen Tagen landen in unserer schwarzen Mülltonne fast nur Kadaver. Und Katzenfutter, das sie auch verschmäht haben und das nun voller Fliegeneier ist. Dann schlüpfen die Maden und es ist einfach nur ekelhaft. August ist wirklich ein ekelhafter Monat. Und ich weiß, dass es eigentlich keine Raben, sondern Krähen sind, aber ich krieg‘s einfach nicht raus.
Eine Nachbarin erzählt mir von einem Rattennest in ihrer Garage und von dem eines Nachbarn, der die Ratten mit der Schrotflinte erschossen und für die Krähen aufs Garagendach geworfen hat. Ich begreife nichts an dieser Geschichte.
Im Freibad bin ich stolz auf die Kinder, wie sie in Eigeninitiative ihr Eispapier in den Mülleimer bringen. „Mund zu“, erinnere ich sie rufend, als sie schreiend vor aufgescheuchten Wespen davonrennen. Zum Wasserspielplatz gehen wir nicht mehr, weil aus den Pfützchen im Tartan-Belag zu viele Wespen trinken. Und mir der Rutschen-Kletterberg aus Kopfsteinpflaster nicht ganz geheuer ist. Die Wespen sitzen auch in den Zierpflaumen und Mirabellen, die so zahlreich vom Baum fallen, dass wir mit dem Aufsammeln nicht hinterherkommen. Manchmal erst wenn der Gärgeruch bis zur Terrassentür weht. Keine der Wespen sticht uns. Ich möchte schon wissen, wie der Mann auf der BILD zu seinen hundert Stichen gekommen ist, aber natürlich radel ich bei grün einfach weiter, ohne sie zu kaufen.
Das Planschbecken ist nicht aufgebaut, weil das Wetter zu selten gut ist, als dass es sich lohnen würde, den Rasen derart zu zerstören. Wenn wir an den heißen Tagen keine Lust auf Freibad haben, spielen wir „Wer ist mutig“ und füllen eine Badewanne mit eiskaltem Wasser und die mutige Siegerin, ist die, die sich zuerst reinlegt. Der Weg dorthin ist voller Gekicher und Gekreische und mein Mann hört uns beim Nachbarn, dem er Werkzeug zurückbringt, und erzählt uns, dass die ganze Straße weiß, was wir spielen. Heute endet es mit Wutgebrüll, weil die Kleine die Große rammt, als sie vom Wannenrand reinrutscht, so dass sie unfreiwillig „gewinnt“. Das Gebrüll vereint die Wut über den Kälteschock, die Empörung über das Foul – denn es herrscht Rutschverbot! – und den scheinheiligen Trostversuch meinerseits, das nun „Sieg“ zu nennen. Damit ist die Kleine nun Einzelkind und ich bin für die Große gestorben.
August ist für mich der tote Monat. Alle sind im Urlaub, die Spielplätze sind leer, und es ist so langweilig, dass ich mir Steppenhexen einbilde und die Krähen „Spiel mir das Lied vom Tod“ von den Dächern krächzen höre, wenn wir mit dem Schlüsselbund von Nachbarhaus zu Nachbarhaus ziehen und die Blumen der Verreisten gießen, die Kaninchen füttern, und immerhin auch Tomaten naschen. Oder Trampolin hüpfen.
Das war früher. Jetzt, seit auch wir ein Schulkind haben, ist der August der teure Monat. Schwarz und schwer ziehe ich die Kugel der Hauptsaison an meiner Fessel auf überfüllte Campingplätze und schaffe es gerade so die schmalen Pfade zwischen den Handtüchern am Mittelmeerstrand entlang.
Der Himmel ist doch ganz schön grau, als ich die Kleine am Hirschgartenspielplatz aus dem Fahrradanhänger lasse. „Vielleicht hält das Wetter. So wie gestern“, sage ich, aber schon beginnt es zu tröpfeln. „Trotzdem spielen“, ruft die Kleine und flitzt los. Ich warte unter einem Baum, als es doller zu regnen beginnt. Sie lacht und rennt. „Wir haben keine Ersatzklamotten dabei“, begründe ich den Aufbruch. „Egal“, ruft sie und klettert die Rutsche hoch. „Die Rutsche ist total nass“, rufe ich, aber sie ruft „Wasserrutsche“ und saust tatsächlich schneller als sonst und fliegt unten ein Stück weiter nach vorne. „Noch mal!“ Der Regen wird nun richtig stark, so dass sie es einsieht. Ihre Klamotten sind schon so nass, dass wir ihre Jeans noch ausziehen, bevor sie in den Anhänger einsteigt. Das T-Shirt könnte sie alleine unter der Fahrt ausziehen und ihr Fleece-Jäckchen anziehen. Es schüttet nun volle Kanne, mein Trägertop ist durchtränkt und die Tropfen platschen doll und trotzdem weich und wohlig und warm auf meine Haut. Ich fühle mich wie eingewickelt in dieser Folie, deren Bläschen man so gern platzen lässt.
Einige Tage können die Kinder mit einer Freundin spielen, die drei Häuser weiter wohnt. Wie so oft spielen sie Straßenverkauf. Nicht dass jemals Passanten, die nicht mit ihnen verwandt sind, etwas gekauft hätten, aber sie geben die Hoffnung nicht auf, weil sie es so lieben, kleine Preiszettel zu beschriften, bunte Schilder zu malen, für liebevoll Gebasteltes aus Blüten und Gräsern. Oder Brauchbares, das sie aus den Plastik-Containern geangelt haben. Heute machen sie Snacks. Kleine Obstspieße, die sie mit bitterem Kakaopulver bestäuben (was sie selbst nicht mal mögen), oder mit Zuckerstreuseln aus der Backschublade. Mein Herz wird warm, wenn ich sie durchs Fenster dort sitzen sehe. Vor ihrem Pappkarton-Tisch im Schatten eines Baumes. Sie schauen nach rechts und nach links den Gehweg entlang. Ja, auch dort wehen Steppenhexen vorbei. Sie scheinen gerade erst angefangen zu haben, sonst wären sie schon reingelaufen „Mama, kaufst du was bei uns?“ Dann erkaltet die Herzenswärme, als ich den Zustand der Küche bemerke, in der sie die Snacks vorbereitet haben. Doch ich finde eine Ferien-Gutmütigkeit und werde nachher freundlich das (gemeinsame) Aufräumen initiieren, das Schrubben von Arbeitsflächen, Boden und Brettchen, die man eigentlich leicht von Obstresten befreit hätte, aber nun, wenn sie eingetrocknet sind, muss man doll schrubben.
Ähnlich beim verdecklosen Lastenfahrrad unterm Kirschbaum. Das Schwirren beachte ich nicht, als ich zwischen den Obstresten in die Kleingeldschale greife. Fruchtfliegen beachte ich schon lange nicht mehr, so wie ich Kinderklamotten beim Campen schon lang nicht mehr nach sauber und dreckig unterscheide, sondern nur noch nach trocken genug oder zu nass.
Dann gehe ich mit ein paar Cents zum Straßenverkauf, wo eine Frau mit Hund gerade nichts kauft.
„Am helllichten Tag?! Der, den wir nachts gesehen haben, war kleiner.“
„Der eben war schon so 50 cm. Wie mein Hund.“
„Dann müssen es also mehrere sein.“
„Stadtfüchse leben oft in Rudeln, weil sie genug zu fressen finden. Vorne bei der Sybille haben sie alle fünfzehn Hühner geholt.“
„Dann müssen wir eigentlich heute noch eine Pop-up-Voliere für unsere Hühner bauen.“
„Ich hab noch Hasendraht übrig.“
Als ich am nächsten Morgen runterkomme, starren mich alle drei Hühner durch die Terrassentür an. Kein Fuchs scheint bemerkt zu haben, dass wir abends vergessen haben, den Stall zu schließen.
Ich hätte lieber Obstspieße ohne Zuckerstreusel oder Kakaopulver oder Blüten, aber ich kaufe zwei für fünf Cent. Hier kommen keine Wespen und noch weniger Leute, als eh schon immer. Aber beide Kater liegen bei ihnen. Die Raben schauen von den Dächern aus zu. Als ich zurück zum Haus gehe, sitzt ein Rabe im offenen Fahrradanhänger. Er sperrt still seinen Schnabel auf und bewegt sich sonst kaum, er wirkt gräulich und zerrupft, wie ein Rabenopa, vielleicht ist er krank?
Die Krähen sind für die Kater keine Beute, weil sie sich wehren können, aber als ich den schwarzen unserer Kater an meinen Beinen bemerke, scheint er gleich zu erkennen, dass mit dieser Krähe etwas nicht stimmt und dass sie schwächer sein könnte, und nimmt eine Lauerstellung ein. Ich will nicht, dass die Krähe in den Anhänger kackt, mit dem wir morgen zum Kindergarten fahren müssen. Oder sonst irgendwas von ihrer Merkwürdigkeit dort hinterlässt. Ich möchte sie verscheuchen, aber traue mich nicht noch näher heran. Wieso schließt sie ihren Schnabel nicht?
Da versucht der schwarze Kater sein Glück und greift sie an. Die Krähe hüpft aus dem Anhänger und wehrt sich mit Flattern und Picken, der Kater weicht zurück. Die Krähe lässt ihren Schnabel offen. Der rote Kater kommt herbei. Will er es auch versuchen? Wollen sie zu zweit angreifen?
Ich weiß, dass Rabenvögel intelligent sind, sich Gesichter merken können, aber mir war nicht klar, wie sozial sie sind, denn da kommen zwei weitere Krähen, und greifen den schwarzen Kater an. Noch weitere kommen auf die Dächer schauen zu ihnen und krächzen laut. Die Kater pressen sich beide auf den Boden.
Eine Nachbarin erzählte mir, dass Krähen bis zu 60 Jahre alt werden können. Meine Internet Recherche ergibt nur 20 Jahre, aber ich möchte der Nachbarin glauben, und stelle mir vor, wie die Krähen die Nachbarn besser kennen als ich, und wissen, was für Geheimnisse und Streits schon seit den 70ern schwelen. Wir gehen ins Haus, weil wir der merkwürdigen, nur hüpfenden Krähe die Flucht aus dem Vorgarten erleichtern wollen.
Vor allem scheinen Rabenvögel nachtragend zu sein, denn zwei Tage lang fangen sie an zu krächzen, sobald die Kater aus dem Haus kommen. Von den Dächern aus rufen sie ihnen pöbelnd zu, wie Jugendliche vor einer Schlägerei, und stürzen dann im Steilflug auf sie hinab, ohne sie wirklich zu berühren. Die Kater verharren flach im Gras. Aber mehr passiert nicht.
Heute ist Sternschnuppennacht und vielleicht wünsche ich mir, dass ich die Kater morgen früh nicht in der Dachrinne finde.
**
Anna Job schreibt gerne über Mütter. Wasser. Kompost. Und an Bäume. Bisschen lyrisch. Als freie Autorin. Germanistin. Halbe Informatikerin. Und bisschen Texterin. Sie lebt in München, liebt einen Mann, zwei Kinder und zwei Kater. Und vier Hühner …
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Zur Reihe: In Aufs Jahr geschaut widmet sich jeweils eine Autorin oder ein Autor des Literaturportals Bayern auf literarisch-künstlerische Weise einer Jahreszeit und gewinnt dieser im Format eines monatlichen Beitrags poetische, politische, alltagssensibel-lyrische oder bildhafte Reflektionen ab, welche die Leserschaft einmal ganz anders „aufs Jahr schauen“ lässt. In den Monaten Juli, August und September „blickt“ für uns auf den Sommer, so wie sie ihn sieht, die Autorin Anna Job.
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„Falls du dich auch über das Geräusch wunderst: die Raben fressen eine Maus aus der Dachrinne“, sage ich morgens um fünf zu meinem Mann, als er aus dem Kinderzimmer zurück in unser Bett kommt. Die Krallen der Raben hört man immer mal wieder, wenn sie auf dem Schornsteinmetall oder der Gaube landen und umherlaufen. Ein Geräusch wie Kreide, die in einem unangenehmen Winkel über eine Tafel schrappt. Aber im August, wenn man unterm Dach mit offenen Fenstern schläft, hört man sie noch lauter. Und heute ist es besonders intensiv, so ein stetiges metallisches Klopfen, das mich weckt, irritiert und nicht wieder einschlafen lässt. Beim Südfenster finde ich sie dann, wie sie zu dritt aus der Dachrinne picken.
Früher wunderten wir uns über Brezenstücke auf der Garage, aber dann sahen wir Raben mit Beute aus dem Kompost davonfliegen und sie unterwegs verlieren. Heute sehen die Raben jedoch aus, wie Adler am Felsvorsprung, die ein erlegtes Kaninchen verspeisen wollen. Als sie mich am Fenster erblicken, fliegen sie weg und ich denke: oh nein! Die Maus müsst ihr schon auffressen, wenn ihr die da liegen lasst, fängt sie noch an zu stinken.
Ich ziehe mich zurück, damit die Raben wiederkommen. Ich glaube nicht, dass sie die Maus selbst gefangen haben, sondern dass es eine von den Mäusen ist, die unsere Kater liegen lassen. Auch da denke ich: Fresst sie doch auf! Aber sie ignorieren meine Gedanken. Singvögel fressen sie manchmal auf, dabei sehe ich sie, aber Mäuse und Ratten lassen sie liegen und an manchen Tagen landen in unserer schwarzen Mülltonne fast nur Kadaver. Und Katzenfutter, das sie auch verschmäht haben und das nun voller Fliegeneier ist. Dann schlüpfen die Maden und es ist einfach nur ekelhaft. August ist wirklich ein ekelhafter Monat. Und ich weiß, dass es eigentlich keine Raben, sondern Krähen sind, aber ich krieg‘s einfach nicht raus.
Eine Nachbarin erzählt mir von einem Rattennest in ihrer Garage und von dem eines Nachbarn, der die Ratten mit der Schrotflinte erschossen und für die Krähen aufs Garagendach geworfen hat. Ich begreife nichts an dieser Geschichte.
Im Freibad bin ich stolz auf die Kinder, wie sie in Eigeninitiative ihr Eispapier in den Mülleimer bringen. „Mund zu“, erinnere ich sie rufend, als sie schreiend vor aufgescheuchten Wespen davonrennen. Zum Wasserspielplatz gehen wir nicht mehr, weil aus den Pfützchen im Tartan-Belag zu viele Wespen trinken. Und mir der Rutschen-Kletterberg aus Kopfsteinpflaster nicht ganz geheuer ist. Die Wespen sitzen auch in den Zierpflaumen und Mirabellen, die so zahlreich vom Baum fallen, dass wir mit dem Aufsammeln nicht hinterherkommen. Manchmal erst wenn der Gärgeruch bis zur Terrassentür weht. Keine der Wespen sticht uns. Ich möchte schon wissen, wie der Mann auf der BILD zu seinen hundert Stichen gekommen ist, aber natürlich radel ich bei grün einfach weiter, ohne sie zu kaufen.
Das Planschbecken ist nicht aufgebaut, weil das Wetter zu selten gut ist, als dass es sich lohnen würde, den Rasen derart zu zerstören. Wenn wir an den heißen Tagen keine Lust auf Freibad haben, spielen wir „Wer ist mutig“ und füllen eine Badewanne mit eiskaltem Wasser und die mutige Siegerin, ist die, die sich zuerst reinlegt. Der Weg dorthin ist voller Gekicher und Gekreische und mein Mann hört uns beim Nachbarn, dem er Werkzeug zurückbringt, und erzählt uns, dass die ganze Straße weiß, was wir spielen. Heute endet es mit Wutgebrüll, weil die Kleine die Große rammt, als sie vom Wannenrand reinrutscht, so dass sie unfreiwillig „gewinnt“. Das Gebrüll vereint die Wut über den Kälteschock, die Empörung über das Foul – denn es herrscht Rutschverbot! – und den scheinheiligen Trostversuch meinerseits, das nun „Sieg“ zu nennen. Damit ist die Kleine nun Einzelkind und ich bin für die Große gestorben.
August ist für mich der tote Monat. Alle sind im Urlaub, die Spielplätze sind leer, und es ist so langweilig, dass ich mir Steppenhexen einbilde und die Krähen „Spiel mir das Lied vom Tod“ von den Dächern krächzen höre, wenn wir mit dem Schlüsselbund von Nachbarhaus zu Nachbarhaus ziehen und die Blumen der Verreisten gießen, die Kaninchen füttern, und immerhin auch Tomaten naschen. Oder Trampolin hüpfen.
Das war früher. Jetzt, seit auch wir ein Schulkind haben, ist der August der teure Monat. Schwarz und schwer ziehe ich die Kugel der Hauptsaison an meiner Fessel auf überfüllte Campingplätze und schaffe es gerade so die schmalen Pfade zwischen den Handtüchern am Mittelmeerstrand entlang.
Der Himmel ist doch ganz schön grau, als ich die Kleine am Hirschgartenspielplatz aus dem Fahrradanhänger lasse. „Vielleicht hält das Wetter. So wie gestern“, sage ich, aber schon beginnt es zu tröpfeln. „Trotzdem spielen“, ruft die Kleine und flitzt los. Ich warte unter einem Baum, als es doller zu regnen beginnt. Sie lacht und rennt. „Wir haben keine Ersatzklamotten dabei“, begründe ich den Aufbruch. „Egal“, ruft sie und klettert die Rutsche hoch. „Die Rutsche ist total nass“, rufe ich, aber sie ruft „Wasserrutsche“ und saust tatsächlich schneller als sonst und fliegt unten ein Stück weiter nach vorne. „Noch mal!“ Der Regen wird nun richtig stark, so dass sie es einsieht. Ihre Klamotten sind schon so nass, dass wir ihre Jeans noch ausziehen, bevor sie in den Anhänger einsteigt. Das T-Shirt könnte sie alleine unter der Fahrt ausziehen und ihr Fleece-Jäckchen anziehen. Es schüttet nun volle Kanne, mein Trägertop ist durchtränkt und die Tropfen platschen doll und trotzdem weich und wohlig und warm auf meine Haut. Ich fühle mich wie eingewickelt in dieser Folie, deren Bläschen man so gern platzen lässt.
Einige Tage können die Kinder mit einer Freundin spielen, die drei Häuser weiter wohnt. Wie so oft spielen sie Straßenverkauf. Nicht dass jemals Passanten, die nicht mit ihnen verwandt sind, etwas gekauft hätten, aber sie geben die Hoffnung nicht auf, weil sie es so lieben, kleine Preiszettel zu beschriften, bunte Schilder zu malen, für liebevoll Gebasteltes aus Blüten und Gräsern. Oder Brauchbares, das sie aus den Plastik-Containern geangelt haben. Heute machen sie Snacks. Kleine Obstspieße, die sie mit bitterem Kakaopulver bestäuben (was sie selbst nicht mal mögen), oder mit Zuckerstreuseln aus der Backschublade. Mein Herz wird warm, wenn ich sie durchs Fenster dort sitzen sehe. Vor ihrem Pappkarton-Tisch im Schatten eines Baumes. Sie schauen nach rechts und nach links den Gehweg entlang. Ja, auch dort wehen Steppenhexen vorbei. Sie scheinen gerade erst angefangen zu haben, sonst wären sie schon reingelaufen „Mama, kaufst du was bei uns?“ Dann erkaltet die Herzenswärme, als ich den Zustand der Küche bemerke, in der sie die Snacks vorbereitet haben. Doch ich finde eine Ferien-Gutmütigkeit und werde nachher freundlich das (gemeinsame) Aufräumen initiieren, das Schrubben von Arbeitsflächen, Boden und Brettchen, die man eigentlich leicht von Obstresten befreit hätte, aber nun, wenn sie eingetrocknet sind, muss man doll schrubben.
Ähnlich beim verdecklosen Lastenfahrrad unterm Kirschbaum. Das Schwirren beachte ich nicht, als ich zwischen den Obstresten in die Kleingeldschale greife. Fruchtfliegen beachte ich schon lange nicht mehr, so wie ich Kinderklamotten beim Campen schon lang nicht mehr nach sauber und dreckig unterscheide, sondern nur noch nach trocken genug oder zu nass.
Dann gehe ich mit ein paar Cents zum Straßenverkauf, wo eine Frau mit Hund gerade nichts kauft.
„Am helllichten Tag?! Der, den wir nachts gesehen haben, war kleiner.“
„Der eben war schon so 50 cm. Wie mein Hund.“
„Dann müssen es also mehrere sein.“
„Stadtfüchse leben oft in Rudeln, weil sie genug zu fressen finden. Vorne bei der Sybille haben sie alle fünfzehn Hühner geholt.“
„Dann müssen wir eigentlich heute noch eine Pop-up-Voliere für unsere Hühner bauen.“
„Ich hab noch Hasendraht übrig.“
Als ich am nächsten Morgen runterkomme, starren mich alle drei Hühner durch die Terrassentür an. Kein Fuchs scheint bemerkt zu haben, dass wir abends vergessen haben, den Stall zu schließen.
Ich hätte lieber Obstspieße ohne Zuckerstreusel oder Kakaopulver oder Blüten, aber ich kaufe zwei für fünf Cent. Hier kommen keine Wespen und noch weniger Leute, als eh schon immer. Aber beide Kater liegen bei ihnen. Die Raben schauen von den Dächern aus zu. Als ich zurück zum Haus gehe, sitzt ein Rabe im offenen Fahrradanhänger. Er sperrt still seinen Schnabel auf und bewegt sich sonst kaum, er wirkt gräulich und zerrupft, wie ein Rabenopa, vielleicht ist er krank?
Die Krähen sind für die Kater keine Beute, weil sie sich wehren können, aber als ich den schwarzen unserer Kater an meinen Beinen bemerke, scheint er gleich zu erkennen, dass mit dieser Krähe etwas nicht stimmt und dass sie schwächer sein könnte, und nimmt eine Lauerstellung ein. Ich will nicht, dass die Krähe in den Anhänger kackt, mit dem wir morgen zum Kindergarten fahren müssen. Oder sonst irgendwas von ihrer Merkwürdigkeit dort hinterlässt. Ich möchte sie verscheuchen, aber traue mich nicht noch näher heran. Wieso schließt sie ihren Schnabel nicht?
Da versucht der schwarze Kater sein Glück und greift sie an. Die Krähe hüpft aus dem Anhänger und wehrt sich mit Flattern und Picken, der Kater weicht zurück. Die Krähe lässt ihren Schnabel offen. Der rote Kater kommt herbei. Will er es auch versuchen? Wollen sie zu zweit angreifen?
Ich weiß, dass Rabenvögel intelligent sind, sich Gesichter merken können, aber mir war nicht klar, wie sozial sie sind, denn da kommen zwei weitere Krähen, und greifen den schwarzen Kater an. Noch weitere kommen auf die Dächer schauen zu ihnen und krächzen laut. Die Kater pressen sich beide auf den Boden.
Eine Nachbarin erzählte mir, dass Krähen bis zu 60 Jahre alt werden können. Meine Internet Recherche ergibt nur 20 Jahre, aber ich möchte der Nachbarin glauben, und stelle mir vor, wie die Krähen die Nachbarn besser kennen als ich, und wissen, was für Geheimnisse und Streits schon seit den 70ern schwelen. Wir gehen ins Haus, weil wir der merkwürdigen, nur hüpfenden Krähe die Flucht aus dem Vorgarten erleichtern wollen.
Vor allem scheinen Rabenvögel nachtragend zu sein, denn zwei Tage lang fangen sie an zu krächzen, sobald die Kater aus dem Haus kommen. Von den Dächern aus rufen sie ihnen pöbelnd zu, wie Jugendliche vor einer Schlägerei, und stürzen dann im Steilflug auf sie hinab, ohne sie wirklich zu berühren. Die Kater verharren flach im Gras. Aber mehr passiert nicht.
Heute ist Sternschnuppennacht und vielleicht wünsche ich mir, dass ich die Kater morgen früh nicht in der Dachrinne finde.
**
Anna Job schreibt gerne über Mütter. Wasser. Kompost. Und an Bäume. Bisschen lyrisch. Als freie Autorin. Germanistin. Halbe Informatikerin. Und bisschen Texterin. Sie lebt in München, liebt einen Mann, zwei Kinder und zwei Kater. Und vier Hühner …