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25.05.2024, 07:22 Uhr
Nikolai Vogel
Text & Debatte

„München-Träume“. Von Nikolai Vogel (6)

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Auer Dult auf dem Mariahilfplatz, etwa 1910

München verändert sich dauernd – eine Stadt ist lebendig. Und in einer Stadt bleibt sich aber dauernd auch vieles gleich. Manches verschwindet fast unmerklich, anderes ist schlagartig weg. Neue Realitäten entstehen – wir schauen ihnen beim Gebautwerden zu oder entdecken sie im Vorbeigehen ganz unerwartet. Wie also geht der Wandel vonstatten? Wie geht es weiter? Wie öffnet sich Zukunft? In der Fortsetzung seiner Kolumne „München-Träume“ träumt der Autor und Künstler Nikolai Vogel davon, wie die Stadt, in der er seit vielen Jahren lebt, ihn immer wieder verblüfft ...

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Auer-Dult-Kuriosum

 

Die Dult ist voll wie meistens. Gerade hat es aufgehört zu regnen. Die Pfützen glitzern zwischen den Beinen hindurch. Bis wann gab es eigentlich die Schellackplattenhändler, überlege ich. Wann sind die denn verschwunden? Neben alten Schlagern gab es dort hin und wieder eine rare Platte von Münchner Volkssängern. Sängerinnen! Bally PrellIsarmärchen und Die Schönheitskönigin von Schneizlreuth. Oder auch Liesl Karlstadt in einem ihrer Dialoge mit Karl Valentin. Hatte der eine der Schellackhändler nicht ein bisschen so ausgesehen wie Valentin? Aber da ist er ja! Und ich dachte, sein Stand wäre längst in die Vergangenheit gerutscht. Er sieht mich an, als sei ich eine Erscheinung. „Haben sie etwas von Bally Prell“, frage ich ihn spontan. „Prell“, fragt er mich. „Meinen Sie Ludwig Prell? Ich kenne ihn natürlich! Und auch den Ferdl, Coco, der war ja mit zehn schon auf der Bühne.“ – „Nein, Bally“, beharre ich. „Na hören Sie mal, Sie Spaßmacher, ich kenne ihn persönlich, meinen Sie vielleicht seine Tochter, die kleine Agnes Pauline! Aber sie ist doch gerade mal drei, wenn überhaupt! Wie nennen Sie sie? Bally? Na so was!“

Er wendet sich anderer Kundschaft zu, und mir ist, als zeige er mir den Vogel. Merkwürdig, denke ich, die sind alle anders als ich. Machen große Augen. Die Nadel kratzt die Platte entlang. Achtundsiebzig Umdrehungen. Altmodisch schien er ja schon immer, dieser Händler, aber heute? Einen Frack hat er an, einen Zylinder auf. Ein Herr mit gestreifter Hose steht bei ihm und lauscht konzentriert, schaut abwechselnd in den Himmel und zu Boden. Die Arie schmettert los. Und was hat er da an den Schuhen? Gamaschen, das müssen Gamaschen sein, fährt es mir durch den Kopf. „Wunderbar“, sagt er. „Ja, das ist das neue Modell“, sagt der Händler. „Ein besseres Grammophon gibt es nicht. Höchstens vielleicht“ – er hält einen Moment inne, wie um zu überlegen, aber ich weiß instinktiv, er will nur die Spannung steigern – „nun, in der Zukunft!“ Beide lachen, während die Nagelnadel in die Endrille fährt.

Alle sind auf einmal so angezogen. Wie verkleidet – oder bin ich der in Verkleidung? Und nirgends ein Rucksack, nirgends auch nur eine Plastiktüte. Ein Filmdreh, denke ich, aber nirgends eine Kamera. „Gehen Sie nachher noch ins Odeon“, höre ich eine elegante Dame fragen. „Aber natürlich! Der Abend im Platzl war so vorzüglich, dass ich das nicht um alles in der Welt verpassen möchte“, antwortet ihre einen Kopf kleinere Begleitung und blickt mich – einen kurzen Augenblick nur – erstaunt an, als wüsste sie nicht, bin ich ein Schausteller, oder aus unbekannter Fremde. Sie drehen ihre kleinen Zierschirme in der Luft, so dass mir fast schwindlig wird.

„Das Apollo hat ja wohl seine große Zeit hinter sich“, sagt die Erste. „Ja, ja, der Kare ist alt geworden, und der Lucki auch“, entgegnet die Kleinere und lacht kurz auf, dann höre ich sie nicht mehr durchs Gewühl. Alles sieht so anders aus – und all die alten Sachen …! Ich laufe an der Mariahilfkirche vorbei auf die andere Seite, aber auch der Jahrmarkt ist kaum wiederzuerkennen. Wo ist denn der Autoscooter?

Da hinten – das kleine Riesenrad mit den Gondeln, das kenne ich, stelle ich erleichtert fest. Es glänzt in der Sonne. „Sind Sie schon gefahren“ fragt ein Herr mich, noch bevor er mich kritisch beäugt. „Aber ja“, sage ich, und fühle mich leicht unwohl, als gehöre ich nicht hierher, „schon vor vielen Jahren.“ – „Aber nicht doch“, entgegnet er, „ich weiß sehr wohl, dass dieses im Kreise herumgehende Monstrum die neueste Attraktion der Dult ist – und ich weiß noch nicht, ob ich einsteigen werde. Und Sie – Sie trauen sich doch auch nicht!“ Da will ich ihm das Gegenteil beweisen und will ein Ticket lösen. Der Kassierer schaut mich misstrauisch an, blickt auf den Schein in meiner Hand. „Und was soll das für Geld sein, der Herr“, fragt er mich, und ich zucke mit den Schultern – und wache auf ...

 

 

Nikolai Vogel (* 1971 in München) lebt in München als Schriftsteller und bildender Künstler. Er studierte Germanistik, Philosophie und Informatik an der LMU und war Finalist beim Open Mike 2004 sowie beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2005. Darüber hinaus war er Stipendiat der Autorenwerkstatt im Literarischen Colloquium Berlin (2005), Preisträger beim Bayerischen Kunstförderpreis (2007), Projektstipendiat für Bildende Kunst der Stadt München (2008) und Gewinner im Wettbewerb „Letʼs perform Kunst im öffentlichen Raum“ des Kulturreferats München (2012). Sein 2520 Verse umfassender Gedichtband fragmente zu einem langgedicht erschien 2019 im gutleut Verlag. 2020 las er in quarantäneähnlicher Zeit 40 Tage lang seinen noch unpublizierten Roman Angst, Saurier ein und veröffentlichte die Lesungsvideos täglich auf YouTube. 2021 erschien sein Gedichtband Anthropoem, 2023 dann Eine Sprache, die sagt, dass sie außer mir ist (beide Black Ink). Ein Detail aus seinem Text Große ungeordnete Aufzählung wurde 2022 als Edition auf zehn Porzellangefäßen innerhalb von Uli Aigners One Million-Projekt erstveröffentlicht.