21. Kapitel

Nicht das Dunkel einer mond- und sternenlosen Nacht, nicht das Dunkel geschlossener Augen – worin Kidogo sich befand, war vollkommene Finsternis. Kalter, modriger Stein auf allen Seiten, faulige Luft; das leise Tropfen von Wasser als das einzige, nervenzehrende Geräusch. Ob Stunden oder Tage vergingen, vermochte Kidogo nicht zu sagen, in einer Welt ohne Bewegung verlor die Zeit alle Bedeutung. Alle Fragen verblassten. Eine seltsame Ruhe hatte ihn ergriffen. Indem er Aki gefolgt war, hatte er den Pfad der Mandrêbanim verlassen. Er konnte nicht wissen, ob es die richtige Entscheidung gewesen war – aber das Bedeutsame war, dass er sie getroffen hatte.

Als das Licht zurückkehrte, strahlte es so hell, dass er die Augen zusammenkneifen musste, und es sich dennoch durch seine Lider brannte.

»Passt auf«, bellte jemand.

Gerade rechtzeitig kehrte seine Sicht zurück, dass er der Leiter ausweichen konnte, die von oben in das Loch gelassen wurde.

»Kommt hoch.«

Er folgte dem Befehl. Seine Glieder waren so verspannt, dass jede Sprosse zum Kampf geriet. Als er endlich an der Kante angelangt war, wurde er von zwei Bewaffneten an den Achseln gepackt und das letzte Stück nach oben gezogen. Während er noch schwankend versuchte, die Macht über seine Muskeln zurückzuerlangen, legten sie ihm Hand- und Fußketten an. Ein dritter Mann mit Öllaterne stand daneben, wies die Bewaffneten an, Kidogo einen schmalen Gang entlangzuführen, der dem Loch an klammer Unwirtlichkeit in nichts nachstand. Sie erreichten ein niedriges Gewölbe, das mit allerlei Werkzeugen und hölzernen Möbelstücken gefüllt war. Die Nägel und Schrauben an den Möbeln ließen keinen Zweifel daran, welchem Zweck der Raum diente. Um den aufsteigenden Schrecken zu bändigen, richtete Kidogo seine Aufmerksamkeit weg von den grausigen Gegenständen, hin zu dem Mann mit der Laterne. Dessen speckiges Gesicht wurde von einer gewaltigen, zusammengewachsenen Augenbraue geprägt, die schmierige Schürze wies ihn als Herrscher dieses grauenhaften Reiches aus.

Unfähig zu jedwedem klaren Gedanken, verharrte Kidogo, erwartete hilflos das Handeln des Richters. Doch auch dieser rührte sich nicht. Wortlos starrten sie einander an, und mit jedem Wimpernschlag, der verstrich, zog sich die eisige Schlinge um Kidogos Hals weiter zu.

Ein Räuspern der Wachen ließ den Richter zusammenzucken, aber seine Lähmung war gelöst. Er scheuchte die Wachen davon. Als er alleine mit Kidogo im Gewölbe stand, wandte er sich endlich direkt an ihn: »Ihr seid ein Schamane.«

»Ja.«

Der Richter zögerte, suchte nach Worten. »Es heißt, wer Euch gegen Euren Willen berührt, dessen Kinder überleben ihren ersten Winter nicht.«

Die Frage war fern von allem, was Kidogo erwartet hatte. »Es gibt viele Gerüchte ...«

»Sind sie wahr?«

Irgendwo in den Weiten seines Bewusstseins rief eine Stimme, dass er Gewinn aus der Situation schlagen sollte – aber die aufrichtige Angst in den Augen des Richters war zu jammervoll. »Nein«, gestand Kidogo. »Wir sind der Heilung verpflichtet. Wir können niemanden verfluchen. Selbst wenn wir es wollten.«

»Könntet Ihr mir dennoch Euren Segen erteilen?« Der Richter rieb sich die Hände an der Schürze. »Nur zur Sicherheit ... bitte, Meister. Meine Frau geht schwanger, und die Münzen liegen besser als die letzten Male ...«

Verständnislos starrte Kidogo den verzweifelten Mann vor sich an. »Dann berührt mich eben nicht.«

Er hätte es nicht für möglich gehalten, doch sein Gegenüber blickte noch elender drein als zuvor. »Die Hand Atua-Kores befiehlt, Euch zu befragen, und wenn ich ihr nicht gehorche, wird sie mich in die Finsternis stoßen.«

»Ich kann Euch sagen, was Ihr hören wollt, ohne dass Ihr mich in Eure Geräte flechtet«, schlug Kidogo vor.

»Aber ...«, murmelte der Richter, »das ist nicht vorgesehen.«

In was für eine absonderliche Lage war er hier bloß gestolpert? »Ich werde niemandem verraten, dass Ihr von der Vorschrift abgewichen seid.«

Die Augenbraue des Richters zuckte, in seinen Gesichtszügen kämpften die Gefühle. Schließlich flüsterte er: »Stimmt es, was Asil gesagt hat? Dass ein dunkler Geist die Gefallene ergriffen hat?«

»Wer ist Asil?«

»Einer der Soldaten, der sie gefunden hat.«

»Hat Asil erzählt, dass die Erde aufbrach, und der Geist sein gekröntes Haupt erhob, um Mahuika zu schützen.«

Ein Schutzzeichen schlagend, nickte der Richter.

»Ihr habt Asil selbst befragt, nach den Regeln der Priesterinnen?«

Der Richter bestätigte es.

»Wo das Licht Atua-Kores hinfällt, hat keine Lüge Bestand. Heißt es nicht so?«

Nicken.

»Asil hat die Wahrheit gesprochen. Nur in einem Punkt hat er sich getäuscht: Dunkle Geister können Menschen beherrschen, über die Natur haben sie keine Macht. So lehren es Eure Priesterinnen.« Kidogo legte dem Verängstigten die Hand auf die Schulter. »Alateon ist kein Diener der Finsternis. Alateon ist ein Gott.«

Bevor der bleich gewordene Richter etwas entgegnen konnte, rauschte eine Gestalt ins Gewölbe, die ein so glänzend weißes Gewand trug, wie Kidogo es noch nie gesehen hatte. Hier unten wirkte es so fehl am Platz wie ein Fisch in der Wüste.

»Erhabene Sprecherin«, rief der Richter erschrocken, »ich danke Atua-Kore für Euren ...«

»Still, Unglücksvogel. Ist das der Wundenbrenner? Was macht er hier?«

»Ihre Gnaden Kaïkopura ...«

»Selbst Kaïkopura kann den Gefangenen der Königin nicht zu ihrem eigenen machen. Hast du ihn angefasst? Ich sage dir, wenn du ihm nur ein Haar gezupft hast, gnade dir die Göttin.«

»Nein, erhabene Sprecherin, ich ...«

»Scher dich fort«, fuhr die Weißgewandete ihm ins Wort, »und flehe zur Goldenen, dass sie Milde zeigt. Denn ich selbst empfinde gerade anders.«

Als der Richter sich davon gemacht hatte, atmete sie durch, richtete ihr Haar. Dann schritt sie langsam um Kidogo herum. »Du bist also ein Mandrêb ... ein Wunderheiler aus der alten Zeit.«

Es schien keine Frage zu sein, also wartete Kidogo stumm.

»Es heißt, niemand weiß so viel über den menschlichen Körper wie ihr Schamanen«, fuhr sie fort, »kennt so gut die Kräfte, die ihn stärken; oder die, die ihn schwächen.« Sie trat an eine Werkbank, nahm eine Zange in die Hand, begutachtete sie. »Die Priesterinnen sagen, all euer Wissen sei Quacksalberei. Wer aufrecht im Licht stehe, werde von Atua-Kore besser geschützt, als eure Tinkturen es je könnten.« Sie nahm in jede Hand einen Zangengriff, zog die Griffe auseinander und wieder zusammen. Es wirkte nicht so, als habe sie viel Erfahrung mit derlei Werkzeug. »Aber ich fürchte, im Volk gibt es viele, die von Atua-Kores Weisheit weniger beschenkt wurden. Viele, die sich schwer tun, überholte Sichtweisen aufzugeben. Die das alte Wissen, wenn nicht für überlegen, den Lehren der Priesterinnen zumindest für ebenbürtig halten.« Sie legte die Zange zurück an ihren Platz. »Wie bedauerlich, dass dem Volk mit Argumenten schwer beizukommen ist.«

»Ich muss gestehen«, bemerkte Kidogo vorsichtig, »dass Eure Sorge mich verblüfft. Wir sind wenige geworden. Wahrscheinlich bin ich der einzige Mandrêb in ganz Ranui. Wie sollte meine Anwesenheit Eure Göttin herausfordern?«

Die Frau untersuchte den Faltenschlag ihres Kleides. »Es ist ein einzelner Stein, der eine Lawine ins Rollen bringen kann.«

»Wir Mandrêbanim vertreten keinen Glauben. Und wir fordern den Glauben anderer nicht heraus. Unsere Lehren sind keine Gefahr für Euch.«

»Tatsächlich?« Die Frau hatte von ihrem Kleid abgelassen, richtete alle Aufmerksamkeit auf Kidogo. »Wärst du bereit, das zu beweisen?«

»Ich verspreche Euch, dass ich Atua-Kore nicht in Frage stellen werde.«

»Das Volk braucht Bilder. Folge mir.«

 

Mit wachsendem Staunen war Kidogo der Frau gefolgt. Erst ging es durch mehrere Gänge – trockener als der letzte –, dann eine steinerne Treppe hinauf in einen Weinkeller. Weitere Stufen führten in einen Raum, dessen eine Seite aus einer Reihe gemauerter Öfen bestand. Auf langen Tafeln häuften sich Berge an Gemüse, Säcke mit Reis standen herum. Über Kohleschalen baumelten gewaltige Töpfe, waren mit Ketten in Deckenhaken eingehängt. Es war die größte Küche, die Kidogo je gesehen hatte, mehrere Hütten hätten hier hineingepasst.

Ein gutes Dutzend Beschäftigter ließ von seinen Tätigkeiten ab, wich ehrfurchtsvoll vor der Weißgewandeten zurück. Diese beachtete sie nicht, führte Kidogo durch einen weiteren Flur und in einen Waschsaal mit zahlreichen großen Bottichen. »Zieh dich aus.«

Er zögerte, doch sie machte keine Anstalten, den Raum zu verlassen. Ein Knecht nahm ihm sein Gewand ab, unter dem strengen Blick der Frau stieg Kidogo in den nächsten Bottich. Der Knecht wusch ihn und schnitt ihm die Haare, während die Frau mit verschränkten Armen danebenstand und zusah. Kidogo wurde die Stille unangenehm. »Seid Ihr eine Satrapa?«

»Ich bin Sokai, die Sprecherin des Hohen Rates. Also ja, auch eine Satrapa.«

»Ihr habt Wein im Keller ...«, erinnerte er sich, sagte es mehr zu sich selbst.

»Wieso nicht?«

»Die ranaischen Soldaten müssen in hohen Ehren stehen, wenn sie mit Wein verköstigt werden.«

Die Satrapa legte die Stirn in Falten. »Wie kommst du darauf, dass der Wein für Soldaten sein soll?«

»Sind wir nicht in einer Garnison? Die Küche, der Waschsaal – Hunderte müssen hier versorgt werden können.«

Die Satrapa lachte so laut, dass der Knecht vor Schreck sein Schermesser fallen ließ. »Eine Garnison? Ich hoffe, du verstehst mehr von deiner Heilkunst als von Hauswirtschaft.« Sie drehte eine Handfläche nach oben. »Das hier ist mein Gesindehaus.«

Darauf fiel Kidogo nichts mehr ein.

»Der Wein gehört meiner Familie«, bemerkte die Satrapa beiläufig. »Der Keller im Haupthaus war zu klein geworden.«

Erwartete sie eine Antwort? »Wein ist gesund, wenn man ihn achtsam trinkt«, murmelte Kidogo und starrte auf das dampfende Wasser des Bottichs.

Der Knecht hatte seine Arbeit beendet, bat Kidogo aus dem Bad und reichte ihm eine Robe – und was für eine! Feinste Seide, in dem tiefen Blau reifer Maulbeeren, mit goldenen Streifen durchwirkt, golden gesäumt, von einem Gürtel zusammengehalten, der mit tausenden winzigen goldenen Perlen besetzt war. Bis auf die Sohlen waren auch die Schuhe aus blauer Seide. Abschließend legte der Knecht ihm eine goldene Schärpe um. Kidogo glaubte sich in einem Traum, der ihn in den Körper eines anderen geschickt hatte.

Die Satrapa zupfte die Schärpe zurecht, dann trat sie zwei Schritte zurück, musterte Kidogo von oben bis unten. »Besser«, sagte sie.

»Ihr habt mir immer noch nicht gesagt, was Ihr mit mir vorhabt.«

»Ich will dir eine Heimat bieten. Ranui soll wissen, dass der Hohe Rat die Mandrêbanim in Ehren hält.«

»Was ist mit Aki?«

»Die Gefallene? Ich befürchte, sie hat die Traditionen unserer Stadt zu nachdrücklich verletzt, als dass ihr leicht verziehen werden könnte. Du magst sie?«

Kidogo sah zu Boden. Dann nickte er.

»Hältst du sie für die Prophetin eines Gottes?«

Eine Falle – seine Nackenhaare sträubten sich, auf einmal juckte die Seide.

»Du musst nicht sofort antworten. Aber bald wird die Königin deine Meinung hören wollen. Und du bist ein kluger Bursche. Du weißt, dass Mahuika ihr unreifes Schauspiel aufgeben muss, wenn die Erwählte Atua-Kores Milde zeigen soll.«