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Literatur am Telefon. Eine neue Reihe im Literaturportal Bayern

„Dial-A-Poem“ forderte Andy Warhol in den 1960er-Jahren und gab damit den Anstoß für das Projekt Literaturtelefon. Das erste Literaturtelefon Deutschlands wurde 1978 in Kiel von dem Schriftsteller und Journalisten Michael Augustin initiiert. Am 19. Juli 1990 startete das Literaturtelefon des Kulturreferats der Landeshauptstadt München mit einer 5-minütigen Lesung von Uwe Timm. Der Autor Michael Langer war der erste Redakteur des Münchner Literaturtelefons, die Autorin und Literaturwissenschaftlerin Verena Nolte folgte ein Jahr später. Von 1992 bis 2002 übernahm die Autorin Gunna Wendt die Redaktion. 12 Jahre Literaturtelefon – das bedeutet 573 Lesungen.

Von Anfang an dabei war der Tonmeister Georg Thannheiser, der die Lesungen im Gasteig Tonstudio aufzeichnete, die Aufnahmen bearbeitete, Versprecher, Seufzer und Schmatzer herausschnitt, bis alles perfekt war. Er war für Technik und Tonregie zuständig. Im Analogzeitalter wurde wirklich noch geschnitten. Das bedeutete, dass der betreffende Teil des Tonbands entfernt wurde. Die durch den Schnitt entstandenen losen Enden mussten anschließend zusammengeklebt werden. Ein skurriles Phänomen: Es blieb niemals bei einem Versprecher. Zwar wurde beim zweiten Versuch die verpatzte Stelle gemeistert, aber dafür erfolgte zwei oder drei Sätze weiter ein erneuter Lapsus. Der Tonmeister sammelte die schönsten Patzer und kreierte damit zum 10-Jährigen Jubiläum des Literaturtelefons im Jahr 2000 ein Versprecherband. Der Eintritt ins digitale Zeitalter ließ Kreationen dieser Art verschwinden. Am Computer war das Schneiden zu einem Kinderspiel geworden.

Ja, und wer hörte das Literaturtelefon? Neben den Literaturliebhaber*innen, die sich über aktuelle Neuerscheinungen informieren wollten, gab es auch Zufallshörerinnen wie die junge Frau, die zu nachtschlafener Zeit allein am Flughafen warten musste. Gern hätte sie mit jemandem gesprochen, doch sie wusste, dass sich um diese Stunde niemand über ihren Anruf freuen würde. Plötzlich sei ihr das Literaturtelefon eingefallen und sie habe 011510 gewählt: Fünf Minuten Literatur am Telefon hätten sie in eine entspannte Stimmung versetzt, schwärmte sie. Was sie gehört hat, bleibt allerdings ein Geheimnis.

Das Literaturtelefon-Archiv wird in der Monacensia im Hildebrandhaus aufbewahrt. Es umfasst 40 CDs, auf denen insgesamt 573 Lesungen enthalten sind. Die Monacensia und das Literaturportal Bayern präsentieren monatlich eine Auswahl dieser Lesungen.

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SAID. Foto: Monacensia

„Ehe du kamst,/ hatte der Wind/ keine eigene Stimme“, heißt es in einem Gedicht des aus dem Iran stammenden Dichters SAID, der 1965 als 17-Jähriger nach München kam. Seine poetische Stimme war von Anfang an deutsch, wie er selbst bekannte: „Die Sprache, die ich atme, ist deutsch.“ Er habe sich und seine großen Lebensthemen – Liebe, Flucht, Exil – darin aufgehoben gefühlt. Der Band Sei Nacht zu mir ist ganz der Liebe gewidmet: „Eine Apfelblüte lang/ wehrt sich die Liebe./ Dann welkt sie / in unseren habgierigen Händen.“ SAID wäre am 27. Mai 2023 76 Jahre alt geworden. Er verstarb am 15. Mai 2021 in München.

 

Dagmar Nick. Foto: Bayerische Staatsbibliothek/Timpe

„Wenn ich Gedichte schreibe, möchte ich sie auch sprechen können; sie müssen eine Schwingung haben“, lautet eine Forderung der Lyrikerin Dagmar Nick an ihre eigene Arbeit. „Ob du auch so um dein Leben bangst? / Alles andre ist schon fortgegeben“, fragt sie in ihrem Gedicht Flucht, das Erich Kästner, der Feuilletonleiter der Neuen Zeitung, 1945 publizierte. Es war die erste Veröffentlichung der damals 19-Jährigen. Seither sind zahlreiche Lyrikbände entstanden, in denen sie sich hochemotional und stilistisch präzise mit den Themen Abschied, Trauer und Liebe auseinandersetzt und dabei den Zweifel zulässt. „Vielleicht hab ich doch nicht genug getan/ für das Leben", heißt es in dem Band Im Stillstand der Stunden aus dem Jahr 1991.

 

Gustl Angstmann. Foto: Michael Lucan

Der Protagonist aus Gustl Angstmanns Roman Novizen, Thomas, zieht seinen Freund Michael ins Vertrauen, nachdem er die Diagnose einer tödlichen Krankheit erhalten hat. Man müsse ihr ernst begegnen, das Ende sei nur eine Frage der Zeit. Der Autor prägt für das Verhalten der beiden verzweifelten Männer den Begriff „Mitwisserstille“. Sie gilt es aufzubrechen, eine Sprache für das gemeinsame Schweigen zu finden, damit die Angst nicht die Oberhand gewinnt. Gustl Angstmann war Mitbegründer der Münchner Schwulenbewegung. Er starb am 1. Januar 1998 an den Folgen von AIDS.

 

Doris Dörrie. Foto: Bayerische Staatsbibliothek/Timpe

In ihrer Erzählung „Oben rechts die Sonne“ aus dem Band Bin ich schön? legt Doris Dörries Protagonistin ein Geständnis ab: Drei Dinge habe sie in ihrem Leben gestohlen, darunter ein Paar rosa Barbie-Stöckelschuhe. Sie boten den Anlass für Träume einer Weiblichkeit, die von ihrer strengen Mutter verpönt und mit dem Attribut „geschmacklos“ bedacht wurde. Hohe Schuhe zu Hosen, schwarze Unterwäsche, roter Lippenstift – all das fand die Mutter ordinär. Zu Gegenargumenten fehlte der Tochter der Mut, doch der Körper ließ sich nicht einschüchtern und begehrte auf, so dass sie zufrieden konstatierte: „Mein Busen war das Mutigste an mir.“

 

Christine Wunnicke. Foto: Volker Derlath

Christine Wunnicke wurde 2020 für ihr „herausragendes literarisches Gesamtwerk“ mit dem Literaturpreis der Landeshauptstadt München ausgezeichnet. Ihre Protagonisten sind Exzentriker und Sonderlinge, darunter ein Poesiefabrikant, ein japanischer Neurologe und ein schottischer Rockmusiker. Bei allen handelt es sich um Persönlichkeiten, die tatsächlich gelebt und die Autorin verführt haben, sich in ihr Schicksal zu vertiefen. In dem Roman Die Nachtigall des Zaren widmet sie sich dem Leben des aus Pisa stammenden Kastraten Filippo Balatri. Im Jahr 1700 ist er Mitglied einer Gesandtschaft, die von Zar Peter dem Großen zu Ayuki-Khan, dem Herrscher der Kalmücken, geschickt wird und dessen indiskreten Fragen ausgeliefert ist.

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